Ausgeforscht

Ausgeblättert

Gottesanbeterinnen, Insekten der Familie Mantidae, sehen ja hübsch aus, können aber gemeine Kannibalinnen und Betrügerinnen sein. Wenn sie sich paaren, dann ist bei manchen Arten der männliche Partner auch der Nachtisch. Das hat unter gewissen Umständen – wenn nämlich Nahrung und weitere Paarungsaussichten knapp sind – sogar einen Evolutionsvorteil für beide Seiten: Als Mahlzeit erhöht der werdende Vater seinen voraussichtlichen Fortpflanzungserfolg mehr, als wenn er weiter auf die Balz ginge.Eigentlich möchte der Herr Gottesanbeter aber eine Partnerin, die nicht so ausgehungert ist, dass sie diesen Meal-Deal nötig hat. Um Attraktivität und Gefährlichkeit einzuschätzen, verlässt er sich in der Natur auf ihr Aussehen, die Reaktionen konkurrierender Männchen und auf Pheromonsignale. Laura Knapwerth und Nathan Burke an der Universität Hamburg haben jetzt die Partnerwahl bei der südafrikanischen Art Miomantis caffra in Laborexperimenten so arrangiert, dass die Insekten nur per Pheromonen kommunizieren können. Die Gottesanbeter folgen einem Tunnel, der sich verzweigt, und die Nase entscheidet, wo es langgeht.1)Wie die Ergebnisse zeigen, wiesen die Pheromone keineswegs überwiegend den Weg zur attraktivsten, also bestgenährten Partnerin. Im Gegenteil fühlten sich in zwei Dritteln der Fälle die paarungswilligen Gottesanbeter zu der Gottesanbeterin hingezogen, die kontrolliert ausgehungert worden war, und gingen damit ein vierfach erhöhtes Risiko ein, verspeist zu werden.Die hungrigen Gottesanbeterinnen haben also mit ihren Pheromonen offenbar unlautere Werbung betrieben und sich attraktiver dargestellt, als sie wirklich waren. Diesen Betrug erleichtert, dass die von dieser Art genutzten Pheromone einfache Aldehyde sind – also leicht und billig herzustellen, selbst wenn die Senderin des Signals gerade nicht wohlgenährt ist. Viele andere Signale der Partnerqualität, etwa aufwendiger Federschmuck bei Vögeln, sind schwieriger herzustellen.Fake News verbreitet die Natur auch auf anderen Kanälen. Dabei geht es normalerweise nicht kannibalistisch zu, aber oft auch um Leben und Tod. Bei der von Henry Walter Bates (1825 – 1892) beschriebenen und nach ihm benannten Mimikry zum Beispiel. Dabei ahmt ein harmloses Beutetier die Warnsignale einer giftigen (oder anderweitig gefährlichen) Art nach. Für dieses Phänomen gibt es etliche Beispiele der visuellen Täuschung; es existiert, für uns unsichtbar und unhörbar, auch im Ultraschall. Die Jagdmethoden der Fledermäuse haben zu Ultraschall-Produktion bei vielen Nachtfalterarten geführt. Wie erst vor kurzem eine systematische Untersuchung ergab, funken 20 Prozent dieser Insektenarten auf Fledermaus-Signale zurück, entweder als Warnung oder um die Navigation der Jäger zu stören.2)Und diese Signale finden wiederum Nachahmer, die sich womöglich nach der Bates-Methode Schutz davon versprechen, eine giftige oder ungenießbare Art zu kopieren. Zu diesen Trittbrettfahrern gehören seit neuestem sogar harmlose Mitglieder aus der Familie der Tiger- oder Sandlaufkäfer, die das Warnsignal giftiger Nachtfalter imitieren.3)Ob Natur, ob Internet – jede technische Neuerung dient sofort für Betrügereien und zur Verbreitung von Fake <link href="#nadc20254153248-fig-0001">News.