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Der Mythos von der chemiefreien Natur
Von Wiley-VCH zur Verfügung gestellt
Hier die gute Natur, dort die böse Chemie? Ein Denkfehler – denn die anthropogene und biotische Synthesechemie haben dieselbe stoffliche Grundlage.
In hoch entwickelten Industrieländern wie Deutschland existiert in der öffentlichen Wahrnehmung der Chemie eine merkwürdige Schizophrenie: Einerseits nutzt man die Produkte der industriellen Chemie, um auf hohem zivilisatorischen Niveau zu leben. Andererseits gilt „chemiefreies Leben und Konsumieren“ als ultimatives Ziel. Waschmittel- und Kosmetikindustrie etwa bewerben ihre Produkte als „natürlich“ und schwören, dass diese „keinerlei Chemie“ enthalten. Lebensmittel, die ihren Erzeugern zufolge „ohne Chemie“ hergestellt wurden, erhalten das Prädikat, besonders gesund zu sein.1)
Das war nicht immer so. Die DDR gab in den 1950er Jahren den Slogan „Chemie gibt Brot – Wohlstand – Schönheit“2) aus – obwohl die Bevölkerung besonders in Gebieten mit viel chemischer Industrie erheblich unter deren Umweltbelastungen litt. Im Westen sang der französische Philosoph Roland Barthes im Jahr 1957 eine Hymne auf die „totale Wandlungsfähigkeit des Plastik“, das bei Menschen „ein glückhaftes Erstaunen“ hervorruft, weil es ihnen „die Euphorie eines bezaubernden Gleitens durch die Natur vermittelt.“3)
Solche Ansichten rufen heutzutage – angesichts der Vermüllung der Landschaften und Meere – nur noch Kopfschütteln hervor. Das Ansehen der Chemie ist in wenigen Jahrzehnten abgestürzt. Chemie, speziell die Synthesechemie, gilt mittlerweile als Antagonist zur lebenden Natur und als Schöpferin unnatürlicher, ja geradezu widernatürlicher Erzeugnisse.4) Der Grundtenor dieser Haltung lässt sich auf die Kurzformel „Retour à la nature“ (zurück zur Natur) bringen, die Leben und Werk Jean-Jaques Rousseaus, eines französischen Philosophen des 18. Jahrhunderts, gut beschreibt.5) Diese griffige Devise wurde in der deutschen Romantik zentral und wirkt bis in die Gegenwart in vielen Umweltschutzbewegungen.
Was Natur bedeutet
Doch existiert der Gegensatz zwischen Synthesechemie und belebter Natur und damit letztlich zwischen Chemie und Biologie tatsächlich, oder ist er nur verbaler Art? Ein grundlegendes Problem ergibt sich aus dem unterschiedlichen und meist diffusen Gebrauch des Wortes Natur und dessen Adjektiven wie natürlich, unnatürlich oder übernatürlich.6) Ein Physiker hat sicher eine andere Vorstellung von Natur als ein Gärtner oder eine Malerin. In der Umgangssprache wird zudem meist kaum zwischen Natur, Umwelt und Landschaft unterschieden.7) Unter Natur wird oftmals das verstanden, was nicht vom Menschen geschaffen oder durch seine Tätigkeit kontaminiert wurde. Diese These ist nutzlos, da es mittlerweile kaum einen Bereich oder Ort auf der Erde ohne Spuren menschlichen Wirkens gibt. Zudem gibt es für das Wort Natur vielfältige metaphysische Interpretationen, die jenseits des stofflich fokussierten Interesses der Chemie liegen.
Zur Wissenschaft gehört neben dem Sammeln und Interpretieren von Daten auch die unablässige Arbeit am Begriff.8) Obwohl etymologische Betrachtungen nicht die Kraft eines Arguments haben, kann die semantische Analyse eines Begriffs hilfreich sein. Das Wort Chemie stammt aus dem Griechischen und geht auf Ausdrücke zurück, die in der Antike für die Kunst der Metallverwandlung gebräuchlich waren, die aber für unsere Diskussion von geringem heuristischen Wert sind.9)
Der Begriff Synthese hat seine ursprüngliche Bedeutung annähernd beibehalten; das altgriechische Wort sýnthesis bedeutet Zusammensetzung oder Vereinigung von Stoffen. Noch im 17. Jahrhundert unterschied der holländische Philosoph Baruch de Spinoza zwischen der schaffenden und der geschaffenen Natur (natura naturans beziehungsweise natura naturata).10) Doch bereits durch Friedrich Wöhlers Harnstoffsynthese im Jahr 1828 wurde es obsolet, zwischen menschengemachten Verbindungen und solchen Stoffen zu unterscheiden, die durch eine hypothetische vis vitalis (Lebenskraft) erzeugt wurden. Mittlerweile sind Grenzen zwischen traditioneller Laborchemie und synthetischer Biochemie kaum noch zu erkennen.
