Forschende bauen Diazirine in Biomoleküle ein, um diese zu vernetzen und zu markieren – so finden sie heraus, was Proteine und Lipide tun und mit welchen anderen Teilchen sie interagieren. Mit KI-Werkzeugen oder Bor-haltigen Aminosä...
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Maßgeschneiderte Enzyme werden Wirklichkeit/Trendbericht Biochemie 2025 (2/3)
Von Wiley-VCH zur Verfügung gestellt
Forschende bauen Diazirine in Biomoleküle ein, um diese zu vernetzen und zu markieren – so finden sie heraus, was Proteine und Lipide tun und mit welchen anderen Teilchen sie interagieren. Mit KI-Werkzeugen oder Bor-haltigen Aminosäuren lassen sich Enzyme mit neuen Funktionen designen, und erstmals wurde am Rechner ein Enzym mit katalytischer Triade entworfen. Durch Spatial Proteomics, Bildgebung und Massenspektrometrie sowie mikroskopiegesteuerte Photo-Biotinylierung lassen sich Proteine in ihrer direkten Umgebung analysieren.
Maßgeschneiderte Enzyme werden Wirklichkeit
Schon im Jahr 1894 beschrieb Emil Fischer die hohe Spezifität von Enzymen mit dem Schlüssel-Schloss-Prinzip1) und träumte davon, eines Tages künstliche Enzyme zu schaffen. Heute, über ein Jahrhundert später, werden maßgeschneiderte Biokatalysatoren tatsächlich greifbar. Enzyme sind effiziente Katalysatoren: Sie umgeben ihre Substrate mit elektrostatisch fein abgestimmten Netzwerken aus reaktiven und bindenden Seitenketten, deren funktionelle Vielfalt organische und metallische Kofaktoren erweitert.
Diffusionslimitierte Enzyme arbeiten am oberen physikalischen Limit der Katalyse und übertreffen damit typische kleine homogene Katalysatoren aus der organischen oder metallorganischen Chemie. Gelänge es, schnell effiziente künstliche Enzyme für beliebige Reaktionen zu entwickeln, wäre das ein Meilenstein in der Synthese.
Enttäuschender Beginn
Natürliche Enzyme werden seit Jahrzehnten in der industriellen Biokatalyse, der Waschmittelherstellung und der Biomedizin genutzt. Doch Enzyme nicht nur abzuwandeln, sondern maßgeschneiderte Enzyme ohne natürliches Vorbild für neue Reaktionen zu entwickeln, bleibt eine Herausforderung. Die Vielzahl der Wechselwirkungen zwischen hunderten Aminosäuren mit zwanzig möglichen Seitenketten in einer dynamischen Struktur macht das rationale Design funktionaler Proteine zu einem scheinbar unlösbaren dreidimensionalen Puzzle. Wie Linus Pauling im Jahr 1946 erkannte, müssen Enzyme den Übergangszustand einer chemischen Reaktion spezifisch binden, um effizient zu katalysieren.2) Man dachte, das Immunsystem könnte dieses Puzzle lösen, indem es Antikörper gegen stabile Analoga von Übergangszuständen erzeugt, um enzymartige Aktivitäten zu entfalten.3) Doch trotz eleganter Theorie erwies sich diese Strategie in der Praxis als begrenzt – es ergaben sich zwar Katalysatoren, sie waren aber nicht effizient genug.
Lösungsansätze
Seit den 1990er Jahren lassen sich Enzymdesign-Ansätze in fünf Kategorien einteilen. Das rationale, strukturbasierte Design nutzt hochaufgelöste Proteinstrukturen, um gezielt funktionelle Mutationen einzuführen – allerdings scheitert dies oft daran, dass die Wechselwirkungen zu komplex sind. Datenbasierte Methoden wie die Homologiemodellierung leiten aus Sequenzdatenbanken stabilere Varianten ab, eignen sich aber nicht zur Einführung neuer katalytischer Funktionen. Ausschließlich physikbasierte molekulardynamische und quantenmechanische Simulationen sind präzise, jedoch zu rechenintensiv, um sie angesichts der großen Enzym-Ligand-Komplexe auf große Mutantenbibliotheken anzuwenden und für Enzymdesign zu verwenden.