<figure xml:id="nadc20254153248-fig-0001"><figure><img alt="image" src="https://eu-central-1.graphassets.com/Aype6X9u2QGewIgZKbFflz/cmhcyvrqy6te606umya4q752i"><figcaption><label>Abb.1: </label>In der medial aufgeheizten Celebrity-Scheidungsschlacht wird die chemische Keule ausgepackt. Cartoon: Roland Wengenmayr</figcaption></figure></figure>Michael Gross<a href="https://www.michaelgross.co.uk" target="_blank">www.michaelgross.co.uk</a><ul class="references" cited="no" style="numbered" xml:id="nadc20254153248-bibl-0001"><li xml:id="nadc20254153248-bib-0001">1 L. Knapwerth, N. W. Burke, Funct. Ecol. 2025, doi: 10.1111/1365–2435.70115</li><li xml:id="nadc20254153248-bib-0002">2 J. R. Barber, D. Plotkin, J. J. Rubin et al., Proc. Nat. Acad. Sci. 2022,119, e2117485119, doi: 10.1073/pnas.2117485119</li><li xml:id="nadc20254153248-bib-0003">3 H. M. Gough, J. J. Rubin, A. Y. Kawahara et al., Biol. Lett. 2024, doi: 10.1098/rsbl.2023.0610</li></ul>

Artikel

Chemischer Kannibalismus

Angelehnt an Mussorgskis Musikstück Bilder einer Ausstellung (Pictures at an exhibition) erschien 1998 ein Buch von John Emsley mit dem Originaltitel Molecules at an exhibition. Vielleicht würde Moleküle einer Ausstellung im Deutschen nicht so gut funktionieren, also wählte der Verlag Wiley-VCH für die Übersetzung, die in der Reihe „Erlebnis Wissenschaft“ erschien, den deutschen Titel Sonne, Sex und Schokolade. Darüber meckerte ich damals in einer Rezension des Buchs.Die Strafe kam im Jahr 2012: Aus meinem Arbeitstitel Grüße aus dem Nanokosmos machte derselbe Verlag Von Geckos, Garn und Goldwasser. Das lag durchaus im Trend bei der Reihe. Im Programm der Jahre 2010/11 finden sich auch die systematisch alliterierten Emsley-Titel: Parfum, Portwein, PVC; Fritten, Fett und Faltencreme; Liebe, Licht und Lippenstift sowie Leben, lieben, liften. In demselben Prospekt gibt es von anderen Autor:innen noch Kaffee, Käse, Karies …; Tabletten, Tropfen und Tinkturen; Fußball, Fashion, Flachbildschirme. Wir könnten jetzt ein Quiz veranstalten: Wer kann erraten, worum es in diesen Büchern wirklich geht? Meistens hat es nicht viel mit den drei alliterierten Wörtern zu tun. Nur gelegentlich gibt es eine Titel-Dreifaltigkeit, die inhaltlich sinnvoll und nicht alliteriert ist, etwa Chemische Experimente in Schlössern, Klöstern und Museen.Diese Sachbuchreihe ist seit 2016 leider ausgestorben. Aber nach neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen liegt das nicht an den dreiteiligen Titeln, die mir oft auf die Nerven gingen. Denn Publikationen mit einer Dreifaltigkeit von Begriffen im Titel werden deutlich öfter zitiert als die ohne.1) Das gilt sowohl in Lebenswissenschaften und Medizin als auch in den Wirtschaftswissenschaften. Und herausgefunden haben das Lutz Bornmann und Klaus Wohlrabe unter der vorbildlichen Überschrift Pattern, perception and performance.Die Studie hat wissenschaftliche Relevanz, denn sie zeigt: Die Zahl der Zitierungen, die oft als Maßstab der wissenschaftlichen Qualität dient, wird offenbar von einem Faktor beeinflusst, der nicht mit der Qualität zusammenhängt. Die sprachlich interessierten