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Trendbericht Technische Chemie 2025
Von Wiley-VCH zur Verfügung gestellt
Nachhaltigkeit, Digitalisierung und Elektrifizierung prägen die aktuellen Entwicklungen in der chemischen Produktion. Im Fokus stehen neue Wege zur Nutzung von CO2, Wasserstoff und biogenen Rohstoffen sowie datengetriebene Ansätze für effizientere Prozesse. Neue Materialien, intelligente Reaktionstechnik und digitale Werkzeuge eröffnen neue Perspektiven für eine klimaneutrale Industrie.
Im Jahr 2024 wird die technische Chemie maßgeblich durch Nachhaltigkeit, Elektrifizierung und Digitalisierung geprägt. Zentrale Entwicklungen zielen darauf, kreislaufwirtschaftliche Prinzipien umzusetzen, ressourceneffizient zu produzieren und künstliche Intelligenz stärker in chemisch-technische Prozesse einzubinden.
Angesichts hoher Energiepreise und wachsender Anforderungen an Klimaschutz und Ressourcenschonung rücken energieeffiziente und nachhaltige Techniken in den Fokus. Dies betrifft besonders die Herstellung von Chemikalien, Werkstoffen und chemischen Energieträgern. Schwerpunkte liegen in der Entwicklung katalytischer Systeme, der Prozessintensivierung und der Elektrifizierung chemischer Prozesse, etwa durch Power-to-X-Konzepte. Digitale Werkzeuge wie datenbasierte Prozessmodelle und KI-gestützte Anlagensteuerung sollen Prozesse effizienter machen.
Durch die breitere Anwendung dieser Technologien – etwa CO₂-Nutzung, Elektrifizierung chemischer Prozesse und Integration erneuerbarer Energien – kann die chemische Industrie klimaneutral werden. Voraussetzung dafür ist allerdings, dass die entwickelten Verfahren in den industriellen Maßstab übertragen, energieeffizient betrieben und systematisch in eine nachhaltige Infrastruktur eingebettet werden. Verfahren der grünen Chemie, biobasierte Rohstoffe und Waste-to-Energy-Ansätze sind dabei wegweisend für eine nachhaltige chemische Produktion.
Wasserstoff: Schlüsselelement der Energiewende
Wasserstoff war auch im Jahr 2024 wichtig im Bestreben um klimaneutrale Energiesysteme und nachhaltige industrielle Prozesse. Er kann fossile Energieträger in vielen Anwendungen ersetzen – von der Prozesswärmebereitstellung über die chemische Synthese bis hin zur Energiespeicherung.1)
Im Fokus steht die elektrolytische Erzeugung von Wasserstoff („grüner Wasserstoff“) durch erneuerbare Energiequellen (Abbildung 1).2) Aktuell wird daran geforscht, Elektrolyseure weiterzuentwickeln, besonders Protonenaustauschmembran (PEM),3) Anionenaustauschmembran (AEM) und Hochtemperaturvarianten,4,5) und diese in chemische Gesamtprozesse einzubinden. Schwierig ist noch, die Technologien zu skalieren,6) diese effizienter zu machen und systemische Verluste zu reduzieren.7) An Lösungen dazu forschen beispielsweise die Beteiligten des Projekts StacIE des Wasserstoffleitprojekts H2Giga, die im Jahr 2024 einen 1-MW-Stack auf der Achema 2024 präsentierten.8)
Wichtiger werden darüber hinaus Konzepte zur direkten Kopplung von Wasserstofferzeugung mit nachgeschalteten Umwandlungsprozessen – etwa zur Ammoniaksynthese, Methanolerzeugung oder Fischer-Tropsch-Verfahren.9,10) Solche Power-to-X-Ansätze sind Beispiele für die Transformation der chemischen Industrie zu elektrifizierten, flexiblen und CO₂-neutralen Prozessketten.
Die technische Chemie ist hierbei essenziell, indem sie robuste Katalysatoren entwickelt, reaktionstechnische Konzepte optimiert und integrierte Systeme modellgestützt auslegt sowie deren Betrieb gewährleistet.11) Viele Unternehmen und Forschungseinrichtungen werden stärker daran arbeiten, Wasserstoff effizient in industrielle Chemieprozesse einzubinden, skalierbare Technologien zu entwickeln und die stoffliche Nutzung von Wasserstoff entlang ganzer Produktionsketten auszubauen.