Erfolgreicher im Enzymdesign sind Programme wie Rosetta, die vereinfachte, teilweise empirische Scoring-Funktionen nutzen. Diese sind weniger rechenaufwendig als rein physikbasierte Methoden und erlauben, viele energetisch günstige Mutationen vorherzusagen und funktionierende aktive Zentren zu entwerfen.4) Praktisch am erfolgreichsten ist die gerichtete Evolution: Iteratives, zufälliges Mutieren und Selektieren erzeugt funktionale Varianten – ein Verfahren, das Frances Arnold 2018 den Nobelpreis einbrachte.5) Diese Methode hat dazu beigetragen, die Biokatalyse industriell zu etablieren, zeigt aber auch Schwächen: Ohne Enzymvorlage gibt es auch keine Startaktivität, die sich erhöhen ließe – so bleibt der evolutionäre Suchprozess mühsam.
Neue Mechanismen
Trotz ihrer Grenzen ist die gerichtete Evolution ein starkes Werkzeug. Inzwischen ist es Routine, die Aktivität von Designer-Enzymen durch gerichtete Evolution um zwei bis drei Größenordnungen zu erhöhen. Die im Labor entwickelten katalytischen Mechanismen weichen zunehmend von ihren natürlichen Vorbildern ab: Ein Enzym, das ursprünglich für die Morita-Baylis-Hillman-Reaktion konstruiert worden war,6) katalysiert auch die nukleophile aromatische Substitution (SNAr) von 2,4-Dinitrochlorbenzol mit Ethyl-2-cyanopropionat.7) Aufbauend auf dessen geringer Startaktivität für diese nicht-natürliche SNAr-Reaktion verbesserten Lister et al. das Enzym in drei Evolutionsrunden. Sie analysierten 41 Positionen, kombinierten sechs vielversprechende Mutationen und steigerten die Aktivität auf das 160-Fache.6,7)
Neue Aminosäuren
Manche katalytischen Mechanismen lassen sich erst mit Designer-Enzymen realisieren, die unnatürliche Aminosäuren mit neuen funktionellen Gruppen enthalten. Longwitz et al. entwickelten so ein Enzym für die Bor-Katalyse und verbesserten es durch gerichtete Evolution.8) Sie integrierten die unnatürliche Aminosäure para-Boronophenylalanin biosynthetisch per Stopcodon-Unterdrückung in den bakteriellen Transkriptionsregulator LmrR. Indem das entstandene „Borenzym“ die Affinität des Boratoms zu Diolen nutzt, stabilisiert es ein Reaktionsintermediat bei der Oximbildung aus Hydroxyketonen (Abbildung 1). Die Reaktion ist enantioselektiv und trennt so racemische Hydroxyketone.
Neue Metalle
Es sind keine natürlichen Enzyme bekannt, die Goldverbindungen nutzen. Um AuI-Zentren in Proteine einzubauen, erweiterten Veen et al. eine Proteinsequenz um die unnatürliche Aminosäure 4-Mercaptophenylalanin.9) Das Protein LmrR bindet mit diesem Rest ein Goldatom. Das so geschaffene künstliche Goldenzym katalysiert effizient die intramolekulare Hydroaminierung von 2-Ethynylanilinen zu Indolen. Ein anderes, für die Biochemie ungewöhnliches Metall wählte die Arbeitsgruppe von Cathleen Zeymer: Sie entwickelte ein künstliches Metallenzym mit dem Lanthanid Cer, das als Photoredoxkatalysator agiert.10)
Durchbruch in der Strukturvorhersage
KI-gestützte, hochaufgelöste Proteinstrukturvorhersagen, wie sie seit dem Jahr 2021 möglich sind, haben das Computerdesign von Enzymen auf ein neues Niveau gehoben – und setzen eine Entwicklung in Gang, die die gerichtete Evolution in Zukunft zumindest teilweise ablösen könnte (siehe auch Beck, Trendbericht Physikalische Chemie 2024).11) Besonders die Fähigkeit, nicht nur das Proteinrückgrat, sondern auch die Ligandenbindung präzise vorherzusagen, eröffnet neue Möglichkeiten für das rationale Design funktionaler Proteine. Strukturvorhersage-Tools wie AlphaFold 312) liefern zwar keine fertigen Designs, sind aber wichtig: Mit ihnen lässt sich schnell und verlässlich vor der Synthese im Labor prüfen, ob eine computergenerierte Sequenz die gewünschte Faltung annimmt und ein aktives Zentrum korrekt ausbildet. Diese Validierungsschleife verringert Fehlversuche in In-silico-Designprozessen – ein wichtiger Schritt zur planbaren Entwicklung neuartiger Enzyme.
