Blickpunkt Biowissenschaften

Wissenschaft + Forschung

DNA-Funde aus Höhlen und Isotopenanalysen in Tropfsteinen berichten von einer Zeit, als die Sahara keine Wüste war.Wir kennen den Streifen von <link href="#nadc20254151808-fig-0001">Marokko bis Ägypten als erbarmungslose Sandwüste, in der nur wenige Oasen das Überleben ermöglichen. Doch in der Jungsteinzeit war dort eine Savanne, in der Menschen lebten und Tiere hielten. Genomanalysen haben jetzt erste Einblicke in diese Epoche der grünen Sahara ergeben.<figure xml:id="nadc20254151808-fig-0001"><figure><img alt="image" src="https://eu-central-1.graphassets.com/Aype6X9u2QGewIgZKbFflz/cmcilto5txnby07upq11zqozc"><figcaption><label>Abb.1: </label>So ähnlich könnte es in der Sahara mal ausgesehen haben. Bild: apinz / Adobe Stock</figcaption></figure></figure>Ein wichtiges Fenster in die Vergangenheit der Sahara bietet die Takarkori-Höhle in der Nähe der Oasenstadt Ghat im Südwesten Libyens. Wie Sedimentschichten auf dem Boden der Höhle belegen, lebten dort vor etwa 10 170 bis 4650 Jahren Menschen. Die Höhle enthält etliche Reste von Körben und Textilien sowie Tonscherben, an denen Überbleibsel zubereiteter Pflanzen haften.<h2 type="main">Genomanalysen</h2>Tief im Inneren der Höhle befindet sich ein Gräberfeld, wo mindestens 15 Frauen und Kinder bestattet wurden. Aus den mumifizierten Leichen zweier Frauen, die vor etwa 7000 Jahren beigesetzt wurden, ließ sich DNA isolieren. Die Proben sind zu stark verunreinigt, um das gesamte Genom zu sequenzieren. Aber die Arbeitsgruppe von Johannes Krause am Max-Planck-Institut für Evolutionäre Anthropologie (EVA) in Leipzig hat eine genomweite Analyse vorgenommen und damit die Herkunft dieser Höhlen-Bewohnerinnen geklärt:1) Dazu untersuchten sie die SNPs (single nucleotide polymorphisms), also die Buchstaben im Genom, durch die sich Individuen einer Bevölkerung unterscheiden. Da die extremen Temperaturwechsel in der Sahara für die Erhaltung von DNA sehr ungünstig sind, handelt es sich hier um die ersten genomweiten Daten alter DNA aus der Sahara überhaupt. Die Frauen lebten in der Epoche der pastoralen Viehwirtschaft in dieser Gegend (vor 8300 – 4200 Jahren), also vermutlich als Teil einer Hirtengruppe.Den Ergebnissen zufolge hatte diese Bevölkerung kaum Kontakte mit den jungsteinzeitlichen, auch Ackerbau betreibenden Gruppen, die sich zu jener Zeit aus dem Nahen Osten nach Europa ausbreiteten. Die Takarkori-Frauen-DNA zeigt eine Abstammungslinie, die sich von den Afrikaner:innen südlich der Sahara etwa zu derselben Zeit abspaltete, als auch die Vorfahren aller heutigen Nicht-Afrikaner:innen ihre Out-of-Africa-Migration begannen – also vor mindestens 50 000 Jahren.Dass sie seitdem nur geringstfügigen genetischen Kontakt mit der nach Eurasien expandierenden Bevölkerung hatten, erkannten die Leipziger Forscher:innen an dem Gehalt der Neandertaler-SNPs. Wie frühere Arbeiten von Krause, Svante Pääbo und anderen gezeigt hatten, vermischten sich die zukünftigen Eurasier bei der Auswanderung aus Afrika mit den bereits früher ausgewanderten Neandertalern. Deshalb tragen heute alle Menschen, die keine neuzeitlichen afrikanischen Vorfahren haben, etwa 2 Prozent Neandertaler-SNPs im Genom.2)<h2 type="main">Verwandtschaftsverhältnisse</h2>Bei den Takarkori-Frauen betrug der Neandertaler-Anteil nur 0,15 Prozent, also über zehnmal weniger als etwa bei jungsteinzeitlichen Menschen aus dem Nahen Osten, allerdings noch etwas mehr als bei den afrikanischen Völkern südlich der Sahara. Dieser winzige Beitrag an Neandertaler-DNA stammt aus einer Vermischung, die so weit in der Vergangenheit liegt, dass die Forschenden sie nicht genauer identifizieren konnten.Die nächsten Verwandten dieser Frauen unter bekannten DNA-Funden stammen von Jägern und Sammlern aus der Taforalt-Höhle in Marokko. Deren Genome, im Licht der neuen Daten aus Libyen betrachtet, sind eine Mischung aus 40 Prozent Takarkori-DNA und 60 Prozent DNA aus dem Nahen Osten.Aus der genetischen Isolation der Takarkori-Frauen schließen die Forscher:innen: Die Lebensweise des Pastoralismus muss durch kulturelle Weitergabe in die Sahara gelangt sein und nicht durch Migration. Trotz des milderen Klimas scheint die Gegend eine geografische Barriere zwischen dem Mittelmeerraum und dem mittleren Afrika gebildet zu haben.<h2 type="main">Fische in der Sahara</h2>In früheren Studien der Takarkori-Höhle hatten Wim van Neer vom Königlich-Belgischen Institut für Naturwissenschaften in Brüssel und Savino di Lernia von der Sapienza-Universität in Rom bereits einen Einblick gegeben, welche Tiere in der Höhle auf dem Speiseplan standen. Von mehr als 17 500 Überresten von Tieren wurden knapp 80 Prozent Fischen zugeordnet, 19 Prozent Säugetieren, 1,1 Prozent Vögeln und 0,2 Prozent Reptilien.3)Die zeitliche Einordnung der Bodenschichten ermöglichte es den Autor:innen, langfristige Veränderungen zu entdecken. So nahm der Anteil der Fische gegen Ende der grünen Epoche der Sahara ab, da der Landstrich langsam austrocknete. Unter den Fischen hielten sich die Kiemensackwelse (Familie Clariidae) länger, die Luft atmen sowie in warmen und sauerstoffarmen Gewässern besser überleben können. Auch die Größe der Fische scheint die graduelle Austrocknung zu reflektieren.Überreste von Säugetieren hingegen gibt es im Lauf der Zeit immer mehr, insbesondere auch die von domestizierten Schafen, Ziegen und Rindern, die erstmals vor 8300 bis 7600 Jahren auftauchen.<h2 type="main">Klimaarchive im Tropfstein</h2>Außer den Fischgräten künden auch Tropfsteine in Höhlen von der feuchten Vergangenheit der heutigen Sandwüsten. Die grüne Sahara dehnte sich im Osten auf die Arabische Halbinsel aus. Dort untersuchten Monika Markowska vom Max-Planck-Institut für Chemie in Mainz und Kolleg:innen Stalagmiten und Stalaktiten aus sieben Höhlen in Saudi-Arabien als Klimaarchive. Dabei fanden sie mehrere grüne Phasen, die sich über die letzten acht Millionen Jahre verteilten.4) Einige dieser Phasen haben vermutlich auch die Ausbreitung der Neandertaler und später moderner Menschen sowie auch diverser Tierarten nach Eurasien ermöglicht. Eine Feuchtzeit war zum Beispiel vor etwa zwei Millionen Jahren, was zu den frühesten Hominiden-Funden in Asien passt – sie erklären, wie sich frühere Hominiden-Populationen aus dem tropischen Afrika bis nach Asien ausbreiten konnten.Die Forscher:innen bestimmten radiometrisch den Uranzerfall, um die Schichten der Kalkablagerungen zu datieren, und analysierten Isotope von Wasser- und Sauerstoff in eingeschlossenen Wassertröpfchen, um die geografische Herkunft des Regens festzustellen. Wie die Isotopenanalyse zeigte, war der Regen meist ein Monsunregen aus südlicheren Gebieten.Der langfristige Trend über die letzten acht Millionen Jahre: Die Arabische Halbinsel wurde immer trockener, sodass die begrenzten feuchten Episoden immer wichtiger wurden, damit sich Menschen und Tiere zwischen Afrika und Asien ausbreiten konnten.Ähnliche Untersuchungen an Stalagmiten in Höhlen im Süden Marokkos haben weitere Einzelheiten über die jüngste grüne Periode der Sahara geliefert. Hamish Couper von der Universität Oxford und Kolleg:innen untersuchten Sauerstoffisotope aus dem Calciumcarbonat der Stalagmiten, um zu ermitteln, wo das Regenwasser herkam, das diese Tropfsteine wachsen ließ.5) Normalerweise wird die grüne Sahara einer Nordwanderung der Monsunzone zugeschrieben, doch der Isotopenanalyse der Tropfsteine zufolge gab es auch noch dann ungewöhnlich viel Regen, nachdem sich der Monsunregen am Südhang des Atlasgebirges zurückgezogen hatte. Diesen Regen schreiben die Forscher:innen einem anderen Effekt zu: den atmosphärischen Flüssen, also relativ schmalen Luftströmungen mit hohem Wasserdampfgehalt. Der aus dem Atlasgebirge ablaufende Regen hat offenbar die Sahara noch länger in ihrem grünen Zustand bewahrt, als sich durch die Monsunverschiebung allein erklären ließe.Das Kommen und Gehen der großen Wüsten auf unserem Planeten ist ein wichtiger Faktor in der Frühgeschichte der Menschheit. Ein tieferes Verständnis dieser Veränderungen hilft uns zudem, die nahe Zukunft besser zu verstehen, da auch die heutige Klimakatastrophe zur Austrocknung großer Gebiete führen kann. Derzeit ist zum Beispiel das Kaspische Meer akut von der weitgehenden Austrocknung bedroht, wie Rebecca Court von der Universität Leeds (Großbritannien) und Kolleg:innen warnen,6) und die umliegende Region könnte sich zu einer neuen Wüste entwickeln.<h2 type="main">Der Autor</h2>Der promovierte Chemiker Michael Groß arbeitet als freier Wissenschaftsjournalist in Oxford, England. <a href="https://michaelgross.co.uk" target="_blank">michaelgross.co.uk</a><ul class="references" cited="no" style="numbered" xml:id="nadc20254151808-bibl-0001"><li xml:id="nadc20254151808-bib-0001">1 N. Salem, M. S. van de Loosdrecht, A. P. Sumer et al., Nature 2025, 641, 144–150</li><li xml:id="nadc20254151808-bib-0002">2 M. Groß, Nachr. Chem. 2022, 70(12), 68–70</li><li xml:id="nadc20254151808-bib-0003">3 W. Van Neer, F. Alhaique, W. Wouters et al., Plos ONE 2020, 15, e0228588</li><li xml:id="nadc20254151808-bib-0004">4 M. Markowska, H. B. Vonhof, H. S. Groucutt et al., Nature 2025, 640, 954–961</li><li xml:id="nadc20254151808-bib-0005">5 H. O. Couper, C. C. Day, J. J. Barrott et al., Earth Planet. Sci. 2025, 652, 119195</li><li xml:id="nadc20254151808-bib-0006">6 R. Court, M. Lattuada, N. Shumeyko et al., Nat. Commun. Earth Environ. 2025, 6, 261</li></ul>

