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Blickpunkt Biowissenschaften

Tintenfische schmecken anders

Nachrichten aus der Chemie, Juli 2023, S. 61-63, DOI, PDF. Login für Volltextzugriff.

Von Wiley-VCH zur Verfügung gestellt

Die Idee, dass nur Wirbeltiere komplexe Formen und höhere Intelligenz entwickeln können, haben Tintenfische längst über den Haufen geworfen. Jetzt zeigen strukturbiologische Untersuchungen, wie sich die Geschmackswahrnehmung in ihren Armen entwickelte.

Die Biologie hat bisher überwiegend Modellsysteme studiert, die sich auf einer Achse zunehmender Komplexität ordnen lassen und uns dabei immer ähnlicher werden. Für primitive Wirbellose steht etwa der Fadenwurm Caenorhabditis elegans, für Säugetiere die Maus und für unsere unmittelbare Verwandtschaft der Schimpanse.

Insekten wie die Honigbiene erinnern uns daran, dass sich komplexes Verhalten auch ohne Skelett entwickelt. Die Biene ist ausführlich erforscht, da wir ihren Honig seit Jahrtausenden zu schätzen wissen. Ein anderes Beispiel für komplexes, intelligentes Leben weitab unseres eigenen Evolutionswegs ist hingegen bis vor Kurzem vernachlässigt worden: Die Kraken (Ordnung: Octopoda), die zu den achtarmigen Tintenfischen gehören.

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Ein Oktopus. Foto: Henning Damke / Adobe

Das Genom der Kalifornischen Zweipunktkrake Octopus bimaculoides ist erst seit dem Jahr 2015 sequenziert, was der Nobelpreisträger Sydney Brenner (1927–2019) initiiert hatte. Seinerzeit hatte er den vorher bedeutungslosen Fadenwurm C. elegans berühmt gemacht (und umgekehrt). O. bimaculoides lebt im Pazifik vor der Küste Kaliforniens.1)

Bisher waren die wunderlichen Besonderheiten der Tintenfische vor allem aus Beobachtungen ihres Verhaltens bekannt, darunter Ausbrechen aus Aquarien, Tarnen durch Farbänderung und das autonome Verhalten der einzelnen Arme. Mit dem Genom lassen sich nun molekulare Grundlagen und die Evolution dieser Auffälligkeiten analysieren.

Greifender Geschmackssinn

Bei Primaten und anderen Wirbeltieren verknüpfen wir Intelligenz mit der Größe des Gehirns im Verhältnis zum restlichen Körper. Diese Annahme ist bei Tintenfischen falsch, denn sie verarbeiten Informationen zu einem großen Teil dezentral. Zu ihrem Denkorgan gehören die acht Arme.

Kraken spüren mit diesen Armen Beutetiere auf, die sich etwa in Felsspalten am Meeresboden verstecken. Dabei hilft der Geschmackssinn in den Saugnäpfen der Arme, der gemeinsam mit dem Tastsinn dazu beiträgt, die Beute zu identifizieren.

Die Arbeitsgruppe von Nicholas Bellono an der Harvard-Universität identifizierte in den Saugnäpfen des Kraken O. bimaculoides eine Familie von Geschmacksrezeptoren für wasserunlösliche Substanzen wie Terpene. Die Gruppe charakterisierte die physiologische Funktion dieser chemotaktilen Rezeptoren (Abbildung S. 62 oben).2) Sie existieren in zahlreichen Variationen und treten in den sensorischen Zellen als Ionenkanäle auf, als Pentamere gleicher oder verschiedener Proteine. Beim menschlichen Geruchs- und Geschmackssinn ist jede Zelle auf eine Rezeptorart spezialisiert. Eine sensorische Krakenzelle enthält dagegen verschiedene Rezeptorkombinationen.