Leser:innen bleiben aber in ihrer Neugier unbefriedigt: Die Autoren haben nicht untersucht, ob alliterierte Tripel besser wirken als gemischte. Und überraschenderweise kommt das Wort Alliteration in ihrer Arbeit gar nicht vor, obwohl sie selbst eine als Titel nutzen.Schwieriger zu analysieren ist Humor in Publikationstiteln. In einer Studie wurden 2439 Artikel in den Forschungsgebieten Ökologie und Evolution auf einer Skala nach der Lustigkeit des Titels bewertet.2) Wie sich zunächst zeigte, hatten die lustigeren Titel weniger Zitierungen. Da sie jedoch auch weniger von ihren eigenen Autoren zitiert werden, schlossen Stephen Heard et al. hieraus, dass die Forschenden lustige Titel gerne für Artikel wählten, die sie selbst nicht für besonders wichtig hielten.Wenn der Erfolg der Publikationen als Quotient aus Gesamtzitierungen/Eigenzitierungen ermittelt wird, erweisen sich die lustigen Titel plötzlich als förderlich. Kein Witz, aber vielleicht eine angreifbare Vorgehensweise – schließlich wird hier ein Ergebnis durch die Normierung auf Eigenzitate so manipuliert, dass es zu den Erwartungen passt.Egal ob dreigeteilt oder witzig, einprägsam sollte ein Titel auf jeden Fall sein. Mein Allzeitfavorit bleibt der News&amp;Views-Beitrag3) von Jared Diamond, der auch meine Reaktion auf einige der oben genannten Titel <link href="#nadc20254153247-fig-0001">spiegelt: Aaaargh No!<figure xml:id="nadc20254153247-fig-0001"><figure><img alt="image" src="https://eu-central-1.graphassets.com/Aype6X9u2QGewIgZKbFflz/cmewbg4oqhisi08uou6441c5i"><figcaption><label>Abb.1: </label>„Sein Verlag will sein neues Sachbuch über Naturkautschuk unter dem Titel ,Latex, Lust &amp; Laster‘ vermarkten, hat er eben erfahren …“ Cartoon: Roland Wengenmayr</figcaption></figure></figure>Michael Groß<a href="https://www.michaelgross.co.uk" target="_blank">www.michaelgross.co.uk</a><ul class="references" cited="no" style="numbered" xml:id="nadc20254153247-bibl-0001"><li xml:id="nadc20254153247-bib-0001">1 L. Bornmann, K. Wohlrabe, FACETS 2023, doi: 10.1139/facets-2022–0079</li><li xml:id="nadc20254153247-bib-0002">2 J. Diamond, Nature 1997, 385, 295–296</li></ul>

Titel, Thesen, Tintenkleckse

Bei der geschlechtlichen Fortpflanzung ist das Timing enorm wichtig. Man denke etwa an die Spinnen diverser Witwenarten, die ihren Partner nach der Begattung verspeisen. Würden sie zu früh anbeißen, gäbe es keine Nachkommen. Andere Tierarten sind nur zu bestimmten Zeiten fruchtbar und signalisieren das bereitwillig, während Homo sapiens diese Information gezielt geheim hält, um den potenziellen Erzeuger bei der Stange zu halten. Und trifft ein Nachtmensch auf einen Morgenmenschen, kann das zu Schwierigkeiten führen.Soweit ist das alles einleuchtend und bekannt. Erst jetzt allerdings fanden Forscher:innen heraus: Nicht nur die Zeit beeinflusst die Zeugung, sondern auch umgekehrt kann die Zeugung die Zeit manipulieren. Manche Insekten-Herren drehen einfach schamlos an der Uhr der Sexualpartnerin. Und da die innere Uhr auf chemischen Kreisläufen beruht, wird diese natürlich chemisch verstellt und nicht physikalisch.Die Arbeitsgruppe von Andrew Clark an der Cornell-Universität untersuchte die