Ammoniak: Energieträger, H2-Speicher und Baustein
Ammoniak (NH3) rückt als alternativer chemischer Energieträger in den Fokus, besonders aufgrund seiner hohen Energiedichte, der bestehenden Infrastruktur – also Produktions-, Speicher- sowie Transportkapazitäten – und weil es sich als Transportmedium für Wasserstoff eignet.12) Verglichen mit molekularem Wasserstoff lässt sich Ammoniak bei moderaten Partialdrücken und Temperaturen verflüssigen, speichern und über große Distanzen transportieren – ein entscheidender Vorteil für den internationalen Handel mit erneuerbarer Energie in chemisch gebundener Form.
Die elektrochemische oder thermokatalytische Synthese von Ammoniak aus Stickstoff durch Luftabscheidung und grünem Wasserstoff ist eine Schlüsseltechnologie, die Forschungsinstitute weltweit derzeit intensiv weiterentwickeln. Neben dem klassischen Haber-Bosch-Prozess bei hohen Drücken und Temperaturen werden dezentralisierte, dynamisch betriebene Reaktorkonzepte wichtiger.13) Mit ihnen lässt sich Ammoniak als flexibler Energieträger direkt an Standorten mit hohem Potenzial für erneuerbare Energien erzeugen. Ein weiterer Schwerpunkt liegt auf der kontrollierten Rückverstromung und der katalytischen Spaltung von Ammoniak, um Wasserstoff bedarfsgerecht freizusetzen.14) Hierzu sind selektive, langlebige Katalysatoren und reaktionstechnische Konzepte erforderlich, die besonders energieeffizient sind.15)
Ammoniak ist nicht nur Energieträger, sondern bleibt ein zentrales Zwischenprodukt der chemischen Industrie – besonders für Düngemittel, technische Chemikalien und als Ausgangsstoff für E-Fuels.16) Dabei beschäftigt sich die technische Chemie mit verfahrenstechnischen Herausforderungen und Fragen der Sicherheit, der Systemintegration und der CO₂-Bilanzierung entlang der Wertschöpfungskette.17)
CO2 als Rohstoff
Kohlendioxid stofflich zu nutzen entwickelt sich 2024 zu einem strategischen Baustein der Dekarbonisierung industrieller Prozesse.18) Wegen ambitionierter Klimaziele und regulatorischer Rahmenbedingungen rückt CO₂ als alternativer Kohlenstoffträger in den Fokus der technischen Chemie.
Carbon-Capture-and-Utilization(CCU)-Techniken scheiden CO₂ aus punktuellen Quellen wie Kraftwerken ab, aus Industrieabgasen oder Biogasanlagen und perspektivisch auch aus der Umgebungsluft (Direct Air Capture).19,20) Um die Technik ökonomisch sinnvoll zu nutzen, sind jedoch durch weitere Forschung der Energieverbrauch zu senken und die Anlagen hochzuskalieren.
Der abgeschiedene Kohlenstoff wird anschließend in chemische Wertschöpfungsketten überführt – etwa durch die Synthese von Methanol, Ethylen, Carbonaten, Polymeren oder Plattformchemikalien.21,22)
Im Zentrum der Entwicklungen stehen Adsorptions- und Absorptionsverfahren zur CO₂-Abtrennung,23) elektrochemische Reduktionsprozesse sowie die katalytische Umwandlung von CO₂ unter milden Bedingungen.24) Das Projekt Air2Chem des Fraunhofer Instituts Umsicht entwickelt beispielsweise Verfahren, die CO₂ aus der Luft in Synthesegas umwandeln.25) Allerdings ist das CO₂-Molekül reaktionsträge, und regenerative Energie für die Umwandlungsprozesse bereitzustellen ist schwierig. Daher entwickelt die technische Chemie selektive Katalysatoren,26) Reaktorkonzepte und integrierte Prozessführungen,27) bei denen CO₂ direkt in bestehende Produktionsprozesse eingespeist wird. Kombinierte Ansätze mit Power-to-X-Technologien, etwa die Synthese von Ethylen, Methanol oder langkettigen Kohlenwasserstoffen aus CO₂ und grünem Wasserstoff, gelten als vielversprechende Zukunftspfade (Abbildungen 2 und 3).28)
CCU steht exemplarisch für einen Paradigmenwechsel in der chemischen Industrie: CO₂, früher Abfallprodukt, soll als erneuerbare Kohlenstoffquelle genutzt werden. Damit trägt die technische Chemie dazu bei, die Industrie klimaneutral zu machen und kohlenstoffkreislauffähige Wertschöpfungssysteme zu etablieren.