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Octopus bimaculoides. Rechts: Mutmaßliche Nervenbahnen eines Saugers, gefärbt mit Meerrettichperoxidase (horseradish peroxidase, HRP, grün) und Kernfärbung (4‘,6-Diamidino-2-phenylindol, DAPI, blau).2)

Die Rezeptorenvielfalt liefert den Kraken Informationen über Beutetiere: Über Terpenoide identifizieren Kraken bevorzugte Beutetiere, oder sie werden vor möglicherweise giftigen Tieren gewarnt. Anders als Wirbeltiere verarbeiten Kraken diese Information direkt vor Ort, also im Arm, der autonom reagiert. Er setzt die Information in das entsprechende Verhalten um, also zum Beispiel ins Ergreifen der Beute mit dem Saugnapf oder in die Ausweichbewegung bei einer unerwünschten oder gefährlichen Substanz.

Rezeptorentwicklung

Zusammen mit dem Neurobiologen Ryan Hibbs an der University of California in San Diego hat Bellonos Gruppe nun die chemotaktilen Rezeptoren beschrieben. Sie nutzen dazu molekulare Strukturuntersuchungen (Abbildung Mitte).3)

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Octopus bimaculoides. Lila: eingefärbt mit Meerrettichperoxidase (horseradish peroxidase, HRP). Grün: Anti-CRT1, lokalisiert am extrazellulären dendritischen Ende mutmaßlicher Rezeptorzellen im Saugepithel der Arme. Maßstabsbalken links: 1 mm, rechts: 100 µm.3)

Die Forschungsteams ermittelten über Kryo-Elektronenmikroskopie die Struktur des Terpenrezeptors CRT1. Dieser ist aus der Familie der chemotaktilen Rezeptoren von O. bimaculoides am besten erforscht. Die Teams verglichen ihn mit der Struktur des verwandten und gut erforschten α-7-Rezeptors, eines Neurorezeptors der Säugetiere. CRT1 erkennt Terpene, die von manchen wirbellosen Meeresorganismen hergestellt und als Signalstoffe verwendet werden, darunter das Sesquiterpen Polygodial und das Furanose-Sesquiterpen Atractylon. Der α-7-Rezeptor spricht dagegen auf wasserlösliche Neurotransmitter an.

Strukturvergleiche und Mutationsstudien zeigten, dass die zentrale Ionenkanalstruktur bei beiden Rezeptorfamilien während der Evolution erhalten blieb. Sie ermöglicht Kationen, in die Zelle einzutreten und damit eine Signalkette auszulösen. Hydrophobe Aminosäuren bilden die Bindungsstellen für Terpene. Beim Kraken sind sie außergewöhnlich hydropohob; die analogen Bereiche bei menschlichen Neurorezeptoren binden dagegen kleine wasserlösliche Neurotransmitter.

Hier zeigt sich auf molekularer Ebene die Grundlage für eine Weggabelung der Evolution, die zur unterschiedlichen Entwicklung von Wirbeltieren und Tintenfischen führte.

Ein Zwischenzustand

Einen Zwischenzustand fanden die Gruppen von Bellono und Hibbs bei den zehnarmigen Tintenfischen (Decabrachia, Abbildung unten, rechts).4) Diese haben chemotaktile Rezeptoren wie die Kraken, doch sind sie unseren Neurorezeptoren ähnlicher. Während die Kraken ihren Tast-Geschmackssinn entwickelten und die Zahl der dafür verfügbaren Rezeptoren ausweiteten, blieben die zehnarmigen Tintenfische beim Erkennen wasserlöslicher Moleküle. Dieser molekulare Unterschied bedingt ihre anders geartete Jagdmethode. Sie liegen eher auf der Lauer und schlagen zu, wenn sie das Nahen eines Beutetiers wittern. Kraken sind dagegen eher auf Wirbellose im Meeresboden spezialisiert.

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Links: Foto Octopus bimaculoides; Vergrößerungen des glatten Saugnapfs; Zeichnung zum Jagdverhalten über chemotaktiles Geschmacksempfinden. Rechts: Foto Sewellia lineolata; Vergrößerungen des rauen Tentakelsaugnapfs; Zeichnung zum Jagen aus dem Hinterhalt. Maßstabsbalken: 500 μm (oben) und 200 nm (unten).4)

Bellono und Hibbs lieferten auch für diese Tiere eine Kryo-EM-Struktur eines chemotaktilen Rezeptors und verglichen diese mit dem des Kraken und den Neurorezeptoren der Wirbeltiere. Weitere Vergleiche der Gene für zahlreiche Rezeptoren dieser Familien zeigen, wie die Evolution des Jagdverhaltens direkt mit der Evolution der molekularen Rezeptoren zusammenhängt.

