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Der molekulare Riecher
Von Wiley-VCH zur Verfügung gestellt
Seit den 1990er Jahren sind die Rezeptoren des Geruchssinns bekannt – erst jetzt erschließen Strukturuntersuchungen ihre Erkennungsmechanismen. Gerüche vorherzusagen und neue Geruchsstoffe zu entwerfen, ist noch schwierig; dabei soll nun künstliche Intelligenz helfen.
Vor 20 Jahren erhielten Linda Buck und Richard Axel den Medizin-Nobelpreis. Wie sie entdeckt hatten, sind die molekularen Rezeptoren unseres Geruchssinns G-Protein-gekoppelte Membranproteine – ebenso wie etwa das sehr viel früher erforschte Rhodopsin für die Lichtwahrnehmung im Auge. Die Mechanismen, wie diese Rezeptoren ein G-Protein aktivieren und letztlich ein Nervensignal erzeugen, stehen in einschlägigen Lehrbüchern. Es klingt also wahrscheinlich, dass die wesentliche Frage gelöst ist und nur noch die Einzelheiten zu klären sind.
Beim Geruchssinn erwiesen sich diese Details allerdings als knifflig. Im menschlichen Genom sind rund 400 Geruchsrezeptoren codiert. Das ist zwar etwa die Hälfte unserer Gesamtausstattung an G-Protein-gekoppelten Rezeptoren, aber eher wenig verglichen mit anderen Säugetieren, die sich stärker auf ihren Geruchssinn verlassen als wir – Mäuse haben über 1000 Gene für Geruchsrezeptoren.
Zwar exprimiert jede einzelne Riechzelle in unserer Nase nur einen dieser 400 Rezeptoren. Wie diese sich gegenüber den Stoffen verhalten, die wir riechen können, ist weniger eindeutig: Ein Geruchsstoff kann mehrere Rezeptoren auf verschiedene Weisen ansprechen, und ein Rezeptor kann unterschiedliche Geruchsstoffe auf verschiedene Weisen erkennen.
Das kennen wir zum Beispiel vom besser untersuchten Rezeptor für süßen Geschmack – viele Moleküle, deren Strukturen nicht viel gemeinsam haben, schmecken süß. Manche wirken mehrere Größenordnungen stärker auf den Rezeptor als Zucker – beispielsweise das Protein Monellin oder die Süßstoffe Aspartam und Saccharin (3000-, 200- beziehungsweise 450-mal stärker als Zucker).
Es gibt also keinen einfachen Zusammenhang in dem Sinne, dass jeder Geruchs-Schlüssel ein passendes Rezeptor-Schloss öffnet. Um die komplexere Wirklichkeit des molekularen Erkennens zu erfassen, braucht die Wissenschaft Strukturen von Rezeptoren mit und ohne die zugehörigen Geruchsstoffe – am besten viele Strukturen vieler solcher Kombinationen.
Neue Strukturen
Leider erwiesen sich die 400 Geruchssensoren des Menschen und die zahlreicheren der Maus als schwer zugänglich für die Strukturforschung. Sie lassen sich nur schlecht außerhalb der Geruchszellen exprimieren und schon gar nicht kristallisieren. Immerhin sagt das KI-Programm Alphafold Strukturen für die ligandenfreien Rezeptoren vorher.1) Anhand dieser Strukturen könnte man versuchen zu raten, wo der Geruchsstoff vielleicht bindet, und die Wechselwirkung zu modellieren. Aber letztlich führt kein Weg daran vorbei, die Struktur des Gesamtkomplexes experimentell zu bestimmen.
Im März 2023 ermittelten die Arbeitsgruppen von Hiroaki Matsunami und Aashish Manglik erstmals die Struktur eines Geruchsrezeptors aus Wirbeltieren.2) Die Arbeitsgruppen an der Duke University in Durham, North Carolina beziehungsweise an der University of California in San Francisco nutzten dazu Kryo-Elektronenmikroskopie. Es handelt sich um den menschlichen Rezeptor OR51E2, der vermutlich auf die Erkennung kurzkettiger Carbonsäuren spezialisiert ist, mit dem gebundenen Geruchsstoff Propionsäure. Die findet sich etwa im Aroma gerösteten Kaffees und in menschlichem Mundgeruch.