Elektrochemische CO2-Reduktion
Die elektrochemische Reduktion von CO₂ (CO₂RR) gilt als Schlüsseltechnik für die nachhaltige Kohlenstoffwirtschaft. Durch sie lässt sich CO₂ direkt mit Strom aus erneuerbaren Energiequellen umwandeln, beispielsweise in Kohlenmonoxid,29) Ameisensäure,30) Methan, Methanol oder C₂+-Verbindungen wie Ethylen und Ethanol (Abbildung 4).21,22) Damit verbindet sie die Dekarbonisierung energieintensiver Sektoren mit der nachhaltigen Bereitstellung chemischer Rohstoffe.
Aktuell werden selektive, stabile und skalierbare Elektrokatalysatoren erforscht, die langzeitstabile Produkte mit hoher Faraday-Effizienz liefern. Erforscht werden dazu Silber, Kupfer und molekulare Katalysatorsysteme auf Metallbasis. Silberbasierte Elektrodenmaterialien sind bereits auf Technologiereifegrad 7 (TRL-7) erprobt – sie wurden also realitätsnah geprüft, etwa in einer Pilotanlage oder einem Testbetrieb. Kupferbasierte Systeme erreichen einen niedrigeren TRL, da die Elektroden mit der Zeit ihre Struktur ändern oder deaktiviert werden. Das kann durch Korrosion, Rekristallisation oder Veränderungen an der Oberfläche geschehen – unter Betriebsbedingungen typischerweise in Tagen bis wenigen Wochen.
Wie Forschende der TU München und von Siemens Energy im Jahr 2024 zeigten, führt bestimmtes Zell- und Elektrodendesign in der CO₂-Elektrolyse zu industrierelevanter Langzeitstabilität – stabiler Betrieb von 720 Stunden.31)
Viele Forschungsprojekte widmen sich der Umwandlung von CO₂ in Ethylen. Das Unternehmen Rohrdorfer nutzt dazu CO₂ aus der Zementproduktion und demonstriert damit das Potenzial zirkulärer Kohlenstoffnutzungskonzepte: Industrielles CO2 wird abgeschieden und in wertschöpfende Produkte wie Ethylen umgewandelt, anstatt es ungenutzt in die Atmosphäre abzugeben.32)
Forschende an der Universität Toronto und am Helmholtz-Institut Erlangen-Nürnberg verbesserten außerdem die CO₂-Reduktion mit optimierten Gasdiffusionselektroden.33) Andere Forschungsgruppen produzieren Methanol aus CO2 an cobaltbasierten Elektroden im Labormaßstab in kontinuierlichen Flusszellen, Forschungsgegenstand ist aktuell die Katalysator- und Prozessentwicklung.34) Jüngste Projekte nutzen organische Elektrolyte: Diese unterdrücken Nebenreaktionen und öffnen Reaktionspfade für die Plattform- und Feinchemikalienherstellung.35)
Um Massentransport und Reaktionskinetik zu optimieren, werden Zellkonzepte untersucht. Dazu zählen Gasdiffusionselektroden (GDEs), membranfreie Systeme und kontinuierlich betriebene Reaktoren.36)
Besonders interessant: CO₂RR wird mit Up- und Downstream-Prozessen gekoppelt, etwa bei der kombinierten Wasserelektrolyse zur Bereitstellung von Protonen und Elektronen oder bei der direkten Einbindung in chemische Synthesepfade.37) CO₂ elektrochemisch zu nutzen könnte klassische Wertschöpfungsketten in der Chemie elektrifizieren – besonders zusammen mit Power-to-X-Konzepten.38,39)
Trotz der Fortschritte müssen die CO₂RR-Prozesse energieeffizienter, die Katalysatoren stabiler, die Reaktionen selektiver sowie technisch sauber und preiswert skaliert werden. Dazu trägt die technische Chemie bei, indem sie Erkenntnisse aus Elektrochemie, Reaktionstechnik und Materialforschung zusammenführt und in praxisnahe Reaktorkonzepte überführt. Langfristig kann die elektrochemische CO₂-Reduktion helfen, fossile Kohlenstoffquellen in der chemischen Industrie zu ersetzen und CO₂ in geschlossenen Stoffkreisläufen zu nutzen.