Genaktivität postkoitaler Weibchen der als gängigstes Laborinsekt bereits umfassend untersuchten Fruchtfliege Drosophila melanogaster. Wie bereits bekannt war, verhalten sich die begatteten Fliegen anders: Unter anderem schlafen sie weniger, essen mehr und zeigen weniger Interesse an weiteren Sexualkontakten. Das ist logisch und wird vermutlich von einem Peptid in der Samenflüssigkeit ausgelöst. Damit allen gleich klar ist, was Sache ist, hat es den Namen Sex-Peptid erhalten.Clarks Team analysierte das Transkriptom, also die Gesamtheit der Boten-RNA-Transkripte von Genen, von Fliegen zu zehn verschiedenen Zeitpunkten innerhalb von 24 Stunden nach der Begattung und Übertragung des Sex-Peptids. Demnach ist die erste Reaktion in den ersten vier postkoitalen Stunden vom Sex-Peptid unabhängig. Selbst mit einem kleinen Fliegengedächtnis kann sich Frau Drosophila noch einige Stunden lang an die Paarung erinnern. Danach ist für die bleibende Verhaltensanpassung allerdings das Sex-Peptid erforderlich.Den Ergebnissen der Experimente zufolge ändern sich durch das Peptid mehrere Verhaltensweisen zentral über die Regulierung der zirkadianen Rhythmen, es manipuliert also die innere Uhr. Steht die Uhr zum Beispiel kürzer als normal auf Schlafens- und dafür länger auf Frühstückszeit, schläft die Fliege weniger und frisst mehr.Egoistische Gemeinheiten jeder Art sind in der Tierwelt beliebt, wenn es darum geht, die eigenen Fortpflanzungschancen auf Kosten der Konkurrenten und notfalls auf Kosten des anderen Elternteils zu verbessern – aber der Trick mit der Uhr kam dann doch überraschend.Zeitliche Koordination ist schon vor der <link href="#nadc20234134954-fig-0001">Paarung wichtig, wenn die Fliegen mit ihren Flügeln den Balzgesang anstimmen. Dieser hat bei jeder Art einen anderen Rhythmus. Auf diese Weise stellen die Insekten sicher, dass sie sich nur mit Artgenoss:innen paaren. Takuro Ohashi von der Nagoya-Universität in Japan und Kolleg:innen untersuchten, wie diese Unterscheidung bei den Drosophila-Arten D. melanogaster und D. simulans abläuft. Sie wiesen im Gehirn die artspezifischen Nervenbahnen nach, die nur ansprechen, wenn der potenzielle Partner im richtigen Rhythmus vibriert. Das kennen wir ja irgendwie auch von Homo sapiens, allerdings nicht zur Art-Abgrenzung, sondern zur Unterscheidung zwischen cool und uncool. Durch diesen Test muss ein Drosophila-Mann halt durch, bevor er sein Sex-Peptid absondern darf.<figure xml:id="nadc20234134954-fig-0001"><figure><img alt="image" src="https://eu-central-1.graphassets.com/Aype6X9u2QGewIgZKbFflz/lXmF0V4LRwWYehPg1mh6"><figcaption><label>Abb.1: </label>… darf ich heute an Deiner Uhr drehen? Cartoon: Roland Wengenmayr</figcaption></figure></figure>Michael Groß<a href="https://www.michaelgross.co.uk" target="_blank">www.michaelgross.co.uk</a><ul class="references" cited="no" xml:id="nadc20234134954-bibl-0001" style="numbered"><li xml:id="nadc20234134954-bib-0001">1 S. Y. N. Delbare, S. Venkatraman, K. Scuderi et al., Proc. Natl. Acad. Sci. USA 2023, 120, e22148831</li><li xml:id="nadc20234134954-bib-0002">2 T. S. Ohashi, Y. Ishikawa, T. Awasaki et al., Sci. Rep. 2023, 13, 383</li></ul>

Wer hat an der Uhr gedreht?