OR51E2 bindet Propionsäure
Den Strukturbildern zufolge gibt es sowohl eine hydrophile Verankerung der Carbonsäuregruppe als auch eine hydrophobe Bindungstasche für den Kohlenwasserstoffanteil des Moleküls. Die Größe dieser Bindungstasche entscheidet vermutlich, welche Carbonsäuren der Rezeptor erkennen kann.
Dieser Bindungsmechanismus unterscheidet sich fundamental von dem eines zuvor untersuchten Ionenkanals bei Fruchtfliegen, den Geruchsstoffe aktivieren: Hier beruht die molekulare Erkennung auf hydrophoben Wechselwirkungen, die über einen weiten Bereich verteilt sind.3)
Während die meisten Geruchsrezeptoren der Wirbeltiere sich rasch verändern und evolvieren, ist die Gensequenz von OR51E2 bemerkenswert einheitlich geblieben. Der Rezeptor muss also außer für das Riechen auch für lebensnotwendige Prozesse zuständig sein, vermuten die Autor:innen. Dieser Rezeptor wird auch im Darm und in der Prostata hergestellt, was bedeutet: Er hat unter verschiedenen Bedingungen eine recht robuste Struktur, die sich ohne große Probleme faltet. Das könnte erklären, weshalb er in Laborkulturen leichter zugänglich ist. Inwieweit sich also die Erkenntnisse dieses Sonderfalls auf die übrigen, rasch evolvierenden Geruchsrezeptoren verallgemeinern lassen, bleibt zu erforschen.
Eine weitere Klasse von Rezeptoren
Weitere Einblicke erbrachte bald nach dieser Studie eine zweite, sehr viel kleinere Familie von Geruchsrezeptoren, die nicht als ORs (Olfactory Receptors) klassifiziert werden, sondern als TAARs (Trace Amine Associated Receptors). Diese sind den Rezeptoren für Botenstoffe wie Serotonin und Dopamin genetisch verwandt, weshalb sich ihre Strukturen und Funktionsweisen ähneln. Auch TAARs werden in Riechzellen hergestellt, wie Stephen Liberles und Linda Buck im Jahr 2006 zeigten. Die Maus hat fünfzehn solcher Rezeptoren, der Mensch nur sechs. Mäuse erschnüffeln damit Amine, die bei der Decarboxylierung von Aminosäuren entstehen, typischerweise im Urin der Artgenoss:innen vorkommen und Aufschluss über das Geschlecht und die sexuelle Reife der Tiere geben können.
Im Mai 2023 veröffentlichten Lulu Guo von der Shandong Universität in Jinan, China, und Kolleg:innen – darunter TAAR-Mitentdecker Liberles – die Kryo-Elektronenmikroskopie-Strukturen mehrerer Funktionskomplexe, welche aus dem Rezeptor TAAR-9 der Maus mit gebundenen G-Proteinen und Geruchsstoffen bestehen.4) Die Strukturbilder zeigen eine tiefe und enge Bindungstasche für den Geruchsstoff sowie weitere Einzelheiten der molekularen Wechselwirkungen, also etwa spezifische Bindungen und Erkennungsmechanismen, durch die ein Signal weitergegeben wird.
Bald danach folgten zwei Strukturen von menschlichen TAAR15,6) sowie die Struktur des Maus-Rezeptors TAAR7f.7) Die TAAR7f-Arbeit vergleicht ausführlich die vier bis dahin bekannten TAAR-Strukturen.
Neue Nasen
Die Geruchswahrnehmung wird auch deswegen eingehender erforscht, weil Aussicht auf neue technische Sensoren besteht – und zwar besonders für jene Anwendungen, für die bis heute Spürhunde nötig sind. Bisher können „elektronische Nasen” nicht einmal mit dem menschlichen Riechorgan konkurrieren, geschweige denn mit den feineren Nasen anderer Säugetiere.
Es wird noch dauern, bis wir die Geruchsrezeptoren gut genug verstehen, um gezielt neue zu entwickeln, etwa für eine spezifische Stoffdetektion. Überraschenderweise gelang es aber nun umgekehrt, neuartige Rezeptoren herzustellen, die dabei helfen, den natürlichen Riecher zu erforschen.