Energieträger aus CO2 und H2O in einem Schritt
Die gleichzeitige elektrochemische Spaltung von Kohlendioxid und Wasserdampf, die Coelektrolyse, produziert unter anderem aus regenerativen Rohstoffen synthetische Energieträger und Plattformchemikalien. Anders als die getrennte Elektrolyse von Wasser gefolgt von CO₂-Reduktion erzeugt die Coelektrolyse Synthesegas (CO + H₂) in einem integrierten Prozess.40) Dazu dienen Hochtemperatur-Elektrolyseure (Solid Oxide Electrolysis Cells, SOECs), die bei Temperaturen von 700 bis 850 °C besonders effizient arbeiten.41) Bei dieser Betriebsweise wird die Prozessabwärme genutzt, wodurch der spezifische Energieaufwand geringer ist als bei Niedertemperaturverfahren.42) Das entstandene Synthesegas wird anschließend in nachgeschalteten chemischen Prozessen weiterverarbeitet, beispielsweise in der Fischer-Tropsch-Synthese, zur Methanolherstellung oder um synthetische Kraftstoffe herzustellen.10)
Herausforderungen sind die Materialentwicklung für langlebige Elektroden und Festelektrolyte, die hohen Temperaturen und wechselnden Belastungen standhalten, die Skalierbarkeit der Zellen zu leistungsfähigen Stacks sowie die prozessintegrierte Betriebsführung unter dynamischen Lastbedingungen – etwa durch die schwankende Verfügbarkeit erneuerbarer Energien.43)
Derzeit werden die Reaktionsmechanismen der Coelektrolyse von CO₂ und H₂O erforscht – besonders der Einfluss von Wassergehalt und Strömungsgeschwindigkeit an der Brennstoffelektrode auf die CO₂-Reduktion und die Bildung von Kohlenstoffablagerungen.44) Darüber hinaus sollen Studien den Coelektrolyseprozess optimieren, einschließlich der Simulation und Effizienzsteigerung von Power-to-Gas-Systemen im 1-MW-Maßstab.45) Wichtig ist dabei, ob Coelektrolyseprozesse gegenüber Verunreinigungen im CO₂-Strom stabil sind, etwa durch SOx oder NOx, und ob sie sich mit vorgelagerten CO₂-Abscheidesystemen koppeln lassen.
Die technische Chemie entwickelt die Coelektrolyse weiter, indem sie diese in chemische Gesamtprozessketten einbindet, Reaktionstechnikkonzepte auslegt oder Reaktor und Systeme modelliert und optimiert. Langfristig ist die Coelektrolyse vielversprechend, um CO₂ und H₂O direkt in synthetische Produkte zu konvertieren, wobei sie erneuerbare Energien nutzt – das könnte Energie-, Rohstoff- und Chemiesektor koppeln.
Technik für die Plattform- und Feinchemikalienherstellung
Durch die Transformation der chemischen Industrie werden Plattform- und Feinchemikalien zunehmend anders als bisher hergestellt. Dies soll nachhaltige Elektrosyntheseprozesse etablieren, fossile Rohstoffe langfristig durch CO₂, Biomasse oder recycelte Kohlenstoffquellen ersetzen und gleichzeitig energie- und ressourceneffizienter sein. Einen wichtigen Beitrag dazu leistet das BMBF-geförderte Zukunftscluster Etos (Elektrifizierung technischer organischer Synthesen).46) Es überträgt Elektrosynthesen aus dem organischen Labor in den technischen Maßstab, betrachtet dabei die Prozesskette von der Syntheseentwicklung bis zum Elektroden- und Elektrolyseurdesign und bewertet die Technoökonomie – also die technische Machbarkeit und wirtschaftliche Tragfähigkeit der neuen Verfahren.47)
Die organische Elektrosynthese ist besonders attraktiv für nachhaltige, ressourcenschonende Produktionsprozesse, da sie mit elektrischer Energie Redoxäquivalente bereitstellt und so stöchiometrische Oxidations- und Reduktionsmittel ersetzt. Zum Einsatz kommen poröse Kohlenstoffmaterialien, dotierte Metalloxide, Metall-N-Heterostrukturen oder funktionalisierte Polymere mit definierten katalytischen Eigenschaften – teils als strukturierte Elektroden, beispielsweise Schäume, teils als beschichtete Substrate.48)
Neue Zellarchitekturen von Batch- oder Durchflusszellen bis zu mikrostrukturierten Reaktoren koppeln Stofftransport, Elektrochemie und Wärmemanagement. Insbesondere kontinuierlich betriebene Elektroreaktoren mit Gasdiffusionselektroden oder membranunterstützter Phasentrennung steigern die Raum-Zeit-Ausbeute und intensivieren die Prozesse – das heißt, sie ermöglichen höhere Produktausbeuten bei gleichzeitig kompakteren, energie- und ressourceneffizienteren Reaktorkonzepten.