Im vorigen Heft haben wir gelernt, dass Gegrilltes etwas weniger ungesund ist, wenn wir es in Bier marinieren, und viele Barbecue-Fans werden sicher auch ein solches dazu trinken, wenn die Marinade ihren Dienst getan hat. Aber welches Bier ist das Richtige? Und was zählt eigentlich heutzutage als Bier?Das berühmte Reinheitsgebot, das vor kurzem seinen 500. Geburtstag feierte, gibt nur die allergröbsten Anweisungen. Herzog Wilhelm IV. von Bayern dekretierte anno 1516: „Wir wöllen auch sonderlichen / das füran allenthalben in unsern Stetten / Märckthen / unnd auf dem Lannde / zu kainem Pier / merer Stückh / dann allain Gersten / Hopffen / und Wasser / genommen und gepraucht sölle werden.“ Ob dies nun das erste Verbraucherschutzgesetz war und viele Generationen von Biertrinkern vor Zucker, Salz oder künstlichen Aromen in ihrem Getränk schützte oder ob es heute eher der Verbrauchertäuschung dient, wie der Spiegel zum runden Jubiläum anklingen ließ – das ist ein Thema, das sich am Biertisch trefflich diskutieren lässt.Wilhelm IV. wollte vermutlich nur erreichen, dass der Weizen den Bäckern zum Brotbacken vorbehalten blieb. Und von Hefe wusste er noch gar nichts – doch ohne die gibt’s kein Bier. Ausnahmen von der Regel reicherten sich über die fünf Jahrhunderte an, sodass die Gesetzeslage heute sehr viel unübersichtlicher ist, als die knappe Formulierung des Urtexts vermuten lässt. Und der Begriff „Reinheitsgebot“ kam sowieso erst ab 1918 in Umlauf – eine geschickte Prägung des bayrischen Landtagsabgeordneten Hans Rauch, kurz bevor der Schaumwein aus der Champagne – im Versailler Vertrag – zu seiner geschützten Herkunftsbezeichnung kam. Meilensteine in der Geschichte kohlensäurehaltiger Getränke.Nach EU-Richtlinien dürfen dem Bier in Rest-Europa rund ein Dutzend E-Nummern hinzugefügt werden, und dieses Bier darf auch in deutschen Kneipen gezapft werden. Wer allerdings hierzulande braut, darf diese nicht verwenden. Verunreinigungen, die dennoch im Bier landen, sind meist unbeabsichtigt: etwa das Pflanzenschutzmittel Glyphosat oder auch Rückstände von Kunststoffpartikeln, die zur Schönung eingesetzt werden dürfen. Sie sollten theoretisch alle herausgefiltert werden, deshalb stehen sie nicht auf dem Etikett.Ob das Reinheitsgebot noch ein halbes Jahrtausend überleben wird, ist eher unsicher. Der Ansturm der ursprünglich in den USA zur Mode gewordenen „craft“-Biere aus handwerklich orientierten Kleinbrauereien ist anscheinend unaufhaltsam und definiert den Begriff Bier 500 Jahre nach dem Reinheitsgebot wieder neu.Der Aufstand der Craftbrauer richtet sich gegen die Vereinheitlichung der Massenware Bier, die nach dem Verlust traditioneller lokaler Brauereien eintrat. Wenige Großbrauereien, von denen einige zu noch größeren internationalen Konzernen gehören, hatten die Bierversorgung unter sich aufgeteilt. Aber jetzt sprießen Kleinbrauereien mit exotischen Namen überall aus dem Boden. Europaweit soll es schon mehr als 5000 solcher Kleinbetriebe geben.Sie alle setzen auf Individualität, darauf, dass ihr Produkt eben nicht so schmeckt wie das Bier, das es in