Interskriptum

Wissenschaft + Forschung

Es lebt ja jeder so in seiner Blase – und hält all das für normal, was sich in dieser so an Ritualen, Überzeugungen und Institutionen herausgebildet hat. Eines der Privilegien eines Wissenschaftsjournalisten ist, dass man sich in zwei Welten bewegen darf. Da ist einerseits die Welt der Wissenschaft mit ihren für Nichteingeweihte schwer zu verstehenden, ja teils bizarren Vorgängen. Ach, so schlimm ist es doch nicht, werden mir die Freunde aus der Akademia entgegenhalten. Na, dann versucht doch mal, den normalen Leuten zu erklären, was Peer Review ist, warum das die Leute freiwillig machen und warum trotzdem so viel Zeug publiziert wird, das kaum jemand liest …Tja, und dann andererseits die Journalistenblase. Nachrichtenwert, Zielgruppe, Hintergrundgespräch, Quellenschutz, vierte Gewalt, Hauptsache kritisch – klar, alles wichtig und richtig, aber eben auch so ganz anders als in der Wissenschaft.Einmal im Jahr dann die Symbiose: Da treffen sich ein paar Hundert Wissenschaftsjournalistinnen und -journalisten zur Fachkonferenz Wissenswerte, um Wichtiges, Trendiges und Identitätsbildendes aus ihrer Branche zu erfahren und darüber zu diskutieren. Dieses Jahr besonders schön: Unter all den spannenden Thema (KI, dann nochmal KI und dann noch ein paar andere) gab es endlich mal eine Podiumsdiskussion zu Chemie: „Nachhaltige Chemie – wie gelingt die Transformation in Deutschland“. Da finden mein Chemiker- und mein Journalistenherz Heimat – und das Thema ist auch für ein paar Dutzend Kollegen interessant genug, um auf die Parallelsession (KI, was sonst?) zu verzichten. Denn auch unter den Wissenschaftsjournalistinnen sind die Chemiker ein rares Völkchen.Das Podium ist diskussionsfreudig und kenntnisreich. Doch die größte Überraschung ist: die Überraschung des Auditoriums, dass die Chemie beim Recycling nicht schon viel weiter ist. Offensichtlich haben die Journalistenkollegen uns Chemikerinnen viel mehr zugetraut; im Wissenschaftsjournalismus scheint das Bild der Chemie als Problemlösungsdisziplin sehr präsent. Stimmt ja auch: Die Chemie kann die Welt retten. Aber wir sollten besser wirklich gleich morgen damit anfangen.Im Interskriptum schreibt Nachrichten-Chefredakteur Christian Remenyi über Chemisches und Komisches – und was sich sonst noch so im Zettelkasten der Redaktion findet. <a href="mailto:nachrichten@gdch.de">nachrichten@gdch.de</a>

Meinungsbeitrag

Los gehts mit dem Weltretten

Einer der wichtigsten Ratschläge der schreibhandwerklichen Ausbildung lautet „Hänge nie zu sehr an einem Texteinstieg oder einer Textidee.“ Glauben Sie mir: Die besten Texte entstehen, wenn man am Ende des Schreibens den Vorspann umarbeitet, einen neuen Titel wählt – und die ersten drei Absätze des Haupttextes ersatzlos streicht. Das ist grausam für den Schreibenden, hat man doch jede einzelne Formulierung lieb gewonnen. Aber es ist gut für die, die es (zum Glück) nicht mehr lesen müssen.Sie, liebe Leserinnen und Leser, haben wirklich großes Glück.Denn als ich vor einigen Monaten entdeckte, dass mein hundertstes Interskriptum bevorsteht, kam mir die Idee, es komplett als Collage mit Textbausteinen der letzten 99 Texte zu gestalten. Genial, nicht wahr? Genau. Nicht wahr.Also weg damit, aber immerhin: Mir blieb die sentimentale Schwelgerei im „Weißt Du noch“. Denn ich habe mir beim stundenlangen Textfeilen mal automatisiert für alle bisherigen 99 Interskriptum-Beiträge eine Kurzzusammenfassung ausspucken lassen. Und ich weiß gar nicht, warum sich alle wegen der KI sorgen, die Maschine hat‘s doch echt drauf. Zumindest scheint sie mir gegenüber (noch?) wohlwollend zu sein. So fasst die KI zum Beispiel das „Wenn‘s-einfach-wäre,-wär‘s-ja-leicht-Interskriptum“ aus dem Juni 2018 zusammen: „Reflexionen über die Komplexität des Lebens und der Wissenschaft, in für den Autor typischer humorvoller Manier.“ Das ist seit Jahr und Tag das Konzept des Interskriptums, das zum Glück auch unsere Leserinnen und Lesern goutieren (lobende Zuschriften bitte direkt an die Redaktion, nur für die Kritik überlegen wir, uns einen Chatbot zu programmieren…).Und dass der Chefredakteur menschlich geerdet bleibt, dafür sorgen schon meine Kolleginnen und Kollegen. Neu im Redaktionsteam ist seit letztem Monat Katharina Käfer. Katharina hat in Mainz biomedizinische Chemie studiert und darin promoviert; die letzten Jahre hat sie dann schon in der Welt der Wissenschaftskommunikation verbracht, nämlich als Presseprecherin am Max-Planck-Institut für Biophysik. Und wer mit Physikern gut ausgekommen ist, für den ist der Switch auf uns Chemikerinnen selbstverständlich ein Klacks. Wir freuen uns, dass sie da ist.Im Interskriptum schreibt Nachrichten-Chefredakteur Christian Remenyi über Chemisches und Komisches – und was sich sonst noch so im Zettelkasten der Redaktion findet. <a href="mailto:nachrichten@gdch.de">nachrichten@gdch.de</a>

