Forschende bauen Diazirine in Biomoleküle ein, um diese zu vernetzen und zu markieren – so finden sie heraus, was Proteine und Lipide tun und mit welchen anderen Teilchen sie interagieren. Mit KI-Werkzeugen oder Bor-haltigen Aminosä...
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Ort‐ und zeitaufgelöste Photoaffinitätsmarkierung/Trendbericht Biochemie 2025 (1/3)
Von Wiley-VCH zur Verfügung gestellt
Forschende bauen Diazirine in Biomoleküle ein, um diese zu vernetzen und zu markieren – so finden sie heraus, was Proteine und Lipide tun und mit welchen anderen Teilchen sie interagieren. Mit KI-Werkzeugen oder Bor-haltigen Aminosäuren lassen sich Enzyme mit neuen Funktionen designen, und erstmals wurde am Rechner ein Enzym mit katalytischer Triade entworfen. Durch Spatial Proteomics, Bildgebung und Massenspektrometrie sowie mikroskopiegesteuerte Photo-Biotinylierung lassen sich Proteine in ihrer direkten Umgebung analysieren.
Ort- und zeitaufgelöste Photoaffinitätsmarkierung
Diazirine sind kleine, dreigliedrige Heterocyclen, die aus einem Kohlenstoffatom und zwei Stickstoffatomen bestehen. Beim Erwärmen oder Kuppeln in der Mikrowelle sind sie stabil – bei Belichtung bilden sie jedoch reaktive Carben-Intermediate, was sie zu nützlichen photoreaktiven Reagenzien macht. Bei Bestrahlung öffnen Diazirine ihren Ring, formen ein Diazo-Intermediat im angeregten Singulett- oder Triplettzustand und erzeugen dann unter Stickstoffverlust ein reaktives Carben (Abbildung 1).1) Die Reaktivität und Stabilität der einzelnen Diazirine hängen von den Substituenten ab. Alkyl-Diazirine reagieren in vitro pH-abhängig bevorzugt mit sauren Aminosäureresten. Dies liegt an der Bildung eines langlebigen Diazo-Intermediats, das von organischen Säuren abgefangen wird, bevor sich ein alkylisches Singulett-Carben bilden würde. Im Gegensatz zu den Alkyldiazirinen bilden Aryltrifluorodiazirine Einschubprodukte mit allen Aminosäuren und sind kaum pH-abhängig. Ihre Markierungschemie wird jedoch leicht durch Wasser gehemmt, was auf einen Reaktionsweg über ein Carben-Intermediat hinweist.2–4) Darüber hinaus ist die Art des Diazirins auch für indirekte, lichtkontrollierte Aktivierungsansätze entscheidend (siehe unten).5)
Diazirine sind aufgrund ihrer besonderen Reaktivität für die Photoaffinitätsmarkierung (PAM), als Vernetzungsreagenzien oder für Oberflächenmodifikationen interessant. PAM existiert bereits seit den 1960er Jahren (Infokasten S. 46).6–9) Da Diazirine klein sind, beeinträchtigt PAM kaum die Moleküle, an die sie gebunden sind. Zudem fungieren sie als maskierte Carbene, die erst durch UV-Bestrahlung reaktiv werden. Der räumlich und zeitlich regulierbare Aktivierungsprozess erlaubt es den modifizierten Molekülen, zu ihrem Zielmolekül zu diffundieren und dort kovalente Bindungen mit nahegelegenen Biomolekülen einzugehen. Dies ermöglicht die Untersuchung von Protein-Ligand-Interaktionen sowie Reaktivitätszentren von Enzymen und Rezeptoren.1,6)
Mit Diazirinen Proteine beobachten
Heute sind Diazirine weit verbreitet, etwa als nichtkanonische Aminosäuren (nkASs) wie Photo-Leucin, Photo-Isoleucin und Photo-Methionin.10) Diese diazirinhaltigen Aminosäuren lassen sich gezielt in Proteine einbauen, indem deren genetischer Code erweitert wird – durch gentechnisch veränderte tRNA-/tRNA-Synthetase-Paare. So lassen sich Protein-Protein-Interaktionen (PPIs) durch Photo-Crosslinking identifizieren.
Die Technik nutzten Sieber, Lang und ihr Team: Sie modifizierten mit der nichtkanonischen Aminosäure DiazK die proteolytische Kammer der mitochondrialen humanen caseinolytischen Protease P (hClpP). Diese hochkonservierte Serinprotease kommt in bakteriellen und eukaryotischen Zellen vor; sie ist mit Regulationsmechanismen der mitochondrialen Protein-Homöostase assoziiert und wird mit mehreren Krankheiten in Verbindung gebracht, beispielsweise Krebs.11–13) Daher wollten die Forschenden die Substrate von hClpP unter physiologischen Bedingungen unvoreingenommen identifizieren, um die Funktion des Proteins besser zu verstehen.