jedem Supermarkt gibt. Drehen können sie vor allem an der Qualität und Menge des eingesetzten Hopfens: Wo die Großbrauereien nach der Devise „bitter und billig“ einkaufen, legen die Craftbrauer Wert auf Herkunft und Varianten, fast wie beim Wein. Es soll sogar schon eine Ausbildung zum Bier-Sommelier geben.Wenn der Trend anhält und die Nachfrage nach verschieden schmeckenden Bieren sich verstärkt, könnte dies auch den Gegnern des Reinheitsgebots helfen, und es werden vielleicht doch noch mehr Zutaten zugelassen.Das alles hilft mir als Verbraucher und Gelegenheitsbiertrinker allerdings nicht bei der schwierigen Kaufentscheidung – mehr Vielfalt bringt auch mehr Kopfzerbrechen und zusätzliche Möglichkeiten, sich falsch zu entscheiden. Im englischen Pub nehme ich im Zweifelsfall die einzige Pils-Sorte, damit ich nicht zwischen zehn Sorten Ale mit nichtssagenden Fantasienamen wählen muss. Im Land des Reinheitsgebots bleibt mir immer noch die Option des Lokalpatriotismus – in meiner Geburtsstadt Kirn steht eine der wenigen überlebenden mittelständischen Brauereien.Michael Groß<a href="https://www.michaelgross.co.uk" target="_blank">www.michaelgross.co.uk</a><figure><img src="https://eu-central-1.graphassets.com/Aype6X9u2QGewIgZKbFflz/8xPC18FTrONBZJzMBAp7"><figcaption><label>Abb. 1: </label>„Seit ich meinen Rasen regelmäßig mit einem Fass Knallerbräu sprenge, ist das Unkraut weg – und ich hab‘ immer Frischgezapftes dabei, Prost!“</figcaption></figure>

Bier – neu definiert

Eine Schwalbe macht noch keinen Sommer, aber wenn aus den Gärten der Nachbarn der Duft von Grillanzündern und verkohlten Würstchen herüberzieht, kann die warme Jahreszeit nicht mehr weit entfernt sein.Das Grillgut meiner Kindheit wurde meist mit der Tiegelzange aus dem Labor gewendet und das Feuer mit Ethanol aus der PE-Spritzflasche angefacht. Deshalb war mir von vornherein bewusst: Grillen ist lediglich ein Ableger der Chemie, bei dem die Holzkohle den Bunsenbrenner ersetzt und das Reaktionsprodukt verspeist werden kann, sofern es noch nicht völlig verkohlt ist. Grillen ist die Fortsetzung der Chemie mit anderen Mitteln, wie Herr von Clausewitz beinahe gesagt hätte.Da anderen womöglich die Bedeutung der Chemie für das Leben im Allgemeinen und ganz besonders für das Grillen noch nicht so ganz bewusst ist, helfen chemische Gesellschaften gerne der Allgemeinbildung nach. Zur vergangenen Grillsaison veröffentlichte die American Chemical Society ein Video über die Chemie des Grillens und schlug gleichzeitig mit einer Infografik in ihrer Zeitschrift Chemical &amp; Engineering News zu.Das rauchige Geschmackserlebnis, welches das Grillfleisch von der banal in der Pfanne gebrutzelten Konkurrenz abhebt, so erfahren wir, geht auf phenolische Komponenten zurück, die beim Verbrennen der Holzkohle entstehen. Dazu gehören Syringol (2,6-Dimethoxyphenol), das vor allem den Geruch prägt, und Guajacol (2-Methoxyphenol) für den Geschmack. Dass wir diesen Geschmack ganz besonders goutieren, lässt sich vermutlich evolutionsbiologisch erklären: Nachdem unsere Vorfahren von den Bäumen geklettert waren und