Elektrochemische Umwandlungsstufen in bestehende Prozessketten zu integrieren wird dadurch zunehmend realistisch, denn durch verbesserte Reaktorkonzepte und Materialien lassen sich elektrochemische Prozesse technisch und wirtschaftlich besser in industrielle Anwendungen überführen.49)
Erforscht werden außerdem Hochleistungsmaterialien, die unter elektrochemischen Bedingungen sowohl stabil sind als auch ihre Funktionen erfüllen – etwa leitfähige Polymere, multifunktionale Hybridmaterialien oder nanostrukturierte Komposite.50) Solche Materialien eröffnen nicht nur neue Wege in der Elektrosynthese, sondern dienen auch als Schlüsselkomponenten für funktionalisierte Elektroden, Trennsysteme und elektrochemische Sensorik im Reaktionsumfeld.
Zu den integrierten Prozessansätzen gehören die Kopplung von Elektrosynthese mit katalytischen Nachreaktionen oder In-situ-Analytik. Sie treiben die Entwicklung robuster, skalierbarer Techniken voran, mit denen sich Feinchemikalien, pharmazeutische Zwischenprodukte und funktionale Molekülen herstellen lassen. Die technische Chemie realisiert damit nicht nur neue Reaktionswege, sondern auch das nötige Material- und Systemverständnis, um eine nachhaltige, elektrifizierte Produktion umzusetzen.
Nachwachsende Rohstoffe funktionalisieren
Biogene Rohstoffe stofflich zu nutzen ist eine zentrale Säule des Übergangs zu einer nachhaltigen chemischen Industrie. Ausgangspunkte für die Synthese von Plattform- und Feinchemikalien sind dabei lignocellulosehaltige Nebenströme, stärke- und zuckerbasierte Substrate sowie Fettsäuren und Terpene. Ziel ist es, diese Rohstoffe mit möglichst hoher Kohlenstoffeffizienz in hochwertige Produkte zu überführen – dabei sollen fossile Ressourcen geschont und die Umweltlast minimiert werden.51)
Zunehmend dienen katalytische und elektrochemische Verfahren dazu, biogene Molekülgerüste gezielt zu funktionalisieren. Beispiele sind die oxidative Umwandlung von Furfural oder Hydroxymethylfurfural (HMF) zu Carbonsäuren, die Oxidation von Glucose und Xylose, die Reduktion von Lävulinsäure zu γ-Valerolacton oder die elektrosynthetische Aminierung biogener Alkohole.52) Verglichen mit thermischen Verfahren sind diese Ansätze selektiv, laufen bei Raumtemperatur und sind besser steuerbar – besonders bei komplexen Substraten ein Vorteil (Abbildung 5–7).
Allerdings sind biogene Rohstoffe heterogen zusammengesetzt, variieren in ihrer Qualität und müssen häufig vorbehandelt werden. Hier kombiniert die technische Chemie effiziente Aufbereitungs- und Trennverfahren mit maßgeschneiderter Reaktionstechnik.53) Auch integrierte Prozessketten, bei denen Vorbehandlung, Umwandlung und Produktaufarbeitung verzahnt sind, werden wichtiger – besonders im Kontext dezentraler Bioraffineriekonzepte, bei denen biogene Rohstoffe regional verarbeitet und Stoffströme effizient in hochwertige Produkte überführt werden sollen.
Zukunftsweisend ist die Forschung zur stofflichen Kopplung von CO₂- und Biomassepfaden, etwa durch die elektrokatalytische Carboxylierung biogener Zwischenprodukte mit CO₂.47) Solche hybriden Konzepte ermöglichen geschlossene Kohlenstoffkreisläufe, in denen biogene Ressourcen Mehrwert gegenüber petrochemischen Routen haben. Die technische Chemie verbindet darin Molekülverständnis mit Prozessdesign sowie Materialentwicklung mit Reaktionstechnik und schafft so die Grundlagen für eine ressourcenschonende, diversifizierte Rohstoffbasis der chemischen Industrie – also für eine Produktionsweise, die fossile Rohstoffe zunehmend durch erneuerbare oder recycelte Kohlenstoffquellen ersetzt.