Biotische und anthropogene Synthesechemie: ein Vergleich
Gibt es weitere, grundlegende Kriterien, um zwischen Chemie und Natur zu unterscheiden? Die Etymologie des Ausdrucks Natur bietet eine Spur: Das Wort leitet sich vom lateinischen nasci ab, was entstehen oder seinen Anfang nehmen bedeutet. Folgen wir diesem Hinweis, gelangen wir zu einem Vergleich der elementaren Grundlagen von Verbindungen der Biologie, den Naturstoffen, und jenen der menschengemachten Synthesechemie. In der Naturstoffchemie spielt nur etwa ein Drittel der auf der Erde vorkommenden Elemente eine Rolle (Abbildung S. 14).11) Dabei bilden C, H, O, N, S und P zusammen über 90 Prozent der lebenden Materie bezogen auf das Trockengewicht. Offensichtlich gibt es bereits bei den Elementen Selektionsmechanismen, die bis in die Biologie hineinragen und die materiellen Grundlagen für die Evolutionstheorie nach Charles Darwin bilden.12)
Das gesamte Synthesepotenzial des PSE wird erst durch menschliches Handeln erschlossen; abiotische Elemente in Synthesen zu nutzen ist also eine Kulturleistung. Die betreffende Chemie wird deshalb in ihrer Ganzheit folgend als anthropogene Synthesechemie klassifiziert. Für die speziellen Bedingungen in einer lebenden Zelle ist der Begriff biotische Synthesechemie gerechtfertigt.
Erstaunlicherweise sind es nur wenige physikalische und chemische Parameter, die einen Einfluss darauf hatten, welche Elemente zum Aufbau höhermolekularer Naturstoffe selektiert wurden und welche nicht: Es sind Lösungsmittel, Druck, Temperatur und Sauerstoff.
Lösungsmittel
Die biotische Synthesechemie findet ausschließlich in Wasser statt und hier vorrangig bei annähernd neutralen pH-Werten.13) Chemische Elemente gelangen nur dann in biochemische Kreisläufe, wenn sie zu Beginn der Verwertungskette als wasserlösliche Salze vorliegen. Daher sind Edelmetalle nicht in biologischen Organismen zu finden; sie zu oxidieren erfordert ein stark saures Milieu. Stark saure oder basische wässrige Medien sind gleichzeitig schädlich für organische Strukturen und Prozesse, was wiederum die Selektion der chemischen Elemente beeinflusst. Starke Abweichungen vom neutralen Milieu führen zum Abbau organischer Verbindungen, etwa Estern, Acetalen oder Amiden. Struktur- und Informationsmoleküle wie Fettsäureester, Proteine, Polysaccharide oder Polynucleinsäuren ließen sich so nicht aufbauen und stabilisieren.
Im Unterschied dazu sind in der anthropogenen Synthesechemie unzählige Lösungsmittel in Gebrauch, vor allem, wenn man zu den handelsüblichen Lösungsmitteln noch Reaktionen in Reaktanden oder Produkten ohne zusätzliches Lösungsmittel hinzuzählt. Auch beim pH-Wert ist von 0 bis 12 alles möglich. Gleichzeitig entfallen Parallel- oder direkte Anschlussreaktionen in komplexen Reaktionsnetzwerken wie in der Biochemie. Die meisten Produkte werden zunächst nach der Synthese isoliert und in einem separaten Schritt weiterverarbeitet.
Druck, Temperatur und Sauerstoff
Biotische Reaktionen laufen vorzugsweise bei moderaten Drücken ab; der zum physikalischen Referenzwert geronnene Ausdruck Atmosphärendruck zeugt davon. Für die anthropogene Synthesechemie sind dagegen Verfahren unter stark erhöhten oder reduzierten Drücken normal.