gelernt hatten, Feuer zu machen, ermöglichte ihnen das Grillen, zusätzliche Proteinkomponenten zu verwerten, was für das energiehungrige Gehirn des immer weiser werdenden Homo sapiens wichtig war.Geschmacksbildend beim Grillen – ebenso wie bei jeder anderen Nahrungszubereitung bei hohen Temperaturen – ist natürlich auch die Maillard-Reaktion, die auf vielfältigen Wegen Zucker und Aminosäuren zu einem breiten Spektrum komplexer Geschmacksstoffe umsetzt.Das ACS-Video belehrt uns außerdem noch darüber, dass die rote Farbe des Steaks von dem sauerstoffbindenden Muskelfarbstoff Myoglobin ausgeht – aber wenn Sie diese Zeitschrift bis zum bitteren Ende lesen oder zumindest durchblättern, wussten Sie das vermutlich schon lange. Auch wenn die volkstümlich-unwissenschaftliche Ausdrucksweise „das Fleisch ist noch blutig“ partout nicht auszurotten ist. Blut enthält zwar Hämoglobin, ein nahe verwandtes Pigment, aber es würde selbstverständlich beim Kontakt mit Luft gerinnen.Risiken und Nebenwirkungen müssen natürlich auch zur Sprache kommen. Fett, das aus dem Grillfleisch auf die glühenden Kohlen tropft, kann polyaromatische Kohlenwasserstoffe bilden, die dann wieder verdampfen und vom Fleisch möglicherweise resorbiert werden. Unter diesen Substanzen gibt es auch krebserregende, die der Grillerei in gesundheitsbewussten Kreisen einen schlechten Ruf eingebracht haben.Heterocyclische Amine können ebenfalls Krebs erregen. Diese Substanzklasse entsteht vor allem dann, wenn man beim Grillen nicht aufpasst und das Essen verkohlen lässt. Erhöhte Wachsamkeit wäre hilfreich, würde aber dem ganzen Geist der entspannten Sommer-, Feierabend- oder Wochenendstimmung zuwiderlaufen.Erstaunlich wirksam gegen die Brutzel-Amine ist aber auch, wenn man das Grillgut vor der Feuertaufe mariniert – gerne auch in bier- oder weinhaltigen Tunken. Welche Mechanismen hier am Werke sind, hat die Grill-Chemie noch nicht endgültig geklärt. Vielleicht liegt es nur daran, dass das Feuchthalten die Ware vor Überhitzung schützt. Vielleicht verbergen sich hier auch interessantere Vorgänge, die mit den magischen Fähigkeiten von Bier und Wein zusammenhängen.Mit der wichtigen Frage, mit welchem Bier wir unsere Grilladen befeuchten sollten, befassen wir uns im nächsten Heft.Michael Groß<a href="https://www.michaelgross.co.uk" target="_blank">www.michaelgross.co.uk</a><figure><img src="https://eu-central-1.graphassets.com/Aype6X9u2QGewIgZKbFflz/BljydusROCmGHDA4Jp4l"><figcaption><label>Abb. 1: </label>„… kommt mein Spezialmix aus im Eichenfass gereiften Whiskey und Motoröl aus meiner Harley, da zergehen dir die Ringe mit den konjugierten Doppelbindungen auf der Chemikerzunge …“ <named-content>Cartoon: Roland Wengenmayr, Frankfurt</named-content></figcaption></figure>

Jetzt wird‘s brenzlig

Sollten Sie bei einem Flohmarktbesuch etwas wie einen Rundhalskolben oder eine Tiegelzange finden, so schließen Sie aus der Form des Geräts auf seine Funktion. Archäologen machen das routinemäßig. Ein ovales, fest verankertes Steinbecken ohne Abfluss? Na klar, darin haben die ersten Landwirte ihre Körner gemahlen.