Datengetriebene Prozesse und intelligente Reaktionstechnik
Digitalisierung eröffnet der technischen Chemie Möglichkeiten vom Prozessdesign über die Reaktorauslegung bis zur intelligenten Anlagensteuerung. Im Jahr 2024 war die datenbasierte Prozessentwicklung Innovationstreiber, weil chemische Prozesse komplexer und dynamischer werden, beispielsweise durch variierende Rohstoffe oder flexible Betriebsweisen.
Modellgestützte Ansätze der datenbasierten Prozessentwicklung beschreiben und optimieren chemische Reaktionen, Stofftransport und Energieflüsse in hoher Auflösung.47) Präzise Reaktorauslegungen und Prozesssimulationen benötigen mechanistische Modelle verknüpft mit reaktionskinetischen und thermodynamischen Daten. Zusammen mit Experimentaldaten und moderner Messtechnik entsteht so ein tiefes Systemverständnis, das den Übergang von diskontinuierlichen zu kontinuierlichen, effizient geführten Prozessen unterstützt. Abbildung 8 zeigt ein solches kinetisches Modell für die CO2RR. Experimentelle Daten können genau reproduziert werden (Abbildung 9), und durch Parameterstudien werden so Prozesslimitierungen identifiziert (Abbildung 10).54,55)
Datengetriebene Methoden auf Basis künstlicher Intelligenz und maschinellen Lernens56) erkennen Muster in großen Datenmengen, beschleunigen die Materialsichtung, etwa für Elektroden oder Katalysatoren, und unterstützen adaptive Prozessführung in Echtzeit. Sie dienen zur automatisierten Versuchsplanung durch Design of Experiments, prädiktive Wartungsstrategien oder zur Echtzeitanalyse elektrochemischer Prozesse mit integrierter Entscheidungslogik.57) Schwerpunkt sind Entwicklung und Nutzung digitaler Zwillinge, die virtuelle Abbilder realer Reaktoren oder Produktionsanlagen erzeugen.58) Sie erlauben simulationsgestützte Betriebsstrategien, Störfallanalysen und Prozessoptimierungen, noch bevor Anlagen gebaut oder modifiziert werden. Physikalisch-chemische Modelle mit Sensordaten aus dem Betrieb zu kombinieren schafft so bessere Prozesskontrolle und -transparenz.
Auch die Materialentwicklung nutzt die Digitalisierung, etwa für Katalysatoren, Membranen oder Elektroden. Zum Beispiel werden bei Hochdurchsatzberechnungen Datenbanken zu Materialeigenschaften und KI-gestütztem Screening gekoppelt. So lassen sich Katalysatoren und Elektroden vorauswählen, was die Entwicklung leistungsfähiger Funktionsmaterialien für elektrochemische und katalytische Prozesse beschleunigt.
Ausblick
Die technische Chemie steht an der Schwelle einer Transformation. Getrieben durch die Anforderungen an Klimaneutralität, Ressourceneffizienz und technologische Resilienz wird sich das Gebiet in den kommenden Jahren zu nachhaltigen, elektrifizierten und digital unterstützten Prozessen entwickeln.
Schlüsseltechnologie für die künftige Rohstoff- und Energieversorgung wird die Kopplung erneuerbarer Energie mit chemischer Umwandlung, etwa durch Power-to-X, Coelektrolyse oder elektrochemische Synthesen. CO₂ und biogene Ressourcen stofflich zu nutzen wird relevanter – nicht nur als Ersatz fossiler Rohstoffe, sondern auch, um Wertschöpfungsketten mit geschlossenen Kohlenstoffkreisläufen zu etablieren.
Gleichzeitig rückt die Materialentwicklung in den Fokus: von funktionalen Elektroden über selektive Katalysatoren zu langlebigen Reaktorkomponenten. Ohne robuste und gezielt einstellbare Materialien lassen sich die notwendigen Prozesse nicht zuverlässig skalieren oder wirtschaftlich betreiben.
Ein weiteres Entwicklungsfeld ist die Digitalisierung chemisch-technischer Prozesse. Modellgestützte Prozessentwicklung, datengestützte Prozessführung und der Einsatz digitaler Zwillinge werden den Weg zu selbstoptimierenden, energieeffizienten Anlagen ebnen – besonders im Kontext dynamischer, dezentraler Infrastruktur.
Die kommenden Jahre werden somit durch eine Vernetzung von Chemie, Verfahrenstechnik, Materialwissenschaft und Digitalisierung geprägt sein. Die technische Chemie wird dabei nicht nur technische Lösungen umsetzen, sondern eine integrative Disziplin an der Schnittstelle von Wissenschaft und industrieller Anwendung werden.