Artikel

Die grüne Sahara

Schlaglicht Chancengleichheit

Geschlechter-Unterschiede sind in der Medizin relevant, etwa im Immunsystem, bei Herzinfarkten und bei der Wirkung von Medikamenten. Und sie sind zu lange vernachl&auml;ssigt worden. Es bleibt noch einiges zu verbessern, bis jede:r die richtige Behandlung bekommt.
Aristoteles behauptete, Frauen h&auml;tten nur 30 Z&auml;hne, also zwei weniger als M&auml;nner &ndash; und die europ&auml;ische Wissenschaft hat ihm 2000 Jahre lang geglaubt. Erst im 17. Jahrhundert sah mal jemand nach und etablierte die Gleichberechtigung der M&uuml;nder. Die Bibel versucht uns zu verkaufen, dass Eva als Sekund&auml;rprodukt aus einer Rippe Adams entstand. Ganz in diesem Sinne haben Anatomie-Lehrb&uuml;cher jahrhundertelang den Mann als Normalzustand des Menschen dargestellt, von dem die Frau an einigen wenigen Stellen abweicht.
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<figure><img alt="image" src="https://eu-central-1.graphassets.com/Aype6X9u2QGewIgZKbFflz/cma24c6rt4kxc08uly9kccbs0">
<figcaption><label>Abb.1: </label>Bild: Evgenia / Adobe Stock</figcaption>
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Die traditionelle Vorgehensweise, frauenspezifische Probleme als Abweichungen von der Norm oder gar Ged&ouml;ns abzutun, ist heute als gef&auml;hrlicher Irrtum erkannt. Sie wird bisweilen als &bdquo;Bikini-Medizin&rdquo; beschrieben, da sie oft davon ausging, dass Frauenk&ouml;rper sich nur dort vom m&auml;nnlichen Standard unterscheiden, wo ein Bikini sie bedeckt.
Im Prinzip wissen wir seit Jahrzehnten, dass das zweite X-Chromosom auch au&szlig;erhalb der Bikinizone Auswirkungen hat, und das auch bei Personen, die ph&auml;notypisch M&auml;nner sind, etwa weil sie den Chromosomensatz XXY tragen. Ebenso wirken sich die Geschlechtshormone in vielen Bereichen der menschlichen Gesundheit aus &ndash; unabh&auml;ngig von der Bademode.
Erst in den letzten zwei Jahrzehnten hat die Medizin begonnen, sich um geschlechtsspezifische Unterschiede zu k&uuml;mmern, etwa bei Autoimmunkrankheiten, Herz-Kreislauf-Problemen und der Wirkung von Medikamenten.
<h2 type="main">Ein anderes Immunsystem</h2>
Das Immunsystem unterscheidet sich deutlich bei M&auml;nnern und Frauen. Das zeigt sich an verschiedenen Krankheitsverl&auml;ufen. So war etwa das Risiko eines Covid-19-Verlaufs, bei dem eine Intensivbehandlung notwendig wird, f&uuml;r M&auml;nner dreimal so hoch wie f&uuml;r Frauen. Auch das Klischee &bdquo;M&auml;nnergrippe&ldquo; hat einen wahren Kern: Infektionskrankheiten wirken sich bei M&auml;nnern schlimmer aus.
Die Kehrseite der Medaille: Das aktivere Immunsystem der Frauen sch&uuml;tzt sie zwar besser vor Infektionskrankheiten, schie&szlig;t aber auch leichter &uuml;bers Ziel hinaus und l&ouml;st Autoimmunkrankheiten aus. In der Evolution wurde dieser Nachteil aufgehoben durch den Vorteil, den M&uuml;tter ihren Kindern in der Schwangerschaft und in der Stillphase mitgeben. Ihre reichlich vorhandenen Antik&ouml;rper erreichen &uuml;ber Nabelschnur und Muttermilch den Nachwuchs und verbessern dessen &Uuml;berlebenschancen.
Heute wird die S&auml;uglingssterblichkeit durch medizinische Hilfe gering gehalten: Lag sie in den Jahren 1886 und 1910 in Mecklenburg noch zwischen 16,2 und 17,1 Prozent, betrug sie im Jahr 2021 in Deutschland 3,0 Promille. Und der &Uuml;bereifer des weiblichen Immunsystems zeigt sich vor allem daran, dass Frauen drei- bis viermal h&auml;ufiger Autoimmunkrankheiten haben. Und diese werden oft vernachl&auml;ssigt &ndash; sie kommen ja bei M&auml;nnern kaum vor.
<h2 type="main">Autoimmunkrankheiten</h2>
Ein Beispiel ist die Sklerodermie. Sie beginnt als Bindegewebsver&auml;nderung der Haut, verbreitet sich aber in einem Drittel der F&auml;lle auch als systemische Krankheit auf die inneren Organe (in Deutschland etwa 25 000 F&auml;lle, Stand 2023). Ursachen und Mechanismen der Erkrankung sind noch unzureichend verstanden. Erst vor kurzem haben die Arbeitsgruppen von Franck Barrat an der Cornell University in New York und Jean-Charles Gu&eacute;ry an der Universit&eacute; de Toulouse einen Fortschritt gemacht. Wie sie herausgefunden haben, sind die zwei Rezeptoren TLR7 und TLR8 an der Aktivierung plasmacytoider dendritischer Zellen (plasmacytoid dendritic cells pDCs) beteiligt &ndash; damit treiben sie die chronische Fibrose voran.1)
Die Gene dieser beiden Rezeptoren liegen auf den X-Chromosomen. Der im Jahr 1961 entdeckte Vorgang der X-Inaktivierung in Zellen mit zwei X-Chromosomen sollte normalerweise eines der beiden Chromosomen stilllegen, sodass es nicht zur Proteinbiosynthese beitr&auml;gt. (Damit sollte theoretisch die Dosierung der X-spezifischen Gene bei Menschen mit XX und solchen mit XY gleich sein.) Wie Barrats Gruppe fand, umgehen die Rezeptor-Gene im zweiten X-Chromosom bei Sklerodermie-Patientinnen zu mehr als einem Drittel die X-Inaktivierung. In gesunden Zellen liegt die Rate bei 10 bis 15 Prozent. Dieser Effekt erh&ouml;ht offenbar das Krankheitsrisiko bei Menschen mit zwei X-Chromosomen.
<h2 type="main">Besser altern mit XX</h2>
Das zweite X-Chromosom hat allerdings auch gute Seiten. Wie in den letzten Jahren immer deutlicher wurde, zieht die Inaktivierung des &uuml;berz&auml;hligen Chromosoms dieses keineswegs zu 100 Prozent und f&uuml;r alle Zeiten aus dem Verkehr. Wom&ouml;glich tr&auml;gt die Expression bestimmter Gene des inaktivierten Chromosoms zu der geistigen Gesundheit &auml;lterer Frauen bei &ndash; das haben zumindest Margaret Gadek von der University of California, San Francisco, und Kolleg:innen ermittelt.2)
Die Forscher:innen untersuchten zun&auml;chst die Gen-Expression auf dem X-Chromosom &auml;lterer weiblicher M&auml;use, wobei &bdquo;&auml;lter&ldquo; zirka 20 Monate bedeutet &ndash; das entspricht etwa 65 Jahre alten Menschen. Zu diesem Zweck hatten sie die Chromosomen so manipuliert, dass sich unterscheiden lie&szlig;, ob eine mRNA vom aktiven oder vom inaktivierten X-Chromosom kam. Diese Untersuchung f&uuml;hrten sie spezifisch f&uuml;r bestimmte Zelltypen des Gehirns aus und fanden heraus: 22 Gene, die, wenn sie abgelesen werden, das alternde Gehirn sch&uuml;tzen, werden bei &auml;lteren Mausdamen von der X-Inaktivierung befreit.
Dies gilt zum Beispiel f&uuml;r das Protein Plp1, das bekannterma&szlig;en das alternde Gehirn sch&uuml;tzt. Es unterst&uuml;tzt die Bildung der Myelinschicht, die Nervenbahnen isoliert und damit ihre elektrische Leitf&auml;higkeit gew&auml;hrleistet. Wie drei verschiedene Verhaltensexperimente mit &auml;lteren m&auml;nnlichen und weiblichen M&auml;usen zeigen, verbessert eine verst&auml;rkte Plp1-Herstellung bei beiden Geschlechtern die kognitiven F&auml;higkeiten. Dies ist somit ein interessanter Ansatzpunkt, um die Alzheimer-Krankheit und andere altersbedingte kognitive St&ouml;rungen zu behandeln. Es wurde bereits festgestellt, dass auch bei &auml;lteren Menschen das Plp1 bei Frauen verst&auml;rkt auftritt, also wom&ouml;glich ebenso wie bei den M&auml;usen von einer Aufhebung der X-Inaktivierung profitiert.