Auch den komplexeren Gerätschaften aus den Jugendjahren der modernen Wissenschaft ist meistens noch anzusehen, wozu sie gut sind: Linsen, um hindurch zu schauen, Spulen für Magnetfelder, Hebel und Zahnräder, um Bewegungen zu übertragen und zu verstärken sowie Kupferkabel für elektrische Verbindungen. Selbst in komplizierten Mechanismen wie Uhren kann man genau verfolgen, wie alles funktioniert. Sogar einen hoch komplizierten Mechanismus aus dem ersten vorchristlichen Jahrhundert hat die Wissenschaft inzwischen enträtselt: Die 82 korrodierten und verklumpten Fragmente, die vor der griechischen Insel Antikythera im Meer gefunden worden waren, gehörten zu einem astronomischen Modell.
Zu Bedauern sind hingegen die Archäologinnen, die nach der Apokalypse und dem Totalverlust unserer elektronisch gespeicherten Daten in einigen Jahrhunderten versuchen werden, die Überreste unserer Zivilisation zu verstehen. Die wichtigsten Werkzeuge scheinen Plastikkästen mit durchsichtigen Scheiben gewesen zu sein; aber wie diese funktionierten, werden die postapokalyptischen Forscher ohne Elektronenmikroskop kaum herausfinden.
Ausgrabungen am Standort des Large Hadron Collider bei Genf dürften künftige Erben Heinrich Schliemanns völlig zur Verzweiflung treiben. War dies eine unterirdische Stadt? Eine hochentwickelte Energiequelle? Diente es der Kommunikation mit Lebewesen von anderen Sternen? Oder war es nur rausgeschmissenes Geld zu Ehren eines unbekannten Gottes?
Vor ähnlichen Rätseln stand auch das Kollegium des Augsburger Holbein-Gymnasiums, als dort ein wissenschaftliches Instrument unbekannter Funktion zu Tage trat. Das mysteriöse Kombigerät (Foto) hat mechanische, optische und elektromagnetische Komponenten: Es weist zwei Wasserwaagen, einen Winkelkranz, ein Objektiv, ein Pendel, zwei Spulen und einen Stromanschluss auf. Es ähnelt etwas dem Magnetometer, das der Mathematiker und Landvermesser Carl Friedrich Gauß im Jahr 1832 erfunden hatte. Der Name des Erbauers ist eingraviert, er hieß Johann Michael Ekling und wirkte um 1900 in Wien, wo er unter anderem Telegrafen baute.
Niemand konnte bisher die Funktion des Instruments erklären, und deshalb schrieb die Schule zusammen mit der Deutschen Akademie der Technikwissenschaften einen Wettbewerb aus. Wer die nach Meinung von Experten vom Deutschen Museum in München vernünftigste Erklärung bis zum 31. Dezember einreicht, bekommt 1000 Euro.1
Ich tippe darauf, dass da jemand die Neigung des Erdmagnetfelds gegenüber der Horizontalen und die Lage der magnetischen Pole ganz genau wissen wollte und das Gerät für diesen Zweck als Einzelstück bauen ließ. Vielleicht wollte der Erfinder sogar eine frühzeitige Energiewende vollführen und aus dem Erdmagnetismus Strom abzapfen? Aber wenn es so einfach wäre, dann wäre schon jemand drauf gekommen und es gäbe es jetzt kein Preisrätsel.
Vielleicht ist es auch ein Fehler, sich vom heutigen wissenschaftlichen Weltbild leiten zu lassen und nach rational erscheinenden Lösungen zu suchen — vielleicht wollte der Auftraggeber mit den Geistern seiner Vorfahren telefonieren oder mit den kleinen grünen Männchen auf dem Mars? Vielleicht wollte er das Gerät auch nur zum Angeben in seinem Salon zur Schau stellen, um sagen zu können:“So ein Instrument haben Sie bestimmt noch nie gesehen, mein lieber Kollege!” — und dann einen endlosen Vortrag über ein frei erfundenes Wissensgebiet zu halten. Die Möglichkeiten sind grenzenlos, also machen Sie mit!
Michael Groß
<ext-link ext-link-type="uri"><a href="https://www.michaelgross.co.uk" target="_blank">www.michaelgross.co.uk</a></ext-link>



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