Drei Fragen an den Autor: Philipp Röse
Ihre Forschung in 140 Zeichen?
Reaktionstechnisch-elektrochemische Untersuchung von Katalysatoren, Elektroden und Elektrolysezellen in Power-to-Chemicals-Prozessen.
Welche Methode hat sich in den letzten zwölf Monaten aus Ihrer Sicht am meisten weiterentwickelt?
Ich finde, dass sich bei der digital unterstützten Prozessentwicklung am meisten getan hat. Datengetriebene Modelle, KI-gestützte Auswertungen und digitale Zwillinge werden zunehmend in reale chemisch-technische Anwendungen integriert.
Was sind derzeit Ihre Hauptforschungsprojekte?
Die experimentellen und modellgestützten Untersuchungen zur elektrochemischen CO2-Reduktion, H2O2-Elektrosynthese und organischen Elektrosynthese inklusive der Nutzung biogener Rohstoffquellen.
Philipp Röse leitet seit dem Jahr 2020 eine Nachwuchsgruppe für Elektrokatalyse am Institut für Angewandte Materialien – Elektrochemische Technologien (IAM-ET) des Karlsruher Instituts für Technologie (KIT) und habilitiert sich dort. Zuvor arbeitete er als Laborleiter an der TU Braunschweig. Röse studierte Chemie an der Philipps-Universität Marburg und der Universität Lund in Schweden. 2017 promovierte er bei Gerhard Hilt.
Die drei Fragen wählen die Autor:innen aus einem redaktionell erstellten Fragenkatalog.
- 1 A. Odenweller, F. Ueckerdt, Nature 2025, 10, 110–123
- 2 „Was ist eigentlich grüner, grauer oder blauer Wasserstoff?“ gdch.app/article/was-ist-eigentlich-gruener-grauer-oder-blauer-wasserstoff
- 3 M. Bonanno, K. Müller, B. Bensmann et al., Adv. Mater. Technol. 2024, 9, 2300281
- 4 Y. Zheng, W. Ma, A. Serban et al., Angew. Chem. Int. Ed. 2025, 64, e202413698
- 5 Z. Liu, J. Hu, A. Wu et al., J. Power Sources 2024, 616, 235113
- 6 C. Locci, M. Mertens, S. Höyng et al., Chem. Ing. Tech. 2024, 96, 22–29
- 7 M. Bernt, A. Siebel, H. A. Gasteiger, J. Electrochem. Soc. 2018, 165, F305
- 8 Zur H2Giga-Pressemitteilung: t1p.de/ipbog, 31.10.2024
- 9 H. Nami, P. V. Hendriksen, H. Lund Frandsen, Renew. Sustain. Energy Rev. 2024, 199, 114517–114538
- 10 M. Machado, R. Lopes de Souza Junior, J. Ribeiro de Almeida et al., Joule 2024, 27, 111014–111036
- 11 J. Köstlbacher, L. Breuning, F. Nigbur et al., Int. J. Hydrogen Energy 2025, article in press
- 12 C. Ong, N. Chang, M.-L. Tsai et al., Fuel 2024, 360, 130627–130643
- 13 J. Rosbo, A. D. Jensen, J. B. Jørgensen et al., Chem. Eng. J. 2024, 496, 153660–153680
- 14 D. Bora, A. Faik, Curr. Opin. Green Sustainable Chem. 2024, 48, 100944–100952
- 15 N. Mohan, K. Ramanuam, Curr. Opin. Electrochem. 2024, 45, 101520–101528
- 16 H. Ishaq, C. Crawford, Energy Convers. Manag. 2024, 300, 117869–117889
- 17 D. A. C. Narciso, J. M. Pires, J. Fortunato, Energy Convers. Manag. 2025, 327, 119494–119518
- 18 A. Gailani, S. Cooper, S. Allen et al., Joule 2024, 8, 576–603
- 19 T. Kazlou, A. Cherp, J. Jewell, Nature Clim. Change 2024, 17, 1047–1055
- 20 K. Langie, K. Tak, C. Kim et al., Nature Commun. 2022, 13, 7482–7492
- 21 J. Huang, Q. Liu, J. Huang et al., ChemSusChem 2025, 18, e202401173