<h2 type="main">R&auml;tselhafte Ursachen</h2>
Diese Art von Ph&auml;nomenen bereitet Evolutionsbiolog:innen Kopfzerbrechen. Denn die von altersbedingten Krankheiten betroffenen Frauen k&ouml;nnen sich nicht mehr fortpflanzen &ndash; ihre Gesundheit steht somit nicht unter dem Selektionsdruck der Evolution, zumindest nicht direkt.
Menschen geh&ouml;ren zu einer sehr kleinen Gruppe von S&auml;ugetieren, deren Weibchen eine Menopause durchlaufen und in ihrem letzten Lebensabschnitt unfruchtbar sind. Die anderen f&uuml;nf bisher entdeckten sind Zahnwale, n&auml;mlich Orca, Kurzflossen-Grindwal, kleiner Schwertwal, Beluga und Narwal, wobei die beiden letztgenannten erst im Jahr 2018 in den Club aufgenommen wurden.
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<figure><img alt="image" src="https://eu-central-1.graphassets.com/Aype6X9u2QGewIgZKbFflz/cma24c97j4kz908ulgw8mwu0w">
<figcaption><label>Abb.2: </label>Beluga- oder Wei&szlig;wale &ndash; hier in einem Aquarium &ndash; geh&ouml;ren neben vier anderen Zahnwalarten und Menschen zu den S&auml;ugetieren, deren Weibchen nach einer Menopause noch einen unfruchtbaren Lebensabschnitt haben. Bild: Mikhail / Adobe Stock</figcaption>
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Um dieses evolutionsbiologische Paradoxon zu erkl&auml;ren, wird meist die Gro&szlig;mutter-Hypothese herangezogen. Demnach verbessern die mit Lebenserfahrung gesegneten Omas den Fortpflanzungserfolg ihrer Kinder und die &Uuml;berlebenschancen ihrer Enkelkinder, was sich auf die Ausbreitung ihrer eigenen Gene auswirkt &ndash; zwar nur anteilig, aber immerhin.
Um diese Vermutungen auf eine solidere Grundlage zu stellen, hatten Samuel Ellis von der University of Exeter in Gro&szlig;britannien und Kolleg:innen eine Idee. Sie untersuchten die Lebenserwartung der f&uuml;nf Walarten mit Menopause und verglichen sie mit der &auml;hnlicher Arten ohne post-reproduktive Lebensspanne.3) Die Studie kam zu dem Schluss: Die Wechseljahre evolvierten zumindest bei Walen als Verl&auml;ngerung der Lebenserwartung, nicht etwa als Verk&uuml;rzung der fruchtbaren Jahre.
Auch die Gro&szlig;mutter-Hypothese haben die Forschenden an diesen Walarten untersucht. Vermutlich waren zwei Dinge als Selektionsfaktoren wichtig: zum einen der Nutzen einer erfahrenen Seniorin im Familienverband, zum anderen, die Konkurrenz zwischen M&uuml;ttern und T&ouml;chtern zu vermeiden, indem sich die Lebenserwartung der Gro&szlig;m&uuml;tter verl&auml;ngert, ohne die Fruchtbarkeit mitzunehmen. Nun bleibt nur noch zu kl&auml;ren, wie die Wale es mit der X-Inaktivierung halten.
<h2 type="main">Gro&szlig;e und kleine Unterschiede</h2>
In vielen weiteren Bereichen der Medizin sind erst in diesem Jahrhundert die gro&szlig;en und kleinen Geschlechter-Unterschiede erkannt worden, deren Vernachl&auml;ssigung lebensbedrohlich werden kann. So manifestieren sich etwa Herzinfarkte bei den Geschlechtern unterschiedlich. Beim typischen m&auml;nnlichen Herzinfarkt ist ein Herzkranzgef&auml;&szlig; blockiert, das sich leicht aufsp&uuml;ren l&auml;sst. Bei Frauen betrifft die Verengung eher kleinere, fein verzweigte Blutgef&auml;&szlig;e (Kasten S. 78). Dieser Unterschied ist zwar inzwischen bekannt, wirkt sich aber immer noch auf die Reaktionszeit aus. Wie Vera Regitz-Zagrosek von der Charit&eacute; in Berlin im vorigen Jahr dem Spiegel erl&auml;uterte, kommen Frauen mit einem Herzinfarkt im Mittel 30 Minuten sp&auml;ter in die Klinik als M&auml;nner.
Hier ist weitere Aufkl&auml;rung n&ouml;tig, ebenso wie in vielen anderen Bereichen, in denen Symptome bei Frauen historisch nicht ernst genommen oder als Aspekt der allgemeinen Andersartigkeit von Frauen abgetan wurden. Diese Vorurteile haben dazu beigetragen, dass Erkrankungen wie etwa Endometriose immer noch unzureichend verstanden und nicht heilbar sind. Vernachl&auml;ssigt, weil typisch weiblich &ndash; und nicht objektiv diagnostizierbar &ndash; ist beispielsweise Migr&auml;ne; vernachl&auml;ssigt, weil bei Frauen seltener, ist etwa Autismus.
Verbessern muss sich auch die experimentelle Forschung vom Tierversuch bis hin zum klinischen Test. Hier wurden weibliche M&auml;use und Menschen oft ausgeschlossen, um etwaige Komplikationen zu vermeiden, die aus dem Menstruationszyklus oder einer unerwarteten Schwangerschaft entstehen k&ouml;nnten. Es m&uuml;sste ein Grundsatz der gesetzlichen Gleichberechtigung sein, dass Medikamente, die bei Frauen und M&auml;nnern zum Einsatz kommen, vorher in gleichem Umfang an beiden erprobt werden.
<h2 type="main">Bitte merken: So dr&uuml;ckt sich ein Herzinfarkt aus</h2>
Zu den typischen Zeichen eines Herzinfarkts bei Frauen geh&ouml;ren der Krankenkasse Barmer1) zufolge
Engegef&uuml;hl in der Brust
Schmerzen im Oberbauch
&Uuml;belkeit mit Erbrechen
M&uuml;digkeit beziehungsweise Schw&auml;che
Kiefer-, Nacken- oder Halsschmerzen
R&uuml;ckenschmerzen
starke Kurzatmigkeit, Atemnot
Benommenheit
Schwei&szlig;ausbr&uuml;che
Schmerzen oder Ziehen in einem oder beiden Armen
Bei M&auml;nnern ist das bekannteste Herzinfarkt-Symptom laut Deutscher Herzstiftung2) ein pl&ouml;tzlicher, sehr starker Schmerz, der &uuml;berwiegend im Brustkorb auftritt &ndash; h&auml;ufig hinter dem Brustbein (&bdquo;Elefant auf der Brust&ldquo;). Der Schmerz h&auml;lt im Normalfall l&auml;nger als f&uuml;nf Minuten an; er kann in Arme, Oberbauch, den Bereich zwischen den Schulterbl&auml;ttern, R&uuml;cken oder Hals und Kiefer ausstrahlen. Dazu kommen massives Engegef&uuml;hl, Brennen in der Brust, &Uuml;belkeit, Erbrechen, Atemnot, Oberbauchschmerzen und Angstschwei&szlig; mit kalter, fahler Haut.
<h2 type="main">Der Autor</h2>
Der promovierte Chemiker Michael Gro&szlig; arbeitet als freier Wissenschaftsjournalist in Oxford, England. <a href="https://michaelgross.co.uk" target="_blank" rel="noopener">michaelgross.co.uk</a>
<ul class="references" cited="no" xml:id="nadc20254149552-bibl-0001">
<li xml:id="nadc20254149552-bib-0001">1 Y. Du, B. Faz-Lopez, M. D.e Ah Kioon et al., J. Exp. Med. 2025, 222, e20231809</li>
<li xml:id="nadc20254149552-bib-0002">2 M. Gadek, C. K. Shaw, S. Abdulai-Saiku et al., Sci. Adv. 2025, 11, eads8169</li>
<li xml:id="nadc20254149552-bib-0003">3 S. Ellis, D. W. Franks, M. L. Kronborg Nielsen et al., Nature 2024, 627, 579&ndash;585</li>
<li xml:id="nadc20254149552-bib-0004">4 <a href="https://t1p.de/2wvx0" target="_blank" rel="noopener">t1p.de/2wvx0</a></li>
<li xml:id="nadc20254149552-bib-0005">5 <a href="https://t1p.de/ghonl" target="_blank" rel="noopener">t1p.de/ghonl</a></li>
</ul>
<ul class="references" cited="no" xml:id="nadc20254149552-bibl-0002">
<li xml:id="nadc20254149552-bib-0001">1 Y. Du, B. Faz-Lopez, M. D.e Ah Kioon et al., J. Exp. Med. 2025, 222, e20231809</li>
<li xml:id="nadc20254149552-bib-0002">2 M. Gadek, C. K. Shaw, S. Abdulai-Saiku et al., Sci. Adv. 2025, 11, eads8169</li>
<li xml:id="nadc20254149552-bib-0003">3 S. Ellis, D. W. Franks, M. L. Kronborg Nielsen et al., Nature 2024, 627, 579&ndash;585</li>
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</ul>