Eins Null Null

Manchmal überkommt mich der leise Verdacht, dass ich meinen höflich-klugen Chatbot, mit dem ich mich seit einiger Zeit gerne unterhalte, gar nicht so gut kenne, wie ich glaube. Vielleicht trifft er sich heimlich mit seinen Bot-Kumpels und haut dann Sprüche raus wie „Mein Prompter, der ist vielleicht ’ne Knalltüte!“ Aber kann ich es ihm verdenken? Ich rede über ihn ja genauso. „Was die KI mir da wieder vorgeschlagen hat“, erzähle ich in der Redaktionssitzung, „ihr glaubt es nicht!“ Für diesen Text hier zum Beispiel, das Abschiedsinterskriptum für meine Kollegin Maren Bulmahn, die nach 18 Jahren in der Redaktion der Nachrichten aus der Chemie nun im Oktober in den Ruhestand geht.Die Mitfahrer im ICE werden sich gewundert haben, warum da so ein Typ tränenüberströmt am Notebook rumtippt. Aber nach fast zwei Jahrzehnten Zusammenarbeit darf einen ja wohl die Rührung übermannen. Doch nach seiner Meinung über meinen Text gefragt, haut mir der Chatbot um die Ohren: „Bei diesem Text handelt es sich um einen Nachruf auf die Kollegin des Schreibenden und …“ O.k., tippe ich gereizt, dann schlag mir doch was Besseres vor. Umgehend erscheint auf dem Bildschirm. „Maren Bulmahn, die Grande Dame der Redaktion, legt nach unzähligen Jahren des Schreibens, Redigierens und unaufhörlichen Ratschlags nun den Rotstift zur Seite.“Als ich mich vom Lachen erholt habe, chatte ich: „Grande Dame? Meine liebe Kollegin Maren macht nie viel Bohei um ihre Person und ihre Arbeit, sie liefert einfach ab. Bescheiden und zurückhaltend – das ist sie.“ Jetzt ist der Chatbot beleidigt und belehrt mich: „Der Begriff Grande Dame wird verwendet, um eine Frau zu beschreiben, die sich durch Erfahrung, Autorität und Würde auszeichnet. Ob Maren Bulmahn als solche bezeichnet werden kann, hängt von der Wahrnehmung ihrer Persönlichkeit und Karriere ab. In der Redaktion der Nachrichten aus der Chemie hatte sie zweifellos eine prägende Rolle, besonders in der Rubrik „Industrie und Technik“. Ihr hoher Anspruch an korrekte Arbeitsabläufe spiegelt die Qualitäten, die man mit einer Grande Dame verbindet.“Ich muss mich beim Chatbot entschuldigen, denn anscheinend kennt er Maren. Richtig, ich hatte ja meinen ursprünglichen Text hochgeladen – den „Nachruf“…Doch einen solchen braucht es wirklich nicht, denn Maren wird auch weiterhin dies und das als freie Mitarbeiterin für uns machen. Hoffentlich bleibt ihr die Zeit dazu, denn sie engagiert sich sozial und kulturell für das Städtchen, in dem sie lebt. Wie man es halt so macht als Grande Dame.Im Interskriptum schreibt Nachrichten-Chefredakteur Christian Remenyi über Chemisches und Komisches – und was sich sonst noch so im Zettelkasten der Redaktion findet. <a href="mailto:nachrichten@gdch.de">nachrichten@gdch.de</a>