Verbundene Arme

Die Arbeitsgruppe von Melina Hale von der Universität Chicago hat kürzlich entdeckt, dass die Nervenstränge, die vermutlich die Bewegung der Krakenarme steuern, mit denen der jeweils schräg gegenüberliegenden Arme verbunden sind.5) Offenbar verbinden die Kraken jeden Arm mit dem drittnächsten, so dass alle Arme miteinander verbunden sind, aber nicht über eine Schaltzentrale oder eine Ringstruktur, wie die Forscher:innen erwartet hatten.

Ein messtechnisches Problem hat die Untersuchungen bisher behindert: Es gibt bei einem Kraken keine harten Strukturen, an denen sich ein Messgerät befestigen ließe. Zudem erreichen die Arme jede Stelle auf der Oberfläche des Tiers, um Fremdkörper zu entfernen.

Tamar Gutnick und Kolleg:innen haben am Okinawa Institute of Science and Technology deshalb eine Methode entwickelt, einen Datenlogger, der ursprünglich für kleine Vögel entwickelt worden war, bei Tintenfischen unter die Haut zu implantieren. Sie statteten drei Tiere der Art Octopus cyanea mit dem Gerät aus, das sie unter Narkose in eine natürliche Lücke im Muskel des Mantels einsetzten (Abbildung oben).6) Sie platzierten die Elektroden des Loggers in der Gehirnregion, die vermutlich für visuelles Lernen und Gedächtnis verantwortlich ist.

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Ein implantierter Datenlogger (links, Mitte) zeigt die Gehirnaktivität des Oktopus; sie lässt sich mit gleichzeitigen Videoaufzeichnungen des Verhaltens korrelieren. Einige Aktivitätsmuster im Nervengewebe ähneln denen von Säugetieren.6)

Während der nächsten zwölf Stunden zeichneten sie die Gehirnaktivität der Tiere auf und filmten deren Bewegungen in einem Aquarium. Die Aufzeichnungen zeigten sowohl neurologische Aktivitätsmuster in den Hirnströmen, die von Wirbeltieren bekannt sind, als auch neue Muster, deren Bedeutung noch untersucht werden muss. Diese Studie diente zunächst nur als Machbarkeitsbeweis. Bei weiteren Anwendungen dieser Methode bietet es sich an, den Tieren Lernaufgaben zu stellen, so dass zum Beispiel Wahrnehmungs- und Gedächtnisfunktionen mit den beobachteten Aktivitätsmustern korreliert werden können.

Erkenntnisse aus der Tintenfischforschung geben Einblicke in biologische Systeme und zeigen, was sich Wissenschaftler nicht vorstellen können, die nur an der Funktionsweise von Wirbeltieren geschult wurden. Wir können viel von Tintenfischen lernen.

Der Autor

Der promovierte Chemiker Michael Groß ist freier Wissenschaftsjournalist im englischen Oxford. www.michaelgross.co.uk

  • 1 M. Groß, Nachr. Chem. 2015, 63, 1186–1188
  • 2 L. van Giesen, P. B. Kilian, C. A. H. Allard, N. W. Bellono, Cell 2020, 183, 594–604
  • 3 C. A. H. Allard, G. Kang, J. J. Kim et al., Nature 2023, 616, 373–377
  • 4 G. Kang, C. A. H. Allard, W. A. Valencia-Montoya et al. Nature 2023, 616, 378–383
  • 5 A. Kuuspalu, S. Cody, M. E. Hale, Curr. Biol. 2022, 32, 5415–5421
  • 6 T. Gutnick, A. Neef, A. Cherninskyi et al., Curr. Biol. 2023, 33, 1171–1178

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