Der große Unterschied

Molekulare Mechanismen schützen Bärtierchen vor Wassermangel und anderen Extrembedingungen. Die achtbeinigen, zwischen 0,1 und 0,5 Millimeter großen Tiere halten sogar radioaktiver Strahlung stand.Viele Einzeller leben unter Extrembedingungen, insbesondere Archaeen. Vielzeller hingegen reagieren meist empfindlich auf hohe oder niedrige Temperaturen, hohen Druck, Wassermangel, ungewohnte pH-Werte und Radioaktivität. Denn aufwendiger konstruierte Organismen sind leichter anzugreifen.Eine bemerkenswert widerstandsfähige Ausnahme ist der Stamm der Bärtierchen oder Wasserbären, fachsprachlich Tardigrada. Sie sind nicht nur resistent gegen die genannten Extrembedingungen, die das Leben auf der Erde einschränken, sondern überleben auch Weltraumbedingungen.Die mikroskopisch kleinen Tierchen sind entfernte Verwandte von Spinnen und Insekten, den Gliederfüßern. Es gibt rund 1500 Arten; die meisten leben in den Ozeanen oder im Süßwasser. Aber viele haben sich auch an vergängliche Lebensräume wie Wassertropfen auf Pflanzen und Moosen angepasst. Um deren Austrocknung zu überleben, haben diese süßwasser-landlebenden (limnoterrestrischen) Arten eine besondere Strategie entwickelt: Sie schrumpeln zu einem nahezu wasserfreien, Tannenzapfen-förmigen „Tönnchen” (<link href="#nadc20254148948-fig-0001">Abbildung) und stellen jede messbare Lebensfunktion ein, bis ein neuer Wassertropfen sie wiederbelebt. In dieser Form widerstehen die Tiere auch anderen Extrembedingungen. Neuere Forschungsergebnisse entschlüsseln, wie sie das machen und wie sich diese Eigenschaften entwickelt haben.<figure xml:id="nadc20254148948-fig-0001"><figure><img alt="image" src="https://eu-central-1.graphassets.com/Aype6X9u2QGewIgZKbFflz/cm8wk0xr847i907tdh1xnt819"><figcaption><label>Abb.1: </label>Das Bärtierchen Milnesium tardigradum in der Rasterelektronenmikroskopaufnahme. Oben im aktiven Stadium, unten im „Tönnchen“-Zustand, in dem keine Lebensfunktion messbar ist. Bild aus doi: 10.1371/journal.pone.0045682</figcaption></figure></figure><h2 type="main">Schützende Proteine</h2>Bekannt waren bisher drei Familien hitzelöslicher Proteine, die an Entstehung und Stressresistenz des Tönnchen-Zustands beteiligt sind. Je nachdem, wo sie sich in der Zelle befinden, heißen sie unterschiedlich:<list><listitem>CAHS (cytosolic abundant heat soluble) im Cytoplasma,</listitem><listitem>MAHS (mitochondrial AHS) in den Mitochondrien und</listitem><listitem>SAHS (secretory AHS) in Sekreten.</listitem></list>Zwei weitere Familien fanden sich zuerst nur in der Art Echiniscus testudo, sie heißen daher EtAHS alpha und beta. Zusätzlich codiert das Gen MRE11 (meiotic recombination 11) eine weitere Tönnchen-beteiligte Proteinfamilie – es schützt auch andere Tierarten bei Austrocknung vor Schäden.James Fleming, Davide Pisani und Kazuhara Arakawa von der Keio-Universität in Japan haben nun systematisch Gensequenzen dieser sechs Proteinfamilien quer durch den Stamm der Tardigrada verglichen, wobei sie 13 Bärtierchengattungen erfassten.1) Mit mehr als 170 solcher Gensequenzen haben die Forschenden einen Stammbaum dieser Gene erstellt, der erste Einblicke gewährt, wie und wann die Bärtierchen lernten, sich gegen Austrocknung zu wehren. Wie die Befunde nahelegen, haben die beiden Klassen Eutardigrada und Heterotardigrada einen gemeinsamen Vorfahren im Ozean; sie eroberten separat das Festland und die von der Austrocknung bedrohten limnoterrestrischen Lebensräume. Und um Austrocknung zu verhindern, entwickelten Eutardigrada dabei die CAHS-, MAHS- und SAHS-Proteine, während Heterotardigrada sich mit EtAHS behalfen.Über diese grobe Aufteilung hinaus gibt es ein komplexes Geflecht aus Gen-Verdopplungen und -Verlusten. Und das lässt sich nicht ohne weiteres mit den Lebensräumen der heute existierenden Arten erklären.<h2 type="main">Strahlenschutz</h2>Wasser ist für alles Leben auf der Erde unverzichtbar – wer überleben will, darf nicht austrocknen. Dass die Bärtierchen dagegen resistent sind, lässt sich also leicht mit der Evolution begründen. Resistenz gegen radioaktive Strahlung hingegen ist schwieriger zu begründen. Sie tritt etwa beim Bakterium Deinococcus radiodurans auf – und im Stamm der Tardigrada. Bei dem Bakterium gilt ein besonders wirksamer DNA-Reparaturmechanismus als entscheidend. Dieser entwickelte sich vermutlich, um die Zellen vor Austrocknung zu schützen, denn die dabei auftretenden DNA-Schäden ähneln denen, die auch Radioaktivität verursacht, etwa Einzel- und Doppelstrangbrüche.Courtney Clark-Hachtel von der University of North Carolina in Chapel Hill, USA, und Kolleg:innen zufolge hat das Bärtierchen Hypsibius exemplaris sogar seinen eigenen Geigerzähler.2) Es detektiert sofort Strangbrüche, die durch Gamma-Strahlung entstehen, und kurbelt dann dementsprechend die Expression der Gene an, welche die DNA reparieren. Dass die durch den Detektor aktivierten Gene wirklich DNA reparieren, fanden die Autor:innen heraus, indem sie die Gene in Bakterien exprimierten: Die so veränderten Mikroben sind resistenter gegen Strahlung als ihre unbehandelten Kollegen.Unabhängig davon untersuchten Marwan Arnoud am Muséum national d‘Histoire naturelle in Paris und Kolleg:innen die Genexpression bekannter DNA-Reparaturmechanismen in H. exemplaris. Dabei entdeckten sie ein DNA-bindendes Protein, das vermutlich ebenfalls bei der Reparatur hilft – denn seine Produktion wird im Gleichtakt mit den bekannten Resistenzfaktoren hochgefahren.3)<h2 type="main">Wie Bärtierchen Stress widerstehen</h2>Weitere Einzelheiten zur Strahlungsresistenz entdeckten Lingqiang Zhang am Beijing Institute of Lifeomics in China und Kolleg:innen: Sie sequenzierten das Genom einer neu entdeckten Art, Hypsibius henansis, und untersuchten die Strahlungsresistenz mit einem Multi-omics-Verfahren, also indem sie Genom, Transcriptom und Proteom studierten.4) Das Ergebnis: Radioaktive Strahlung aktiviert 285 Gene.In dieser Reaktion auf Stressbedingungen entdeckten die Forschenden drei separate molekulare Mechanismen, die zur Strahlungsresistenz beitragen. Ihnen zufolge hilft das Protein TDP1, das nur Bärtierchen bilden, DNA-Doppelstrangbrüche zu reparieren. Zudem beschreiben sie das bakterielle Gen Dopa-Dioxygenase 1 (Doda1), das die Tierchen offenbar nicht durch Evolution erworben haben, sondern von anderen Organismen (horizontaler Gentransfer). Doda1 codiert für ein Enzym, das Betalaine produziert – eine Gruppe wasserlöslicher Blüten- und Fruchtfarbstoffe, die bei Pflanzen, Pilzen und Bakterien freie Radikale beseitigen. Der dritte neu entdeckte Mechanismus betrifft den mitochondrialen Faltungshelfer BCS1: Er wird als Antwort auf Strahlenbelastung verstärkt hergestellt und schützt offenbar gezielt die Proteine der Mitochondrien.<h2 type="main">Gene variieren</h2>Wieso die Bärtierchen so widerstandsfähig sind, ließe sich leichter entschlüsseln, wenn die Gene so einfach zu verändern wären wie bei Bakterien und Fliegen. Dafür diente bei letztgenannten bisher beispielsweise das Crispr-Cas9-Werkzeug „direct parental crispr”. Dieses haben nun Koyuki Kondo, Akihiro Tanaka und Takekazu Kunieda an der Universität Tokio, Japan, für Tardigrada entwickelt.5)Die Forschenden veränderten damit die Keimbahn der asexuellen Bärtierchenart Ramazzottius varieornatus. Außerdem lassen sich damit funktionierende Gene entfernen oder hinzufügen – so lässt sich die Bedeutung einzelner Gene testen.Die besondere Überlebensfähigkeit der Tardigrada zeigt sich auch nach über 250 Millionen Jahren Evolution. Nachvollziehen lässt sich das mit Fluoreszenzmikroskopie an den vier erhaltenen Bernsteinfossilien dieses Tierstamms. Damit beschäftigten sich Marc Mapalo, Joanna Wolfe und Javier Ortega-Hernández von der Harvard-Universität. Sie kamen zu dem Schluss: Die Tierchen haben wahrscheinlich vor allem dank ihrer besonderen Fähigkeit, Tönnchen zu bilden, die letzten drei der fünf größten Massenaussterben der Erdgeschichte überlebt.6) Insofern haben sie gute Chancen, auch das gegenwärtige sechste zu überstehen.<h2 type="main">Der Autor</h2>Der promovierte Chemiker Michael Groß arbeitet als freier Wissenschaftsjournalist in Oxford, England. <a href="https://michaelgross.co.uk" target="_blank">michaelgross.co.uk</a><h2 type="main">AUF EINEN BLICK</h2>Sechs Familien hitzelöslicher Proteine schützen Bärtierchen, wenn kein Wasser vorhanden ist.Radioaktive Strahlung aktiviert Gene, die dazu beitragen, dass die DNA besonders schnell repariert wird.Mit einem neuen molekularen Werkzeug lässt sich die Bedeutung einzelner Gene testen.<ul class="references" cited="no" style="numbered" xml:id="nadc20254148948-bibl-0001"><li xml:id="nadc20254148948-bib-0001">1 J. F. Fleming, D. Pisani, K. Arakawa, Genome Biology and Evolution 2024, 16, evad217</li><li xml:id="nadc20254148948-bib-0002">2 C. M. Clark-Hachtel, J. D. Hibshman, T. De Buysscher et al., Curr. Biol. 2024, 34, 1819–1830</li><li xml:id="nadc20254148948-bib-0003">3 M. Arnoud, E. Delagoutte, Q. Helleu et al., eLife 2024, 13, RP92621</li><li xml:id="nadc20254148948-bib-0004">4 L. Li, Z. Ge, S. Liu et al., Science 2024, 386, eadl0799</li><li xml:id="nadc20254148948-bib-0005">5 K. Kondo, A. Tanaka, T. Kunieda, PLOS Genet. 2024, doi: <accessionid ref="info:doi/10.1371/journal.pgen.1011298">10.1371/journal.pgen.1011298</accessionid></li><li xml:id="nadc20254148948-bib-0006">6 M. A. Mapalo, J. M. Wolfe, J. Ortega- Hernández, Comm. Biol. 2024, 7, 953</li></ul>