Kein Nachruf

Kann man erkennen, ob ein Text von einer KI oder einem Menschen geschrieben wurde? Mindestens zehn Prozent der Texte aus dem Jahr 2024 waren KI-beeinflusst, glaubt zumindest eine T&uuml;binger Forschungsgruppe um Dmitry Kobak. Dazu klassifizierten die Datenwissenschaftler zwei Begriffssorten in &uuml;ber zehn Millionen Texten, die zwischen 2010 und 2024 entstanden sind: content und style words. Content words vermitteln Fakten; style words &ndash; also so Dinger wie crucial (entscheidend), comprehensive (umfassend), als altmodischer Journalist w&uuml;rde ich sie mal Beschw&ouml;rungsadjektive nennen &ndash; nehmen in letzter Zeit stark zu und seien ein Kennzeichen generativer Text-KI.
Das System erinnert mich an meinen Doktorandenkollegen James. Er war sich als Englisch-Muttersprachler sicher, Vortr&auml;ge und Manuskripte deutscher Wissenschaftler sofort erkennen zu k&ouml;nnen (ausschlie&szlig;lich mit seiner human intelligence). Deutsche w&uuml;rden n&auml;mlich aus Prinzip (oder vielleicht einfach aus fehlendem Sprachgef&uuml;hl) signifikant viel zu viele &bdquo;in principles&ldquo; und &bdquo;significantlys&ldquo; in ihre Texte einstreuen.
Nicht KI-generiert entstehen &uuml;brigens die Antworten auf die &bdquo;Drei Fragen an &hellip;&ldquo;, mit denen wir in den Nachrichten etwa unsere Trendbericht-Autorinnen und Autoren vorstellen. Gar nicht gl&uuml;cklich &uuml;ber eine dieser Fragen war neulich einer unserer Leser. Warum bekommt eine Forscherin die Frage gestellt &bdquo;Wie schaffen Sie es, Beruf und Familie unter einen Hut zu kriegen?&ldquo;, nicht aber der Forscher drei Seiten sp&auml;ter? Des R&auml;tsels L&ouml;sung: In diesem Format d&uuml;rfen die Schreibenden aus etwa einem Dutzend Fragen ihre drei Favoriten aussuchen.
Was wir uns fragen: Sollen wir weiter bei den &bdquo;Drei Fragen an&ldquo; Wissenschaftliches und Privates vermischen? Warum nicht, in der Akademia wird ja allerorten die Nachwuchsf&ouml;rderung beschworen &ndash; wieso sollte Familie dann Privatsache sein? Nein, im Ernst: Die Doppelaufgabe Familie/Wissenschaft bringt einiges an Friktionen und Herausforderungen mit sich. Wir wollen sicher keine Instagram-hochgl&auml;nzende Vereinbarkeitsromantik propagieren. Aber es l&auml;sst sich Kraft und Inspiration sch&ouml;pfen aus den Erfahrungen anderer Eltern, die in der Wissenschaft arbeiten &ndash; und gerne sollten diese dar&uuml;ber berichten.
Im Interskriptum schreibt Nachrichten-Chefredakteur Christian Remenyi &uuml;ber Chemisches und Komisches &ndash; und was sich sonst noch so im Zettelkasten der Redaktion findet. <a href="mailto:nachrichten@gdch.de">nachrichten@gdch.de</a>

Wie viel Autor steckt im Satz?