Durchbruch im Proteindesign
Der Entwurf neuer Proteine in silico ist in der Regel zweistufig: Ein Programm definiert die dreidimensionale Faltung des Peptidrückgrats, also die räumliche Anordnung der Cα-Atome und die Sekundärstruktur. Ein anderes versieht dieses Rückgrat mit passenden Seitenketten, die die gewünschte Konformation stabilisieren und eventuell katalytisch aktiv sind.
KI-Modelle unterstützen beide Schritte. Diffusionsmodelle wie RFDiffusion All-Atom erzeugen neue Proteinrückgrate, die sich an Struktur- oder Funktionsvorgaben anpassen lassen – etwa die Form eines aktiven Zentrums oder die Position eines Liganden.14) Anschließend wird ProteinMPNN verwendet: ein Modell auf Basis von Graph-Neuronalnetzen, das eine Aminosäuresequenz vorhersagt, die wahrscheinlich genau diese Faltung einnimmt.15)
Mit Protein-Sprachmodellen wie ESM2,16) die Proteinsequenzen ähnlich handhaben wie ChatGPT einen Text, lassen sich Enzyme ebenfalls optimieren. Sie helfen, in der gerichteten Evolution aussichtsreiche Mutationen zu priorisieren und unproduktive evolutionäre Pfade zu vermeiden.17)
Durchbruch im Enzymdesign
Serinhydrolasen sind nicht nur ein beliebtes Lehrbeispiel für die mechanistische Enzymologie, sondern dienen als Testfall für computergestütztes Enzymdesign. Für eine effiziente Katalyse müssen drei Aminosäurereste (Serin, Histidin, Asparaginsäure) in einer katalytischen Triade produktiv interagieren und durch weitere Reste unterstützt werden. Diese Interaktionen erfolgen über mehrere abgestimmte Reaktionsschritte. Eine aktive Tasche mit dieser funktionellen Komplexität zu entwerfen, ist eine Nagelprobe für das Enzymdesign. Frühere Designs deaktivierten sich oder stabilisierten die Übergangszustände nicht ausreichend.18)
Die Forschungsgruppe um David Baker hat dieses Problem mit einem modularen Deep-Learning-Ansatz gelöst.19) Zunächst definierten sie eine theoretisch ideale aktive Tasche (Theozym) (Abbildung 2). Um diese Tasche herum konstruierten sie mit der Software RFDiffusion ein passendes Proteinrückgrat. Anschließend generierten sie mit LigandMPNN eine Sequenz, die sich stabil in diese Struktur faltet und günstige Wechselwirkungen mit dem aktiven Zentrum eingeht. Entscheidend für den Erfolg war schließlich der Einsatz des Tools Protein-Ligand Atomistic Conformational Ensemble Resolver (Placer): Es prüft, ob ein einzelner Übergangszustand geometrisch passt und bewertet mehrere Reaktionszustände entlang des Katalysewegs, wobei es konformationelle Vielfalt einbezieht. Designs wurden nur akzeptiert, wenn ein Großteil der Placer-Strukturvorhersagen eine korrekte Anordnung aller aktiven Reste zeigte. Damit liefert die Arbeit von Lauko et al. einen vielversprechenden Bauplan, um spezifische und effiziente Enzyme zu entwickeln. Placer kontrolliert lediglich die konformationelle Vielfalt im Enzymdesign; Merlicek et al. haben eine Design-Pipeline entwickelt, die zusätzlich elektrostatische Effekte auf die Stabilisierung des Übergangszustands berücksichtigt.20)
Eine neue Ära der Biokatalyse
Der Designprozess der Serinprotease von Lauko et al. ist noch nicht voll automatisiert. Er stützt sich auf mehr als 60 Jahre mechanistische Forschung zu natürlichen Serinproteasen und erfordert weiterhin Experteneinsatz. Dennoch beeindruckt die Aktivität der De-novo-Hydrolasen: Ihre katalytische Effizienz reicht an natürliche Enzyme heran. Bei der Suche nach Startaktivität für neue Reaktionen bietet das rechnergestützte De-novo-Design endlich eine ernsthafte Alternative zum aufwendigen Screenen natürlicher Enzyme.