Nichts kann ihnen etwas anhaben

Seit den 1990er Jahren sind die Rezeptoren des Geruchssinns bekannt &ndash; erst jetzt erschlie&szlig;en Strukturuntersuchungen ihre Erkennungsmechanismen. Ger&uuml;che vorherzusagen und neue Geruchsstoffe zu entwerfen, ist noch schwierig; dabei soll nun k&uuml;nstliche Intelligenz helfen.
Vor 20 Jahren erhielten Linda Buck und Richard Axel den Medizin-Nobelpreis. Wie sie entdeckt hatten, sind die molekularen Rezeptoren unseres Geruchssinns G-Protein-gekoppelte Membranproteine &ndash; ebenso wie etwa das sehr viel fr&uuml;her erforschte Rhodopsin f&uuml;r die Lichtwahrnehmung im Auge. Die Mechanismen, wie diese Rezeptoren ein G-Protein aktivieren und letztlich ein Nervensignal erzeugen, stehen in einschl&auml;gigen Lehrb&uuml;chern. Es klingt also wahrscheinlich, dass die wesentliche Frage gel&ouml;st ist und nur noch die Einzelheiten zu kl&auml;ren sind.
Beim Geruchssinn erwiesen sich diese Details allerdings als knifflig. Im menschlichen Genom sind rund 400 Geruchsrezeptoren codiert. Das ist zwar etwa die H&auml;lfte unserer Gesamtausstattung an G-Protein-gekoppelten Rezeptoren, aber eher wenig verglichen mit anderen S&auml;ugetieren, die sich st&auml;rker auf ihren Geruchssinn verlassen als wir &ndash; M&auml;use haben &uuml;ber 1000 Gene f&uuml;r Geruchsrezeptoren.
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<figure><img alt="image" src="https://eu-central-1.graphassets.com/Aype6X9u2QGewIgZKbFflz/YvGtglbqS46ThEtqKkm5">
<figcaption><label>Abb.1: </label>Die Maus riecht mit einer besonderen Art von Rezeptoren Amine, die bei der Decarboxylierung von Aminos&auml;uren entstehen &ndash; das verr&auml;t ihr Geschlecht und sexuelle Reife ihrer Artgenossen. Bild: Vera Kuttelvaserova / Adobe Stock</figcaption>
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Zwar exprimiert jede einzelne Riechzelle in unserer Nase nur einen dieser 400 Rezeptoren. Wie diese sich gegen&uuml;ber den Stoffen verhalten, die wir riechen k&ouml;nnen, ist weniger eindeutig: Ein Geruchsstoff kann mehrere Rezeptoren auf verschiedene Weisen ansprechen, und ein Rezeptor kann unterschiedliche Geruchsstoffe auf verschiedene Weisen erkennen.
Das kennen wir zum Beispiel vom besser untersuchten Rezeptor f&uuml;r s&uuml;&szlig;en Geschmack &ndash; viele Molek&uuml;le, deren Strukturen nicht viel gemeinsam haben, schmecken s&uuml;&szlig;. Manche wirken mehrere Gr&ouml;&szlig;enordnungen st&auml;rker auf den Rezeptor als Zucker &ndash; beispielsweise das Protein Monellin oder die S&uuml;&szlig;stoffe Aspartam und Saccharin (3000-, 200- beziehungsweise 450-mal st&auml;rker als Zucker).
Es gibt also keinen einfachen Zusammenhang in dem Sinne, dass jeder Geruchs-Schl&uuml;ssel ein passendes Rezeptor-Schloss &ouml;ffnet. Um die komplexere Wirklichkeit des molekularen Erkennens zu erfassen, braucht die Wissenschaft Strukturen von Rezeptoren mit und ohne die zugeh&ouml;rigen Geruchsstoffe &ndash; am besten viele Strukturen vieler solcher Kombinationen.
<h2 type="main">Neue Strukturen</h2>
Leider erwiesen sich die 400 Geruchssensoren des Menschen und die zahlreicheren der Maus als schwer zug&auml;nglich f&uuml;r die Strukturforschung. Sie lassen sich nur schlecht au&szlig;erhalb der Geruchszellen exprimieren und schon gar nicht kristallisieren. Immerhin sagt das KI-Programm Alphafold Strukturen f&uuml;r die ligandenfreien Rezeptoren vorher.1) Anhand dieser Strukturen k&ouml;nnte man versuchen zu raten, wo der Geruchsstoff vielleicht bindet, und die Wechselwirkung zu modellieren. Aber letztlich f&uuml;hrt kein Weg daran vorbei, die Struktur des Gesamtkomplexes experimentell zu bestimmen.
Im M&auml;rz 2023 ermittelten die Arbeitsgruppen von Hiroaki Matsunami und Aashish Manglik erstmals die Struktur eines Geruchsrezeptors aus Wirbeltieren.2) Die Arbeitsgruppen an der Duke University in Durham, North Carolina beziehungsweise an der University of California in San Francisco nutzten dazu Kryo-Elektronenmikroskopie. Es handelt sich um den menschlichen Rezeptor OR51E2, der vermutlich auf die Erkennung kurzkettiger Carbons&auml;uren spezialisiert ist, mit dem gebundenen Geruchsstoff Propions&auml;ure. Die findet sich etwa im Aroma ger&ouml;steten Kaffees und in menschlichem Mundgeruch.
<h2 type="main">OR51E2 bindet Propions&auml;ure</h2>
Den Strukturbildern zufolge gibt es sowohl eine hydrophile Verankerung der Carbons&auml;uregruppe als auch eine hydrophobe Bindungstasche f&uuml;r den Kohlenwasserstoffanteil des Molek&uuml;ls. Die Gr&ouml;&szlig;e dieser Bindungstasche entscheidet vermutlich, welche Carbons&auml;uren der Rezeptor erkennen kann.
Dieser Bindungsmechanismus unterscheidet sich fundamental von dem eines zuvor untersuchten Ionenkanals bei Fruchtfliegen, den Geruchsstoffe aktivieren: Hier beruht die molekulare Erkennung auf hydrophoben Wechselwirkungen, die &uuml;ber einen weiten Bereich verteilt sind.3)
W&auml;hrend die meisten Geruchsrezeptoren der Wirbeltiere sich rasch ver&auml;ndern und evolvieren, ist die Gensequenz von OR51E2 bemerkenswert einheitlich geblieben. Der Rezeptor muss also au&szlig;er f&uuml;r das Riechen auch f&uuml;r lebensnotwendige Prozesse zust&auml;ndig sein, vermuten die Autor:innen. Dieser Rezeptor wird auch im Darm und in der Prostata hergestellt, was bedeutet: Er hat unter verschiedenen Bedingungen eine recht robuste Struktur, die sich ohne gro&szlig;e Probleme faltet. Das k&ouml;nnte erkl&auml;ren, weshalb er in Laborkulturen leichter zug&auml;nglich ist. Inwieweit sich also die Erkenntnisse dieses Sonderfalls auf die &uuml;brigen, rasch evolvierenden Geruchsrezeptoren verallgemeinern lassen, bleibt zu erforschen.
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<figure><img alt="image" src="https://eu-central-1.graphassets.com/Aype6X9u2QGewIgZKbFflz/kfh2nQoJRK5zoh6T6a4b">
<figcaption><label>Abb.2: </label>Phylogenetischer Baum der menschlichen G-Protein-gekoppelten Rezeptoren (GPCR) der Klasse A und der Konsensgeruchsrezeptoren (consensus odorant receptors, consORs). Geruchs-GPCRs in rosa, blau und cyan (Klasse-II-ORs, Klasse-I-ORs und trace amine associated receptors, TAARs). Graue Linien: nicht-olfaktorische GPCRs. Die gezeigten Molek&uuml;le werden von den olfaktorischen GPCRs erkannt, wof&uuml;r die Heteroatome verantwortlich sind. Hervorgehoben ist OR51E2, die einzige bekannte Struktur eines menschlichen Geruchsrezeptors. Abbildung: aus Lit. 8)</figcaption>
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<h2 type="main">Eine weitere Klasse von Rezeptoren</h2>