Nachdem sie die Struktur des Rezeptors OR51E2 gelöst hatten, schlugen Mangliks und Matsunamis Arbeitsgruppen einen neuen Weg ein. Sie stellten neue, vereinfachte Rezeptoren her, indem sie die Gensequenzen nahe verwandter Rezeptoren verglichen und für jede Position die jeweils häufigste Version wählten. Diese Konstrukte nennen sie Konsensrezeptoren.
Diese sind zwar neu, aber auch sehr alt in dem Sinne, dass sie vermutlich den gemeinsamen Vorfahren der heutigen diversifizierten Rezeptoren nahekommen. Die Idee dahinter: Als Landwirbeltiere im Laufe der Evolution auf einmal Luft zum Schnuppern hatten, erhöhte sich die Vielfalt der Rezeptoren. Die Rezeptoren der heutigen Klasse I, die für wasserlösliche Substanzen zuständig ist, blieben erhalten; die heutige Klasse II kam hinzu und expandierte dramatisch. Und diese Veränderungen gingen oft zulasten der Stabilität. Das zeigt sich beispielsweise daran, dass sich gleichzeitig molekulare Faltungshelfer (Chaperone) entwickelten, um den Rezeptorproteinen mit nicht optimaler Struktur beizustehen.
Konsensrezeptoren
Den Forschenden zufolge könnten die Konsensversionen daher stabiler und leichter zu untersuchen sein als die heutigen Rezeptoren. Tatsächlich erhielten sie kryo-elektronenmikroskopisch Strukturen vier solcher Konsensrezeptoren. Eines dieser Konstrukte leitet sich von OR51E2 und dessen Verwandtschaft ab, sodass die Forschenden dieses direkt mit der bekannten Struktur verglichen: Wie erwartet stimmen die Strukturen überein. Andere Konstrukte erlauben erstmals Einblicke in die Strukturen der Klasse-II-Rezeptoren, zu denen 80 Prozent der menschlichen Geruchsrezeptoren gehören.
Eine flächendeckende Anwendung dieses Vorgehens könnte den Durchbruch bringen, hoffen die Autor:innen. Denn mit etlichen Konsensstrukturen ließe sich Alphafold so gut trainieren, dass es tatsächlich lernt, die derzeitigen Geruchsrezeptoren und deren Erkennungsmechanismen zuverlässig zu modellieren.
Auch andere Arbeitsgruppen setzen auf künstliche Intelligenz, wie die Fachzeitschrift Nature Ende des Jahres 2024 berichtete. Sie hoffen, dass KI den „Code” der Geruchswahrnehmung – also die Zuordnung von Billionen Gerüchen zu molekularen und physiologischen Erkennungsmechanismen – eines Tages knacken kann.9)
Der Autor
Der promovierte Chemiker Michael Groß arbeitet als freier Wissenschaftsjournalist in Oxford, England. michaelgross.co.uk
AUF EINEN BLICK
Riechen ist komplex: Nicht für jeden Geruch gibt es genau einen Rezeptor.
Um zu verstehen, wie die molekulare Erkennung eines Geruchsstoffs funktioniert, sind Strukturen von Rezeptoren mit und ohne Substrat nötig.
Neben Experimenten hilft nun künstliche Intelligenz, Zusammenhänge aufzudecken. So sollen langfristig elektronische Nasen möglich werden.
- 1 M. Akdel, D. E. V. Pires, E. Porta Pardo et al., Nature Struct. Mol. Biol. 2022, 29, 1056–1067
- 2 C.B. Billesbølle, C. A. de March, W. J. C. van der Velden et al., Nature 2023, 615, 742–749
- 3 J. del Mármol, M. A. Yedlin, V. Ruta, Nature 2021, 597, 126–131
- 4 L. Guo, J. Cheng, S. Lian et al., Nature 2023, 618, 193–200
- 5 P. Shang, N. Ring, J.-J. Jiang et al., Cell 2023, 186, 5347–5362.e24
- 6 G.Zilberg, A. K. Parpounas, A. L. Warren et al., Nat. Commun. 2024, 15, 108
- 7 A. Gusach, Y. Lee, A. N. Khoshgrudi et al., Nat. Commun. 2024, 15, 7555
- 8 C. A. de March, N. Ma, C.B. Billesbølle et al., Nature 2024, doi: 10.1038/s41586–024–08126–0
- 9 K. Smith, Nature 2024, 633, 26–29
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