Mit maßgeschneiderten Enzymen lassen sich neue Syntheserouten erschließen, umweltfreundlichere Produktionsprozesse schaffen und molekulare Diagnostiksysteme gezielt verbessern. Eingebettet in synthetische Mikroorganismen und komplexe künstliche Reaktionsnetzwerke könnten de novo entworfene Enzyme künftig beitragen, chemische Synthesen nachhaltig und effizienter zu gestalten.
Der Autor hat beim Editieren dieses Manuskripts ChatGPT genutzt.
Drei Fragen an den Autor: Hajo Kries
Ihre Forschung in 140 Zeichen?
Wir arbeiten an nichtribosomaler Biosynthese von Peptiden, die wir durch Mutagenese und Enzymdesign verändern, um neue Wirkstoffe zu erhalten.
Welcher Trend ist in den letzten zwölf Monaten aufgekommen, den Sie so nicht erwartet haben?
Ich dachte, Googles Alphafold-Team würde die Strukturvorhersage von Proteinen lange dominieren. Es ist spannend, dass akademische Teams in einigen Kategorien aufgeholt haben.
Was brauchen Sie heute, was Sie im Studium nicht gelernt haben?
Maschinelles Lernen war in der Chemie und Biochemie noch kein Thema. Zum Glück habe ich das Buch Neural Networks for Babies, um mich fortzubilden.
Hajo Kries ist Professor für Technische Biochemie an der Universität Stuttgart. Zuvor leitete er eine Nachwuchsgruppe am Leibniz-HKI in Jena. Seine Forschung fokussiert sich auf das Design und die Evolution neuartiger Enzyme für Anwendungen in Synthesechemie und Biotechnologie.
- 1 E. Fischer, Ber. Dtsch. Chem. Ges. 1894, 27, 2985–2993
- 2 L. Pauling, Chem. Eng. News 1946, 24, 1375–1377
- 3 R. A.Lerner, S. J. Benkovic, P. G. Schultz, Science 1991, 252, 659–67
- 4 G. Kiss, N. Celebi-Ölçüm, R. Moretti, D. Baker, K. N. Houk, Angew. Chem. Int. Ed. 2013, 52, 5700–25
- 5 F. H. Arnold, Angew. Chem. Int. Ed. 2018, 57, 4143–4148
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- 7 T. M. Lister, G. W. Roberts, E. J. Hossack et al., Nature 2025, 639, 375–381
- 8 L. Longwitz, R. B. Leveson-Gower, H. J. Rozeboom et al., Nature 2024, 629, 824–829
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- 10 A. S. Klein, F. Leiss-Maier, R. Mühlhofer et al., J. Am. Chem. Soc. 2024, 146, 25976–25985
- 11 T. Beck, Nachr. Chem. 2024, 72(5), 61–64
- 12 J. Abramson, J. Adler, J. Dunger, R et al., Nature 2024, 630, 493–500
- 13 B. Ingwersen, B. Höcker, Mol. Cell 2025, 85, 1260–1262
- 14 R. Krishna, J. Wang, W. Ahern et al., Science 2024, 384, eadl2528
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- 16 Z. Lin, H. Akin, R. Rao et al., Science 2023, 379, 1123–1130
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- 18 F. Richter, R. Blomberg, S. D. Khare et al., J. Am. Chem. Soc. 2012, 134, 16197–206
- 19 A. Lauko, S. J. Pellock, K. H. Sumida et al., Science 2025, eadu2454
- 20 L. P. Merlicek, J. Neumann, A. Lear et al., Angew. Chem. Int. Ed. 2025, e202507031
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