Weitere Einblicke erbrachte bald nach dieser Studie eine zweite, sehr viel kleinere Familie von Geruchsrezeptoren, die nicht als ORs (Olfactory Receptors) klassifiziert werden, sondern als TAARs (Trace Amine Associated Receptors). Diese sind den Rezeptoren f&uuml;r Botenstoffe wie Serotonin und Dopamin genetisch verwandt, weshalb sich ihre Strukturen und Funktionsweisen &auml;hneln. Auch TAARs werden in Riechzellen hergestellt, wie Stephen Liberles und Linda Buck im Jahr 2006 zeigten. Die Maus hat f&uuml;nfzehn solcher Rezeptoren, der Mensch nur sechs. M&auml;use erschn&uuml;ffeln damit Amine, die bei der Decarboxylierung von Aminos&auml;uren entstehen, typischerweise im Urin der Artgenoss:innen vorkommen und Aufschluss &uuml;ber das Geschlecht und die sexuelle Reife der Tiere geben k&ouml;nnen.
Im Mai 2023 ver&ouml;ffentlichten Lulu Guo von der Shandong Universit&auml;t in Jinan, China, und Kolleg:innen &ndash; darunter TAAR-Mitentdecker Liberles &ndash; die Kryo-Elektronenmikroskopie-Strukturen mehrerer Funktionskomplexe, welche aus dem Rezeptor TAAR-9 der Maus mit gebundenen G-Proteinen und Geruchsstoffen bestehen.4) Die Strukturbilder zeigen eine tiefe und enge Bindungstasche f&uuml;r den Geruchsstoff sowie weitere Einzelheiten der molekularen Wechselwirkungen, also etwa spezifische Bindungen und Erkennungsmechanismen, durch die ein Signal weitergegeben wird.
Bald danach folgten zwei Strukturen von menschlichen TAAR15,6) sowie die Struktur des Maus-Rezeptors TAAR7f.7) Die TAAR7f-Arbeit vergleicht ausf&uuml;hrlich die vier bis dahin bekannten TAAR-Strukturen.
<h2 type="main">Neue Nasen</h2>
Die Geruchswahrnehmung wird auch deswegen eingehender erforscht, weil Aussicht auf neue technische Sensoren besteht &ndash; und zwar besonders f&uuml;r jene Anwendungen, f&uuml;r die bis heute Sp&uuml;rhunde n&ouml;tig sind. Bisher k&ouml;nnen &bdquo;elektronische Nasen&rdquo; nicht einmal mit dem menschlichen Riechorgan konkurrieren, geschweige denn mit den feineren Nasen anderer S&auml;ugetiere.
Es wird noch dauern, bis wir die Geruchsrezeptoren gut genug verstehen, um gezielt neue zu entwickeln, etwa f&uuml;r eine spezifische Stoffdetektion. &Uuml;berraschenderweise gelang es aber nun umgekehrt, neuartige Rezeptoren herzustellen, die dabei helfen, den nat&uuml;rlichen Riecher zu erforschen.
Nachdem sie die Struktur des Rezeptors OR51E2 gel&ouml;st hatten, schlugen Mangliks und Matsunamis Arbeitsgruppen einen neuen Weg ein. Sie stellten neue, vereinfachte Rezeptoren her, indem sie die Gensequenzen nahe verwandter Rezeptoren verglichen und f&uuml;r jede Position die jeweils h&auml;ufigste Version w&auml;hlten. Diese Konstrukte nennen sie Konsensrezeptoren.
Diese sind zwar neu, aber auch sehr alt in dem Sinne, dass sie vermutlich den gemeinsamen Vorfahren der heutigen diversifizierten Rezeptoren nahekommen. Die Idee dahinter: Als Landwirbeltiere im Laufe der Evolution auf einmal Luft zum Schnuppern hatten, erh&ouml;hte sich die Vielfalt der Rezeptoren. Die Rezeptoren der heutigen Klasse I, die f&uuml;r wasserl&ouml;sliche Substanzen zust&auml;ndig ist, blieben erhalten; die heutige Klasse II kam hinzu und expandierte dramatisch. Und diese Ver&auml;nderungen gingen oft zulasten der Stabilit&auml;t. Das zeigt sich beispielsweise daran, dass sich gleichzeitig molekulare Faltungshelfer (Chaperone) entwickelten, um den Rezeptorproteinen mit nicht optimaler Struktur beizustehen.
<h2 type="main">Konsensrezeptoren</h2>
Den Forschenden zufolge k&ouml;nnten die Konsensversionen daher stabiler und leichter zu untersuchen sein als die heutigen Rezeptoren. Tats&auml;chlich erhielten sie kryo-elektronenmikroskopisch Strukturen vier solcher Konsensrezeptoren. Eines dieser Konstrukte leitet sich von OR51E2 und dessen Verwandtschaft ab, sodass die Forschenden dieses direkt mit der bekannten Struktur verglichen: Wie erwartet stimmen die Strukturen &uuml;berein. Andere Konstrukte erlauben erstmals Einblicke in die Strukturen der Klasse-II-Rezeptoren, zu denen 80 Prozent der menschlichen Geruchsrezeptoren geh&ouml;ren.
Eine fl&auml;chendeckende Anwendung dieses Vorgehens k&ouml;nnte den Durchbruch bringen, hoffen die Autor:innen. Denn mit etlichen Konsensstrukturen lie&szlig;e sich Alphafold so gut trainieren, dass es tats&auml;chlich lernt, die derzeitigen Geruchsrezeptoren und deren Erkennungsmechanismen zuverl&auml;ssig zu modellieren.
Auch andere Arbeitsgruppen setzen auf k&uuml;nstliche Intelligenz, wie die Fachzeitschrift Nature Ende des Jahres 2024 berichtete. Sie hoffen, dass KI den &bdquo;Code&rdquo; der Geruchswahrnehmung &ndash; also die Zuordnung von Billionen Ger&uuml;chen zu molekularen und physiologischen Erkennungsmechanismen &ndash; eines Tages knacken kann.9)
<h2 type="main">Der Autor</h2>
Der promovierte Chemiker Michael Gro&szlig; arbeitet als freier Wissenschaftsjournalist in Oxford, England. <a href="https://michaelgross.co.uk" target="_blank" rel="noopener">michaelgross.co.uk</a>
<h2 type="main">AUF EINEN BLICK</h2>
Riechen ist komplex: Nicht f&uuml;r jeden Geruch gibt es genau einen Rezeptor.
Um zu verstehen, wie die molekulare Erkennung eines Geruchsstoffs funktioniert, sind Strukturen von Rezeptoren mit und ohne Substrat n&ouml;tig.
Neben Experimenten hilft nun k&uuml;nstliche Intelligenz, Zusammenh&auml;nge aufzudecken. So sollen langfristig elektronische Nasen m&ouml;glich werden.
<ul class="references" cited="no" xml:id="nadc20254147176-bibl-0001">
<li xml:id="nadc20254147176-bib-0001">1 M. Akdel, D. E. V. Pires, E. Porta Pardo et al., Nature Struct. Mol. Biol. 2022, 29, 1056&ndash;1067</li>
<li xml:id="nadc20254147176-bib-0002">2 C.B. Billesb&oslash;lle, C. A. de March, W. J. C. van der Velden et al., Nature 2023, 615, 742&ndash;749</li>
<li xml:id="nadc20254147176-bib-0003">3 J. del M&aacute;rmol, M. A. Yedlin, V. Ruta, Nature 2021, 597, 126&ndash;131</li>
<li xml:id="nadc20254147176-bib-0004">4 L. Guo, J. Cheng, S. Lian et al., Nature 2023, 618, 193&ndash;200</li>
<li xml:id="nadc20254147176-bib-0005">5 P. Shang, N. Ring, J.-J. Jiang et al., Cell 2023, 186, 5347&ndash;5362.e24</li>
<li xml:id="nadc20254147176-bib-0006">6 G.Zilberg, A. K. Parpounas, A. L. Warren et al., Nat. Commun. 2024, 15, 108</li>
<li xml:id="nadc20254147176-bib-0007">7 A. Gusach, Y. Lee, A. N. Khoshgrudi et al., Nat. Commun. 2024, 15, 7555</li>
<li xml:id="nadc20254147176-bib-0008">8 C. A. de March, N. Ma, C.B. Billesb&oslash;lle et al., Nature 2024, doi: <accessionid ref="info:doi/10.1038/s41586&ndash;024&ndash;08126&ndash;0">10.1038/s41586&ndash;024&ndash;08126&ndash;0</accessionid></li>
<li xml:id="nadc20254147176-bib-0009">9 K. Smith, Nature 2024, 633, 26&ndash;29</li>
</ul>