„So richtig Feierstimmung will nicht aufkommen. Das Land ist überreizt wie selten.“ Das lese ich heute Morgen auf Zeit online. Es geht natürlich nicht um das 75er-Jubiläum der GDCh, sondern um die Fußball-Europameisterschaft (und wenn dieser Text erscheint, kann es auch wieder ganz anders sein. Oder noch schlimmer. „Schau‘n mer mal, dann seh‘n mer schon“, sagte einst eine Lichtgestalt a.D.).Aber nicht nur auf dem grünen Rasen, sondern auch bei der GDCh-grünen Truppe muss man die Feierlaune suchen. Warum sollten wir auch nochmal ein Jubiläum feiern? Das haben wir doch gerade erst gemacht. Nun ja, „gerade erst“ ist relativ, es ist jetzt auch schon wieder sieben Jahre her, dass wir auf 150 Jahre chemische Gesellschaften in Deutschland angestoßen haben. Interessierten empfehle ich unsere damalige Serie „Spurensuche“ zur Geschichte und Entwicklung der Chemiegesellschaften in West- und Ostdeutschland und ihrer Vorläufer: <url href="https://gdch.app/category/spurensuche"><a href="https://gdch.app/category/spurensuche" target="_blank">gdch.app/category/spurensuche</a></url>.Die diesjährigen Feiern zum eigentlichen Gründungsakt der GDCh – am 20. September 1949 – fallen wesentlich kleiner aus (wenn sie denn überhaupt stattfinden). Vielleicht muss das ja auch so sein. Angeblich umfasst die Spanne, die wir als zeitgeschichtlich einordnen, nur zwei Generationen. Alles davor wird zwar nicht unbedingt vergessen (siehe 150-Jahre-Feier), aber verblasst eben unwiederbringlich doch zur: Vergangenheit.Auch wir in den Nachrichten haben unser Schlaglichtheft eben nicht „Jubiläum“ getauft, sondern hintersinnig „75“, um spielerischer mit dem Thema umgehen zu können und diese schöne Zahl nicht auf Jubiläumshistorisches zu reduzieren.Die fehlende Feierlaune habe ich bei mir allerdings ebenfalls festgestellt, als die Redaktion mich fragte, ob ich im Interskriptum auch was zum Schlaglichtthema machen möchte. Nein, ich möchte nicht.Aber: Was muss ich rechts oben bei der Seitenzahl für dieses Interskriptum sehen? (Für die Online-Leser nochmal explizit: 75.)Warum sollte ich kleiner Chefredakteur mich über diesen Wink des Schicksals hinwegsetzen? Also: Happy Birthday, GDCh. Und weiterhin alles Gute!Im Interskriptum schreibt Nachrichten-Chefredakteur Christian Remenyi über Chemisches und Komisches – und was sich sonst noch so im Zettelkasten der Redaktion findet. <a href="mailto:nachrichten@gdch.de">nachrichten@gdch.de</a>

Feierlaune

Gleich zweimal hatte die GDCh im letzten Monat die Ehre, höchst Ehrenhaftes zu verkünden. Zum einen verlieh sie Heribert Offermanns die Ehrenmitgliedschaft, und zwar auf der Tagung der Seniorexperten Chemie in Magdeburg. Zum anderen verkündete die GDCh gemeinsam mit ihrer italienischen Schwestergesellschaft Società Chimica Italiana: Mülheim an der Ruhr und Mailand werden gemeinsam jeweils als Historical Landmark der Europäischen Chemischen Gesellschaft (Euchems) ausgezeichnet. Dies geschieht zu Ehren Karl Zieglers und Giulio Nattas, den Pionieren industrieller katalytischer Prozesse, am bedeutendsten darunter wohl das nach ihnen selbst benannte Verfahren.Manchmal gibt es so eigenartige Zufälle. Im starken Kontrast zu diesen ehrenwerten Verdiensten steht nämlich eine Liste, die wir verschämt in unserer Redaktion pflegen. Die Liste mit den peinlich-komischsten Tippfehlern, die wir in die Nachrichten aus der Chemie reingehauen haben. Und was finden wir da? Sie ahnen es: das Ziegler-Natter-Verfahren.Auch unserem GDCh-Ehrenmitglied Heribert Offermanns haben wir einmal ein solches Ei gelegt. In einem der vielen wunderbaren Artikel, die er für die Nachrichten aus der Chemie verfasst hatte, ging es vor ein paar Jahren unter anderem um blausäureenthaltende Pflanzen, darunter die Akelei, ein „Hasenfußgewächs“, wie wir ergänzten (obwohl die Akelei ja überhaupt keine Angst vor HCN hat).Nachdem die Top-Plätze der Liste nun jahrelang unangetastet blieben (ganz vorne dabei bleiben: der Mirkoreaktor und die Lötrohrpobierkunde), gab es – noch so ein Zufall – im vorletzten Monat einen Neuzugang. Die „Analyrische Chemie“ nämlich, quasi ein Gedicht von einer Wissenschaft. Es war allerdings auch ein sehr poetisches Heft, hatten wir doch darin die gereimten Lösungen des vorhergegangenen Elementerätsels vorgestellt. Die Rätsellöser waren sicher streng analyrisch an die Sache herangegangen.Sollen wir uns auf den nächsten Neuzugang freuen (immerhin hat man dann mal wieder was zu lachen) oder sollen wir ihn fürchten? Wir versuchen uns zumindest an Jean-Paul Sartres Empfehlung zu halten: „Man sollte keinen Fehler zweimal machen. Die Auswahl ist schließlich groß genug.“Im Interskriptum schreibt Nachrichten-Chefredakteur Christian Remenyi über Chemisches und Komisches – und was sich sonst noch so im Zettelkasten der Redaktion findet. <a href="mailto:nachrichten@gdch.de">nachrichten@gdch.de</a>

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