Chemische Strukturen und Reaktionen der biotischen Synthesechemie sind angepasst an die moderaten Temperaturen auf der Erde. Die untere Begrenzung innerhalb von Zellen und Organismen ergibt sich aus den physikalischen Eigenschaften des Wassers. Zu hohe Temperaturen würden beispielsweise katalyseaktive Proteine denaturieren. Für die anthropogene Synthesechemie gibt es solche Temperaturgrenzen nicht.
Eine zentrale chemische Voraussetzung für höheres Leben ist Sauerstoff als Reaktionsinitiator und atomarer Bestandteil fast aller Naturstoffe.14) Die Erdatmosphäre enthält derzeit etwa 21 Prozent Sauerstoff. Viele Elemente werden zunächst oxidiert und dann in biochemische Kreisläufe integriert. Die biotische Synthesechemie ist vor allem eine Redoxchemie. Da auf der Erde von allen Elementen des PSE nur der Kohlenstoff in allen seinen (acht) Oxidationsstufen von –4 bis +4 existent und hinreichend stabil ist, ist die Biochemie fast ausschließlich eine organische Chemie. Ein Großteil der biotischen Synthesechemie lässt sich als „entschleunigte Totaloxidation des energiereichen Kohlenstoffs“ auffassen,15) mit Kohlendioxid als gasförmigem Endprodukt.
In der anthropogenen Synthesechemie lassen sich durch Ausschluss von Sauerstoff Verbindungen jener Elemente herstellen, die unter biotischen Bedingungen nicht vorkommen. Viel mehr Reaktionen und ein größerer Variantenreichtum chemischer Verbindungen sind die Folge.
Ein limitiertes System
Biotische und anthropogene Synthesechemie unterscheiden sich bei der stofflichen Basis also nur in den Bedingungen ihrer Genese und den Anschlussverwendungen, aber nicht in den Elementen. Die Bedingungen sind in der Umwelt wesentlich limitierter als im Labor oder in einer industriellen Anlage. Dass Änderungen der Umweltbedingungen auf der Erde Flora und Fauna beeinflussen, beweisen globale erdgeschichtliche Umweltkatastrophen. Dazu gehört das massive Aufkommen ungebundenen Sauerstoffs durch fotosynthetisierende Einzeller vor 700 Millionen Jahren, die mit wenigen Ausnahmen (etwa im Magen-Darm-Trakt des Menschen) alle anaerob lebenden Einzeller vernichteten.16) Im Präkambrium vor zirka 580 Millionen Jahren entzog einer Hypothese zufolge das Massenwachstum von Moosen der Atmosphäre das Treibhausgas Kohlendioxid, was zur globalen Abkühlung führte. Vor etwa 56 Millionen Jahren erhöhten große Mengen des Treibhausgases Methan (vermutlich aus Vulkanen) die Erdtemperatur um 5 °C. Das störte die komplexen biochemischen Abläufe so sehr, dass Spezies in Massen ausstarben.
Fazit
Ein Zurück zu einer halluzinierten unberührten Natur – etwa im Sinne Rousseaus – kann es nicht geben. Das Wirken des Menschen hat den Raum für stoffliche Veränderungen in der Welt erheblich vergrößert. Mittlerweile ist daher der Begriff Anthropozän in der Umweltdiskussion aufgetaucht.17) Dort, wo Produkte der anthropogenen Synthesechemie mit Umweltschutzbedürfnissen kollidieren, ist eine gesellschaftliche Abwägung der Vorteile, Nachteile und Alternativen notwendig. Auch dies ist eine Form von Evolution, in diesem Fall einer kulturellen.
Der Diskurs muss auf Basis eines fundierten chemischen Allgemeinwissens geführt werden und darf sich nicht in metaphysischen Sphären auflösen oder in begrifflichen Widersprüchen versanden. Wer die stoffliche Seite der belebten Natur verstehen will, muss zunächst die zugrundeliegende Chemie verstehen. Es gilt der Grundsatz: Nur logisch geklärtes Wissen ist selbstbewusstes Wissen18) – eine Haltung, die sich aufgeklärte und optimistische Verteidiger der Chemie zu eigen machen sollten.