Der molekulare Riecher

Wirkstoffe, mit denen Aids behandelt wird, verhindern die Krankheit, wenn sie prophylaktisch geschluckt oder gespritzt werden. Dies könnte die Bekämpfung der Epidemie revolutionieren – zumindest, wenn die Mittel zuverlässig verfügbar sind und auch so genutzt werden.Aids ist für viele in Europa eine Geschichte aus der Vergangenheit. Es ist die Pandemie, die in den 1980ern die Welt in Angst und Schrecken versetzte – denn es gab noch keine Behandlung, und das Forschungsgebiet der Retroviren war Neuland. Der Erreger wurde im Jahr 1983 entdeckt. Nach einigen Wirrungen um verschiedene Virusversionen, die sich letztlich doch als gleich herausstellten, von konkurrierenden <link href="#nadc20244145566-fig-0001">Arbeitsgruppen erhielt der Erreger den Namen humanes Immundefizienz-Virus (HIV).<figure xml:id="nadc20244145566-fig-0001"><figure><img alt="image" src="https://eu-central-1.graphassets.com/Aype6X9u2QGewIgZKbFflz/G2oJqsHQRCiL2ACRJYX7"><figcaption><label>Abb.1: </label>Bild: Pixel-Shot / Adobe Stock</figcaption></figure></figure>Heutzutage lässt sich die Krankheit behandeln und eine Ansteckung vermeiden. Das funktioniert aber nicht unbedingt dort, wo die Behandlung für viele Betroffene – etwa wegen fehlender Krankenversicherung oder geringer Kaufkraft im Land generell – unerschwinglich ist, etwa in den USA und im globalen Süden. Aids ist zwar kein unüberwindbares medizinisches Problem mehr, aber aus sozialen und politischen Gründen immer noch eine Epidemie.Höchststand an Neuinfektionen waren über 3 Millionen jährlich in den Jahren 1995 bis 2000. Im Jahr 2023 wurden weltweit 1,3 Millionen neue HIV-Infektionen registriert, 630 000 Menschen starben an den Folgen einer Infektion. Das Programm der Vereinten Nationen für HIV/Aids (UNAids) hatte das Ziel gesetzt, die Zahl der Neuinfektionen bis zum Jahr 2025 auf 500 000 zu senken. Das dürfte nicht erreicht werden.Am stärksten betroffen ist das südliche Afrika: In Eswatini (früher Swasiland), Lesotho, Botswana und Simbabwe sind mehr als 20 Prozent der Erwachsenen mit HIV infiziert. Südafrika hat mit 9,2 Millionen die meisten HIV-Infektionen, gefolgt von Tansania und Mosambik.Im Sommer 2024 gab es sensationelle Neuigkeiten, die diese Situation dramatisch verbessern könnten: die großflächige und prophylaktische Anwendung von Anti-Aids-Wirkstoffen.<h2 type="main">Vorher besser als nachher</h2>Solange kein Impfstoff verfügbar ist, gilt die Prä-Expositions-Prophylaxe (PrEP) als beste Methode, die Ansteckung mit HIV und damit auch die Aids-Erkrankung zu verhindern. PrEP bedeutet, regelmäßig einen Wirkstoff einzunehmen, der die Erkrankung verhindert, selbst wenn man der Ansteckungsgefahr ausgesetzt ist.Ein PrEP-Medikament ist seit Jahren im Einsatz: Das Aids-Medikament Truvada wurde von der US-Aufsichtsbehörde FDA im Jahr 2012 zusätzlich auch zur Prophylaxe in Risikogruppen zugelassen. Die Weltgesundheitsorganisation schloss sich dieser Empfehlung an.Dieses Präparat besteht aus einer täglich einzunehmenden Tablette mit den Wirkstoffen Emtricitabin – einem Analogon des Nukleosids Cytidin – und Tenofovir, einem Reverse-Transkriptase-Inhibitor auf Nukleotidbasis. Beide verhindern, dass sich die Viren vermehren. In den USA wird es für mehr als 2000 US-Dollar pro Person und Monat gehandelt. Doch inzwischen gibt es etliche Initiativen, die Nachahmerprodukte des Wirkstoffs auch in ärmeren Ländern der Bevölkerung zugänglich machen, die einem hohen Aids-Risiko ausgesetzt ist.Allerdings blieb das Risiko, sich mit HIV anzustecken, nahezu gleich bei denjenigen Frauen in afrikanischen Ländern, denen Truvada verschrieben wurde. Dies wird darauf zurückgeführt,1) dass die am meisten gefährdeten Frauen oft nicht die nötige Autonomie und Privatsphäre haben, um das Medikament zuverlässig jeden Tag einnehmen zu können. Denn PrEP wurde zunächst explizit an Hochrisikogruppen vermarktet und gilt deshalb jetzt als Stigma: Für Frauen kommt PrEP oft einem Eingeständnis der Promiskuität gleich, auch wenn vielleicht in Wirklichkeit ihre promiskuitiven Partner sie der Ansteckungsgefahr aussetzen.Wegen dieser Schwierigkeiten mit PrEP bei täglicher Tabletteneinnahme wurde es jetzt als enormer Fortschritt begrüßt, dass ein langanhaltendes Präparat ebenso wirksam schützt: Das bereits zur Aids-Behandlung zugelassene Lenacapavir bindet an Bausteine der Virusproteinhülle (des Capsids) und verhindert so, dass sich aktive Viren zusammenlagern. Damit ist der ganze Funktionszyklus des Virus unterbrochen, es kann keine neuen Zellen infizieren und sich somit auch nicht weiter vermehren.<h2 type="main">Studien mit Frauen und Männern</h2>Eine klinische Studie mit 5338 Teilnehmerinnen in Südafrika und Uganda testete das Medikament Lenacapavir. Es muss zweimal pro Jahr gespritzt werden, und die Studie verglich dies mit den etablierten PrEP-Tabletten. In dem Doppelblindversuch erhielten die Frauen entweder Wirkstoff-Injektionen und Placebo-Tabletten oder umgekehrt.2)Unter den 2134 Teilnehmerinnen, die Lenacapavir erhalten hatten, infizierte sich keine mit HIV. In den Vergleichsgruppen, die durch die wirksamen Tabletten geschützt sein sollten, diese aber vermutlich nicht wie vorgegeben nehmen konnten, gab es hingegen 55 HIV-Fälle. Von den 1068 Frauen, die Truvada erhielten, steckten sich 16 an (1,5 %), bei den 2136 Frauen, die das neuere Präparat Descovy bekamen, waren es 39 (1,8 %). Die Ansteckungsraten waren in diesen Gruppen nur leicht geringer als in der allgemeinen Bevölkerung.Aufgrund dieser eindeutigen Ergebnislage wurde das Doppelblindverfahren aus ethischen Gründen aufgehoben, als 50 Prozent der Teilnehmerinnen seit einem Jahr dabei waren. Die Teilnehmerinnen wurden informiert, in welcher Gruppe sie sich befanden, und durften wählen, welchen der drei Wirkstoffe sie von nun an nutzen würden. Die Studie läuft jetzt also im Open-label-Format weiter; interessant sind Faktoren wie Langzeitverträglichkeit und ob es doch Infektionsfälle gibt, die nur zu selten sind, um bei ein paar Tausend Teilnehmerinnen aufzufallen.Eine zweite Studie an Männern in Lateinamerika, Südafrika, Thailand und den USA erbrachte ebenfalls vielversprechende Ergebnisse hinsichtlich der Spritze,3) es liegt aber noch keine wissenschaftliche Veröffentlichung vor.Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung der afrikanischen Studie2) belief sich der Marktpreis für Lencapavir in den USA auf 42 250 US-Dollar pro Person und Jahr. In Reaktion auf die klinische Studie haben Expert:innen ausgerechnet: Generische Versionen des Wirkstoffs ließen sich sogar bei einem Verkaufspreis von 40 US-Dollar pro Person und Jahr noch gewinnbringend verkaufen, wenn mindestens 10 Millionen Menschen ihn regelmäßig nutzen. Diese Berechnung wurde im Juli bei der 25. Internationalen Aids-Konferenz in München bekanntgegeben.Im September stellte das US-Unternehmen Gilead, das Lenacapavir entwickelt hat, einen Plan vor: Partnerfirmen sollen den Wirkstoff herstellen und in 120 ärmeren Ländern zu erschwinglicheren Preisen verfügbar machen. Kritische Stimmen notierten allerdings, etliche Länder des wirtschaftlichen Mittelfelds etwa in Lateinamerika seien von dem Schema ausgeschlossen, obwohl dort viele Menschen Aids haben: Brasilien beispielsweise steht mit einer HIV-Prävalenz bei Erwachsenen von 1,5 Prozent auf Platz 47 der Weltrangliste.<h2 type="main">Soziale Verwicklungen</h2>Bis heute ist es unter anderem deshalb so schwierig, Aids zu bekämpfen, weil soziale Komplikationen wie Armut, mangelnde Gleichberechtigung, diverse Sexualverhalten und damit assoziierte Vorurteile entscheidend zur Ausbreitung der Krankheit beitragen – und diese Faktoren werden nicht immer offen angesprochen.Ebenso wie die täglichen PrEP-Pillen in Afrika an der mangelnden Autonomie der gefährdeten Frauen scheitern, könnte auch der Einsatz der Lenacapavir-Spritze unbeabsichtigte Nebenwirkungen haben. In Europa zum Beispiel zeichnet sich ab, dass sich Menschen wegen der Wirksamkeit von PrEP von anderen Vorsichtsmaßnahmen abwenden, etwa von Kondomen. Dies zeigt sich bereits in einer Zunahme von anderen sexuell übertragenen Infektionen, gegen die PrEP natürlich nicht im Geringsten hilft.Solche Reaktionen können den erhofften Erfolg der Lenacapavir-Spritze verringern und auch die wirtschaftliche Last für arme Länder auf andere Krankheiten verschieben. Möglicherweise würde – sind Aids-Erkrankungen erst einmal seltener geworden – die Motivation der Menschen sinken, sich alle sechs Monate Lenacapavir spritzen zu lassen. Dann würde zwar die Zahl der Erkrankungen sinken, aber nicht auf Null, was bedeuten würde, dass die Aids-Epidemie noch jahrzehntelang besteht. Eine dauerhaft wirksame Impfung wäre daher zu bevorzugen, doch die lässt noch auf sich warten.<h2 type="main">Wo bleibt die Impfung?</h2>In der Covid-19-Pandemie haben wir erlebt, wie innerhalb eines Jahrs nach der Identifizierung des neuartigen Erregers Impfstoffe entwickelt wurden.4) Bei <link href="#nadc20244145566-fig-0002">Aids erwies sich dies leider als nicht so einfach, und nach vier Jahrzehnten gibt es immer noch keine Impfung. Ein fundamentales Problem liegt darin, dass der Erreger wandlungsfähig ist und der von einem Impfstoff induzierten Immunreaktion ausweichen kann.<figure xml:id="nadc20244145566-fig-0002"><figure><img alt="image" src="https://eu-central-1.graphassets.com/Aype6X9u2QGewIgZKbFflz/7FpZfz3MSeyBrvtWwIEc"><figcaption><label>Abb.2: </label>So funktioniert die sequenzielle Impfung, die HIV-Immunität induziert. Es gibt mehrere Erkennungsstellen (Epitope) für breit neutralisierende Antikörper (bnAb) auf dem Glykoprotein-Baustein (Env) der Virushülle von HIV-1. Die CD4-Rezeptor-Bindungsstelle (CD4bs) und die V3-N332-Epitop-Cluster sind wichtige Ziele für das Keimbahn-Targeting (GT) impfstoffinduzierter breit neutralisierender Antikörper (bnAb). Bei dieser Strategie werden zunächst vorbereitende (priming) Immunogene mit starker Veränderung der Epitope eingesetzt (gekennzeichnet als Sterne), dann formende (shaping) Immunogene mit geringeren Veränderungen, und zuletzt aufpolierende (polishing) Immunogene, die dem nativen Wildtyp des virenassoziierten Hüllproteins ähneln. Die Sequenz soll B-Zellen dazu bringen, zu langlebigen bnAb-produzierenden Plasmazellen zu werden. nach 5)</figcaption></figure></figure>Eine vielversprechende Strategie induziert nicht die Bildung bestimmter Antikörper gegen bestimmte Erregermerkmale, sondern setzt im Immunsystem eine Stufe früher an – bei den Vorläuferzellen (B-Zellen), aus denen sich dann die Antikörper produzierenden Zellen entwickeln. Diesen Ansatz verfolgen Forschende am Scripps Research Institute und der International Aids Vaccine Initiative (IAVI), die im Mai 2024 vier vorklinische Studien dazu veröffentlichten.5)Unabhängig davon haben Forschende am Massachusetts Institute of Technology eine Methode entwickelt, die Resistenzbildung zu umgehen. Dazu sind sieben Impfungen nacheinander mit zunehmender Dosis innerhalb von zwei Wochen nötig. Das ahmt nach, was passiert, wenn das Immunsystem auf natürliche Weise einer Viruserkrankung ausgesetzt wird: Wenn die Virenlast zunimmt, verstärkt das Immunsystem seine Gegenmaßnahmen. Dieses Verfahren ist für Massenimpfungen allerdings zu umständlich. Deswegen suchte das Team nach Vereinfachungen und berichtete nun im September: Zumindest in Tierversuchen funktionieren auch zwei Impfungen mit der gleichen Gesamtdosis im Abstand von sieben Tagen, wenn 20 Prozent der Gesamtdosis beim ersten Mal verabreicht werden und 80 Prozent beim zweiten Mal.6)Für alle gegenwärtig untersuchten Impfstoff-Hoffnungen fehlt bisher der klinische Beweis, dass sie vor einer HIV-Infektion schützen. Da es nun eine zuverlässig wirksame Prä-Expositions-Prophylaxe gibt, wird es schwieriger, die für die Impfstoff-Entwicklung nötigen klinischen Studien zu rechtfertigen. Man müsste sich ihrer Wirksamkeit schon sehr sicher sein, um einen Einsatz im Doppelblindverfahren gegen einen so starken Schutz wie Lenacapavir verantworten zu können.<h2 type="main">Der Autor</h2>Der promovierte Chemiker Michael Groß arbeitet als freier Wissenschaftsjournalist in Oxford, England. <a href="https://michaelgross.co.uk" target="_blank">michaelgross.co.uk</a><h2 type="main">AUF EINEN BLICK</h2>Solange kein Impfstoff verfügbar ist, gilt die Prä-Expositions-Prophylaxe (PrEP) als beste Methode, eine Ansteckung zu verhindern.Bisher sind PrEP-Medikamente nicht bezahlbar für die Menschen, die der größten Ansteckungsgefahr ausgesetzt sind. Generika sind nötig.PrEP senkt zwar die Aids-Zahlen, erhöht aber die Sorglosigkeit und damit die Häufigkeit anderer sexuell übertragbarer Krankheiten.<ul class="references" cited="no" style="numbered" xml:id="nadc20244145566-bibl-0001"><li xml:id="nadc20244145566-bib-0001">1 S. Davoudpour, G. L. Phillips II, P. A. Serrano, A. L. French, S. G. Hosek, Sexes 2024, doi: <accessionid ref="info:doi/10.3390/sexes5030023">10.3390/sexes5030023</accessionid></li><li xml:id="nadc20244145566-bib-0002">2 L.-G. Bekker , M. Das, Q. A. Karim et al., N. Engl. J. Med. 2024, 391, 1179–1192</li><li xml:id="nadc20244145566-bib-0003">3 zur Gilead-Meldung: <url href="https://t1p.de/s7ixt"><a href="https://t1p.de/s7ixt" target="_blank">t1p.de/s7ixt</a></url> (Stand 9. Oktober 2024)</li><li xml:id="nadc20244145566-bib-0004">4 M. Groß, Nachr. Chem. 2021, 69(1), 50–53</li><li xml:id="nadc20244145566-bib-0005">5 R. W. Sanders, J. P. Moore, Science 2024, 384, 738–739</li><li xml:id="nadc20244145566-bib-0006">6 S. H. Bhagchandani, L. Yang, J. H. Lam, Sci. Immunol. 2024, doi: <accessionid ref="info:doi/10.1126/sciimmunol.adl3755">10.1126/sciimmunol.adl3755</accessionid></li></ul>