Um ein passendes gentechnisch verändertes tRNA/tRNA-Synthetase-Paar für die genetische Codeerweiterung zu finden, prüften die Autoren Varianten der Pyrrolysin-tRNA-Synthetase (PylRS). Sie identifizierten eine Variante mit den Mutationen Y271M, L271A, C313A, genannt DiazKRS, die DiazK effizient einbaut. So führten die Wissenschaftler die diazirinhaltige Aminosäure an sechs Stellen an der Innenseite von hClpP ein. Sie reinigten das modifizierte Protein, bauten damit einen aktiven Proteasekomplex und charakterisierten diesen in vitro. Anschließend transfizierten sie den Proteasekomplex in HEK-Zellen. Bestrahlung (365-nm-Licht, 15 Minuten) aktivierte und vernetzte die diazirinmodifizierten Aminosäuren in hClpP und vernetzte sie mit den Proteinen, die sich während der Bestrahlung in der Protease befanden (Abbildung 2). Mit diesem Trapping-Experiment in Kombination mit einer Proteomanalyse identifizierten die Autor:innen Mitglieder des Tricarbonsäurezyklus, des Fettsäure- und Aminosäureabbaus sowie mehrere mitoribosomale Untereinheiten – um nur einige Beispiele zu nennen. Diese Ergebnisse weisen darauf hin, wie wichtig hClpP in der respiratorischen Homöostase ist.
Lipiden bei der Arbeit zuschauen
Um den Lipidtransport und Lipid-Protein-Interaktionen (LPIs) zu untersuchen, nutzen Forschende neben PPIs diazirinbasiertes Photocrosslinking. Sie bringen diazirinhaltige Lipide in Membranen oder Lipoproteinkomplexe ein, um zu identifizieren, welche Proteine mit bestimmten Lipiden oder Lipid-Domänen interagieren. Indem die Crosslinker die interagierenden Komponenten vernetzen, helfen sie, die Organisation und Dynamik von Lipidrafts zu klären oder die lipidbindenden Stellen an Membranproteinen oder Lipidtransporterproteinen zu kartieren.14)
Tefesse, Schultz und Kollegen betonen, entscheidend sei die exakte Position des Diazirins innerhalb des Photolipids. Dasselbe Grundmolekül kann stark unterschiedliche Markierungsprofile ergeben, abhängig von der Position des Diazirins.15)
Drescher und Mitarbeitende verwendeten ein diazirinmodifiziertes Phosphatidylcholin (DiazPC) (Abbildung 3), um Einblicke in das Verhalten des unmodifizierten Lipids zu gewinnen.16)
Sie bauten das Lipid in eine Modellmembran ein, in der außerdem ein integrales Membranpeptid platziert wurde. DiazPC reagierte auf UV-Bestrahlung und bildete ein reaktives Carben, das sich mit den anderen Membrankomponenten vernetzte. Wie Massenspektrometrieanalyse zeigte, entstanden nur Quervernetzungen im Kopfgruppenbereich der Doppellipidschicht. Dies liegt daran, dass die Diazirin-Gruppe vergleichsweise polar ist, und sich deshalb nahe den Kopfgruppen anordnet. Dieses Verhalten tritt wahrscheinlich generell bei der Einführung von Diazirinen an hydrophoben Positionen auf.
Hochaufgelöste Photomarkierung
Kleine Moleküle mit Diazirin-Gruppe sind als Vernetzungsreagenzien weniger selektiv als diazirinhaltige Lipide und Diazirine, die durch nkASs in Peptide und Proteine eingebaut werden. Dies erschwert es, mit ihnen unerwartete Wechselwirkungen eines Proteins von Interesse (POI) zu entdecken. Forscher setzten sie überwiegend für proteomische Analysen und die Bildgebung größerer Proteinarchitekturen ein. Dabei vernetzten sie sämtliche Biomoleküle im beleuchteten Bereich, der oft größer als eine einzelne Zelle war.1,6,17) Analytisch schwierig an diesem Ansatz ist, die Wechselwirkungen eines POIs mit allen direkten Interaktionspartnern herauszufiltern. Vereinfachen ließe sich dies mit Methoden, die eine höhere Auflösung ermöglichen.
Kürzlich entwickelte ein Team um MacMillan, Fadeyi und Oslund einen Ansatz, bei dem Diazirine indirekt durch einen Dexter-Energieübertragungsprozess angeregt werden.18) Die Forschenden identifizierten den Iridium-Photokatalysator ({Ir[dF(CF3)ppy]2(dtbbpy)}PF6); dieser sensibilisiert durch eine hohe Triplettenergie (E3T = 60,1 kcal · mol–1) ein Aryldiazirin in wässrigem Medium mit über 97 Prozent Ausbeute. Dies erfolgt mit blauem Licht (450 nm) in 15 Minuten bei 25 °C und 100 mM H2O/DMSO. Mechanistischen Untersuchungen zufolge läuft die Wechselwirkung zwischen Aryldiazirin und Ir-Katalysator über einen kurzreichweitigen Dexter-Energieübertragungsmechanismus – nicht über den Förster-Mechanismus mit längerer Reichweite. Dies begünstigt das Design, da nur Diazirin-Vernetzer nah am Katalysator aktiviert werden. Da das aus Diazirin gebildete Carben eine kurze Lebensdauer hat, beschränkt sich die Diffusion des Crosslinkers auf wenige Nanosekunden. An die Liganden des Ir-Katalysators wurden Substituenten hinzugefügt, sodass sich dieser zur Biokonjugation, Mikroskopie und Proteomik einsetzen lässt.