- 22 R. Djettene, L. Dubois, M.-E. Duprez et al., J. CO2 Util. 2024, 85, 102879–102892
- 23 S.-F. Chang, H.-H. Chiu, H.-S. Jao et al., Carbon Capture Sci. Technol. 2025, 14, 100342–100361
- 24 W. Choi, Y. Chae, E. Liu et al., Nature Commun. 2024, 15, 8345–8356
- 25 Zur Fraunhofer-Umsicht-Pressemitteilung: t1p.de/yl0dk, 24.7.2024
- 26 H. Sun, S. Sun, T. Liu et al., ACS Catal. 2024, 14, 15572–15589
- 27 G. Bagnato, A. Sanna, J. CO2 Util. 2022, 66, 102286–102296
- 28 D. F. Bruggeman, G. Rothenberg, A. C. Garcia, Nature Commun. 2024, 15, 9207–9218
- 29 J. Osorio-Tejada, M. Escriba-Gelonch, R. Vertongen et al., Energy Environ. Sci. 2024, 17, 5833–5853
- 30 A. Elgazzar, P. Zhu, F.-Y. Chen et al., ACS Energy Lett. 2025, 10, 450–458
- 31 B. Sahin, M. Kraehlin, V. Facci Allergrini et al., J. CO2 Util. 2024, 82, 102766–102780
- 32 Zur Rohrdorfer-Pressemitteilung: t1p.de/5ejkc
- 33 C. O’Brian, D. McLaughlin, T. Böhm et al., Joule 2024, 8, 2903–2919
- 34 J. Fernández-González, M. Rumayor, J. Laso et al., Sustainable Energy Fuels 2024, 8, 5492–5503
- 35 J.-M. McGregor, J. T. Bender, A. S. Petersen et al., Nature Catal. 2025, 8, 79–91
- 36 H. Hoffmann, M. Kutter, J. Osiewacz et al., EES Catal. 2024, 2, 286–299
- 37 B. S. Crandall, B. H. Ko, S. Overa et al., Nature Chem. Eng. 2024, 1, 421–429
- 38 H. O. LeClerc, H. C. Erythropel, A. Backhaus et al., ACS Sustainable Chem. Eng. 2024, 13, 5–29
- 39 M. Jouny, W. Luc, F. Jiao, Ind. Eng. Chem. Res. 2018, 57, 2165–2177
- 40 A. Kourou, S. De Langhe, L. Nelis et al., Int. J. Hydrogen Energy 2024, 81, 974–985
- 41 Y. Alizad Farzin, M. Khoshkalam, S. Guo et al., Adv. Energy Mater. 2024, 2404843–2404852
- 42 H. Sumi, RSC Sustainability 2024, 2, 1568–1580
- 43 S. Zong, Y. Zhao, L. L. Jewell et al., Carbon Capture Sci. Technol. 2024, 12, 10234–10257
- 44 T. Skafte, P. Blennow, J. Hjelm, J. Power Sources 2018, 373, 54–60
- 45 Zur Sunfire-Pressemitteilung: t1p.de/7ztz6, 9.4.2025
- 46 www.zukunftscluster-etos.de, 12.5.2025
- 47 P. Röse, P. Neugebauer, S. Tamang et al., Chem. Ing. Tech. 2025, 97, 395–410
- 48 A. C. Reidell, K. E. Pazder, C. T. LeBarron et al., ACS Organ. Inorg. Au 2024, 4, 579–603
- 49 M. C. Leech, A. D. Garcia, A. Petti et al., React. Chem. Eng. 2020, 5, 977–990
- 50 D. M. Heard, A. J. J. Lennox, Angew. Chem. Int. Ed. 2020, 59, 18866–18884
- 51 L. Chen, C. Yu, X. Song et al., Nature Commun. 2024, 15, 8072–8090
- 52 A. Gutierrez-Blanco, C. Mejuto, J. Phys. Chem. Lett. 2025, 16, 2785–2792
- 53 V. K. Vaithyanathan, B. Goyette, R. Rajagopal, Environ. Challenges 2023, 11, 100700–100720
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- 55 N. Oppel, P. Röse, S. Heuser et al., Electrochim. Acta 2024, 490, 144270–144286
- 56 L. Peterson, J. Bremer, K. Sundmacher, Comput. Chem. Eng. 2024, 184, 108643–108662
- 57 N. Petrovic, G. R. Cumming, C. A. Hone et al., Org. Process Res. Dev. 2024, 28, 2928–2934
- 58 D. Monopoli, C. Semeraro, M. A. Abdelkareem et al., Annu. Rev. Control 2024, 57, 100943–100960
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