Vorbeugen mit Pille oder Spritze

Tausende pharmakologisch aktive Substanzen werden regelmäßig genutzt und gelangen somit in die Umwelt. Im Gegensatz zu ihrer Sicherheit für Patient:innen sind die Kollateralschäden in der Biosphäre wenig erforscht.Seit Anfang des 20. <link href="#nadc20244145385-fig-0001">Jahrhunderts hat die Behandlung von Krankheiten mit neu entwickelten Medikamenten die Medizin revolutioniert, die Lebenserwartung verlängert und Seuchen zurückgedrängt. Heute stehen mehr als 1900 Wirkstoffe für menschliche Patent:innen zur Verfügung. Obwohl sie teilweise verstoffwechselt werden, landen Teile der Ursprungssubstanz sowie Abbauprodukte meist im Urin und somit im Abwasser. Nicht genutzte Medikamente und Produktionsabfälle gelangen zusätzlich über die Müllentsorgung in die Umwelt.<figure xml:id="nadc20244145385-fig-0001"><figure><img alt="image" src="https://eu-central-1.graphassets.com/Aype6X9u2QGewIgZKbFflz/3cdgSPj7TixCd3UYCgyy"><figcaption><label>Abb.1: </label>Bild: Leigh Prather / Adobe Stock</figcaption></figure></figure>Im Abwasser lassen sich mit den analytischen Methoden, die unter anderem zur vorsorglichen Überwachung in der Coronavirus-Pandemie dienten – etwa LC-MS/MS –, etliche Wirkstoffe nachweisen. Neben Medikamenten finden sich illegale Drogen wie Kokain, was hilft, den Drogenkonsum in Städten oder bei Festivals zu ermitteln. Wenig ist hingegen darüber bekannt, welche Wirkstoffe in welchem Umfang nach der Abwasseraufbereitung mit dem geklärten Wasser – oder, schlimmer noch, mit ungeklärtem Wasser – in die Umwelt gelangen und welche Schäden sie dort anrichten.<h2 type="main">Wirkstoffe in Flüssen</h2>Die erste weltweite Untersuchung der Auswirkungen von Pharmawirkstoffen auf Ökosysteme in Flüssen erschien im Jahr 2022. John Wilkinson und Alejandra Bouzas-Monroy von der Universität York in England haben zusammen mit Kolleg:innen aus anderen Ländern nach 61 Pharmawirkstoffen gesucht, und zwar in Proben von 1052 Entnahmestellen an 258 Flüssen in 104 Staaten auf allen Kontinenten.1) Zu den nachgewiesenen Substanzen zählten etwa das Malariamedikament Artemisinin, Carbamazepin gegen Epilepsie, das Beruhigungsmittel Diazepam, das Schmerzmittel Paracetamol, das Antibiotikum Trimethoprim sowie die Alltagsdrogen Nikotin und Koffein.Den Ergebnissen zufolge gefährden an mehr als einem Viertel der untersuchten Entnahmestellen die Wirkstoffe die Gesundheit von Menschen, der Umwelt oder beidem. Diese Schlussfolgerung beruht auf vorläufigen Auswertungen, bei denen nachgewiesene Konzentrationen mit kritischen Umweltkonzentrationen und mit den beim Menschen als harmlos eingestuften Konzentrationen verglichen wurden. Nicht für alle Substanzen gibt es Vergleichswerte in der Literatur.In einer eingehenderen Auswertung der Daten verglichen Bouzas-Monroy und andere die Befunde mit ökotoxikologischen Kriterien.2) Wie sie dabei herausfanden, gefährdeten an 461 der 1052 Entnahmestellen (43,5 %) die Wirkstoffkonzentrationen dort ansässige Arten. Die bedenklichen Substanzen repräsentieren verschiedene Wirkstoffkategorien und wirken dementsprechend unterschiedlich auf Organismen: Das reicht von akuter Giftwirkung bis hin zu subtilen Verhaltensänderungen, was langfristig die Überlebensfähigkeit von Populationen und Arten infrage stellen kann. Die wenigen bisher ausgeführten Untersuchungen solcher Auswirkungen geben nur einen ersten Eindruck dessen, was passieren kann.<h2 type="main">Spezifische Schäden</h2>Antibiotika sind ein Sonderfall. Hier ist seit Jahren bekannt: Die Nutzung dort, wo sie nicht unbedingt nötig sind – etwa in der Landwirtschaft –, beflügelt die Verbreitung von Resistenzgenen in der Umwelt. Und neue Antibiotika zu entwickeln dauert zu lange, um mit den Resistenzen Schritt zu halten. Deshalb besteht die große und dringliche Gefahr, dass wir innerhalb weniger Jahrzehnte die gewohnte Schutzwirkung der Antibiotika verlieren und bakterielle Infektionen wieder ein ebenso großes Problem werden, wie sie es bis Anfang des 20. Jahrhunderts waren.3)<h2 type="main">Schmerzmittel und anderes</h2>Bei anderen Wirkstoffen gibt es nur gelegentlich einen Einblick, was sie in der Natur bewirken. Das auch bei Tieren als Entzündungshemmer verwendete Schmerzmittel Diclofenac ist ein Beispiel. Es diente in Indien zur Behandlung von Rindern. Da diese dort oft eines natürlichen Todes sterben und ihre Kadaver von Geiern entsorgt werden, erhielten die Geier toxische Dosen des Wirkstoffs. Mehrere Arten der Gattung Gyps waren nahezu ausgestorben, bevor das Medikament im Jahr 2005 verboten wurde. Weil die wenigen Geier ihrer Entsorgungsaufgabe nicht mehr flächendeckend nachkommen konnten, vermehrten sich unkontrolliert Aasfresser wie Ratten und Wildhunde. Unter diesen breitete sich die Tollwut aus, an der dann 500 000 Menschen starben. Mittlerweile ist Diclofenac ein Schulbeispiel dafür, wie sehr ein einzelner Wirkstoff der Gesundheit von Mensch und Umwelt schaden kann.Die Krise rund um die Wirkung von Neonicotinoiden auf Bienen und Hummeln ist ein Beispiel dafür, dass ein Wirkstoff nicht akut toxisch sein muss, um Schaden anzurichten. Selbst eine leichte Gedächtnisstörung kann die ökologische Funktion der bestäubenden Insekten zum Entgleisen bringen. Ähnlich subtile Effekte sind von psychoaktiven Substanzen zu erwarten, die nach menschlicher Nutzung in die Umwelt gelangen – von Kaffee bis Kokain.In geklärtem Wasser aus tschechischen Kläranlagen sind Methamphetaminreste nachweisbar. Ausgehend von dieser Beobachtung hat die Arbeitsgruppe von Pavel Horký an der Tschechischen Agraruniversität Prag untersucht, wie diese Droge auf die dort heimische Forelle (Salmo trutta) wirkt. Methamphetamin ist ein anregender Wirkstoff, der bei der Behandlung einer Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) zum Einsatz kommt, aber vor allem als Partydroge benutzt wird. Das Hydrochlorid ist das besonders leicht süchtig machende Crystal Meth. Die Forscher:innen untersuchten das Verhalten der Forelle bei Methamphetamin-Konzentrationen, wie sie in Flüssen stromab von Kläranlagen vorkommen: Die Fische hatten Anzeichen einer Sucht nach dem Wirkstoff.4)Die Forellen zeigten Entzugserscheinungen und strebten aktiv nach der Droge. Diese Verhaltensweisen sind in freier Natur problematisch, weil das Drogen-suchende Verhalten andere, lebenswichtige Prozesse beeinträchtigen kann. Darüber hinaus verleitet es die Forellen, zur Drogenquelle zurückzukehren, also zu den Einflüssen von Kläranlagen, wo sie dann weiteren Gefahrstoffen ausgesetzt sind.<h2 type="main">Ecstasy</h2>Eine andere Studie befasste sich mit dem Methamphetamin-Derivat MDMA (Ecstasy) und Tintenfischen. Die Abstammungslinien von Mollusken und Säugetieren trennten sich vor mehr als 500 Millionen Jahren. Tintenfische gelten zwar mittlerweile als ebenso intelligent wie viele Säugetiere, aber ihr Nervensystem ist völlig anders organisiert als das von Mäusen und Menschen.5) Deshalb waren Eric Edsinger und Gul Dolen überrascht, als sie bei Genomstudien am Kraken Octopus bimaculoides fanden, dass dieser denselben Ecstasy-Rezeptor herstellt wie wir. Mit einem Verhaltensexperiment demonstrieren die Autoren daraufhin: Auch der Tintenfisch wird mit Ecstasy seinen Artgenossen gegenüber aufgeschlossener als ohne.6)Anna Capaldo von der Universität Neapel hat in mehreren Studien beschrieben, wie Kokain auf Fische wirkt. Die Konzentrationen entsprechen dabei denen, wie sie in der Umwelt vorkommen. Besonders beschäftigte sich Capaldo mit dem europäischen Aal (Anguilla anguilla). Chronische Belastung des Wassers mit Kokain führt bei den Aalen zu etlichen anatomischen Veränderungen, etwa an ihren Kiemen, ihren Skelettmuskeln und im Fortpflanzungssystem. Diese Veränderungen könnten langfristig das Überleben der Art gefährden.7)<h2 type="main">Alternativen suchen</h2>Kokain ist eine der am schnellsten abhängig machenden Drogen, und der Kampf gegen diese Droge und ihre Verbreitung erweist sich seit Jahren als aussichtslos. Allerdings wird die Droge in der Natur rasch abgebaut – im Gegensatz zu vielen anderen Wirkstoffen.Tomas Brodin von der Schwedischen Landwirtschaftlichen Universität in Umeå und Kolleg:innen haben zu einem Umdenken in der Pharmaindustrie aufgerufen.8) Man müsse dringend weniger umweltgefährdende Wirkstoffe entwickeln, die bei gleicher Wirksamkeit weniger Schaden in der Umwelt anrichten.<ul class="references" cited="no" style="numbered" xml:id="nadc20244145385-bibl-0001"><li xml:id="nadc20244145385-bib-0001">1 J. L. Wilkinson, A. B. A. Boxall, D. W. Kolpin et al., Proc. Natl. Acad. Sci. USA 2022, 119, e2113947119</li><li xml:id="nadc20244145385-bib-0002">2 A. Bouzas-Monroy, J. L. Wilkinson, M. Melling, A. B. A. Boxall, Environ. Toxicol. Chem. 2022, 41, 2008</li><li xml:id="nadc20244145385-bib-0003">3 M. Groß, Nachr. Chem. 2022, 70(1), 62</li><li xml:id="nadc20244145385-bib-0004">4 P. Horký, R. Grabic, K. Grabicová, B. W. Brooks et al., J. Exp. Biol. 2021, 224, jeb242145</li><li xml:id="nadc20244145385-bib-0005">5 M. Groß, Nachr. Chem. 2015, 63, 1186</li><li xml:id="nadc20244145385-bib-0006">6 E. Edsinger, G. Dölen, Curr. Biol. 2018, 28, 3136</li><li xml:id="nadc20244145385-bib-0007">7 A. Capaldo, F. Gay, M. Lepretti, G. Paolella et al., Sci. Total Environ. 2018, 640 und 862</li><li xml:id="nadc20244145385-bib-0008">8 T. Brodin, M. G. Bertram, K. E. Arnold et al., Nat. Sustain. 2024, 7, 949</li></ul>

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