Der Iridiumkatalysator wurde schließlich mit sekundären Antikörpern verbunden, um gezielt Protein-Komponenten der Zelloberfläche photokatalytisch zu markieren (Abbildung 4) – diese Strategie nennen die Autor:innen µMap. Den Experimenten des Teams um MacMillan zufolge arbeitet µMap sowohl zeitlich als auch räumlich präzise: Die Diazirine werden nur während der Beleuchtung aktiviert und markiert, was die Markierungsdauer genau kontrollierbar macht. Außerdem erlaubt der kleine Aktivierungsradius des Iridiumphotokatalysators eine räumliche Auflösung selbst zwischen verschiedenen Oberflächenproteinen. Bei der gezielten Markierung von CD45, CD29 und CD47 in lebenden Zellen identifizierte die µMap-Proteomik mehrere unterschiedliche Proteingruppen, darunter auch bisher unbekannte Wechselwirkungen.
Dieses Konzept wurde rasch in vielen Anwendungen genutzt.17) Forschende integrierten Photokatalysatoren in virale oder bakterielle Komponenten, um die Wechselwirkungen zwischen Wirtszellen und Krankheitserregern zu untersuchen.19–21) Sie konjugierten Iridiumkatalysatoren an kleine Moleküle, die als Arzneimittelkandidaten untersucht werden, und ermöglichten so eine entfernungsbasierte PAM von PPIs des Zielproteins mit Nachbarproteinen.22) Zudem wandelten sie Aryl(trifluormethyl)diazo-Verbindungen mit einem Osmium-basierten Photokatalysator und rotem Licht in Carbene um23) – ein Meilenstein für Anwendungen mit Tiefenlichtbestrahlung im Gewebe.
Ausblick
Diazirine lassen sich in Proteinen, Lipiden und anderen Biomolekülen einsetzen, und indirekte Anregungsmethoden ermöglichen hohe räumliche Auflösung. Dadurch wird sich zunehmend detaillierter in die räumlichen Beziehungen zwischen Biomolekülen blicken lassen, um die grundlegenden Prozesse des Lebens besser zu verstehen.
Drei Fragen an die Autorin: Nadja Simeth
Welche Methode hat sich in den letzten zwölf Monaten aus Ihrer Sicht am meisten weiterentwickelt?
Wir haben KI-Tools mehr in die Lehre und die Graduiertenausbildung eingebracht, Regularien geschaffen und bringen den Studierenden bei, die Tools reflektiert zu nutzen.
Was sind derzeit Ihre Hauptforschungsprojekte?
Wir arbeiten an chromoselektiven Molekülen und Reaktionen, um die Komplexität der Lichtkontrolle zu realisieren, und erforschen lichtkontrollierbare Biomakromoleküle. Multifunktionelle Markierungsmethoden wenden wir in der optischen Mikroskopie an, und wir untersuchen die Strukturaktivitätsbeziehungen unserer Chromophore, besonders in wässriger Lösung.
Was brauchen Sie heute, was Sie im Studium nicht gelernt haben?
Für unsere Forschung brauche ich mehr Aspekte meiner Ausbildung, als ich während des Studiums gedacht hätte … Das liegt vor allem am interdisziplinären Charakter unserer Projekte.
Nadja A. Simeth studierte Chemie und promovierte an der Universität Regensburg. Nach einem Postdoc in der Gruppe von Ben L. Feringa in Groningen wurde sie 2021 als Juniorprofessorin an die Universität Göttingen berufen und im April 2025 verstetigt.
Historie: Photoaffinitätsmarkierung
Im Jahr 1962 führten Westheimer und sein Team das Konzept der Photoaffinitätsmarkierung (PAM) in die biomedizinische Forschung ein.6,7) Sie nutzten ein bifunktionelles Reagenz mit einer para-Nitrophenyl-Einheit als Abgangsgruppe und einer Diazoacetat-Gruppe, um Chymotrypsin kovalent zu markieren. Die Photolyse des Diazoacetylchymotrypsins beobachteten sie mit Radiochemie. Daraufhin schlugen sie ihre Methode als allgemeine Herangehensweise vor, um Enzymzentren zu markieren und zu charakterisieren. Ab den 1970er Jahren wurde das Konzept als PAM8) bezeichnet und ist inzwischen eine unverzichtbare Forschungsmethode.9)
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- 2 A. V. West, G. Muncipinto, H.-Y. Wu et al., J. Am. Chem. Soc. 2021, 143, 6691–6700
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- 4 S. F. Musolino, Z. Pei, L. Bi et al., Chem. Sci. 2021, 12, 12138–12148
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- 12 T. Nguyen, T. F. Gronauer, T. Nast-Kolb et al., Angew. Chemie 2022, 134, e202111085
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