AUF EINEN BLICK
In modernen Mediengesellschaften wird ein Gegensatz zwischen Chemie und Natur konstruiert, der die Reputation der chemischen Industrie und das kognitive Potenzial der Naturwissenschaft Chemie bedroht.
Anthropogene und biotische Synthesechemie unterscheiden sich stofflich nicht in der chemischen Basis, sondern nur in den Rahmenbedingungen: Erstere unterliegt nicht den Einschränkungen der Umweltbedingungen auf der Erde.
Die anthropogene Synthesechemie und ihre Produkte sind der kulturellen Evolution unterworfen, die ihre Basis in der Vernunft des Menschen hat und haben muss.
Der Autor
Diesen Beitrag hat Armin Börner verfasst. Er lehrte bis 2020 als Professor für Organische Chemie an der Universität Rostock und ist nach der Pensionierung auch weiterhin als Bereichsleiter am Leibniz-Institut für Katalyse tätig. Seit einigen Jahren beschäftigt er sich mit philosophischen Aspekten der Chemie und der biologieorientierten Propagierung der Chemiedidaktik in der Gesellschaft. Der Dank des Autors gilt Christian Schnurr, derzeit Doktorand an der Universität Augsburg, für hilfreiche Diskussionen zum Begriff der Natur bei Rousseau.
- 1 Zwischen Faszination und Verteufelung: Chemie in der Gesellschaft [Hrsg. M.-D. Weitze, J. Schummer, T. Geelhaar], Springer Spektrum, 2017
- 2 Beschluss der Leitung des Zentralkomitees der SED und der Staatlichen Plankommission, Leuna 3.– 4.11.1958
- 3 R. Barthes, Mythen des Alltags, Suhrkamp, 2012
- 4 Ch. Schnurr, Ist das natürlich oder ist da Chemie drin?, GAIJA 2022, 31/2, 94–102.
- 5 H. Meier, Über das Glück des philosophischen Lebens. Reflexionen zu Rousseaus Rêveries, C. H. Beck, 2011
- 6 G. Schiemann, Natur – Kultur und ihr Anderes, In Handbuch der Kulturwissenschaften, Grundlagen und Schlüsselbegriffe, Band 1 [Hrsg. F. Jaeger, B. Liebsch; J. B. Metzler], 2004, 60–75; J. Schummer, The notion of nature in chemistry, Stud. Hist. Phil. Sci. 2003, 34, 705–736
- 7 H. Küster, Die Entdeckung der Landschaft: Eine Einführung in eine neue Wissenschaft, C. H. Beck, 2012
- 8 R. Ruffing, Hegel lesen und verstehen: Eine Einführung, UTB GmbH, 2024
- 9 Chemie – Schreibung, Definition, Bedeutung, Etymologie, Synonyme, Beispiele, DWDS, dwds.de/wb/Chemie (abgerufen am 05.06.2024)
- 10 B. de Spinoza, Die Ethik nach geometrischer Methode dargestellt, De Gruyter Akademie Forschung, 2006
- 11 ein Beispiel publiziert vom Helmholtz-Zentrum in Dresden: hzdr.de/FWR/MOMI/Periodensystem.gif (abgerufen am 25.04.20205)
- 12 A. Börner, J. Zeidler, Chemie der Biologie. Basis und Ursprung der Evolution, Springer Spektrum, 2022
- 13 Eine Ausnahme bildet beispielsweise das stark salzsaure Milieu des menschlichen Magens. Durch Pufferung wird dem Abbau der Schleimhaut entgegenwirkt. Gleichzeitig werden geschädigte Zellen kontinuierlich nachgebildet.
- 14 N. Lane, Oxygen: The molecule that made the world, Oxford University Press, 2016
- 15 A. Börner, Chemie. Verbindungen fürs Leben, wbg, 2019
- 16 L. Margulis, D. Sagan, The Oxygen Holocaust, In Microcosmos, University of California Press, 1997, Chapter 6
- 17 S. Tietz, Ausrufung des Anthropozäns: Ein gut gemeinter Mahnruf. In Neue Züricher Zeitung, 04.11.2016
- 18 S. Herzberg, Wahrnehmung und Wissen bei Aristoteles. Zur Epistemologischen Funktion der Wahrnehmung, De Gruyter 2012
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