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Prof.Dr.Dr.h.c.

Das größte zusammenhängende Waldgebiet der Erde befindet sich in Russland. Russland verfügt heute über 22 Prozent der mit Wald bewachsenen Fläche und über 21 Prozent des Holzvorrats weltweit. Es war und ist folgerichtig, für die Bewirtschaftung dieser Naturressource Fachleute auszubilden. Auf Erlass und in Gegenwart von Zar Alexander I. wurde bereits am 19. Mai 1803 das St. Petersburger Forstinstitut gegründet. Viele der Lehrkräfte waren in den Anfangsjahren Deutsche oder hatten einen engen Bezug zu Deutschland; Deutsch war über lange Zeit die wichtigste Fremdsprache im russischen Reich.


<h2>Chemiker an der Forsttechnischen Akademie</h2>
Die besondere Bedeutung der chemischen Ausbildung begann mit der Berufung des Chemikers Alexander Borodin (1833 — 1887) im Jahr 1862. Er gehörte zu den berühmten Petersburger Chemikern, Dimitri Mendelejew, Alexander Butlerov und Nikolai Zinin. Borodin war zudem Komponist; Weltruhm erlangte er unter anderem durch die Oper “Fürst Igor”. Borodin war gerade von einem dreijährigen Studienaufenthalt in Europa zurückgekehrt, unter anderem war er bei Bunsen und Erlenmeyer in Heidelberg gewesen.
Von wesentlicher Bedeutung für die Entwicklung der Chemie an der Forsttechnischen Akademie St. Petersburg war das Wirken von Vasiliy Krestinskij (1882 — 1939). Er war Mitglied der Deutschen Chemischen Gesellschaft und setzte von 1929 bis 1939 nach einem Studienaufenthalt an der Universität Göttingen bei Otto Wallach seine Arbeiten über Terpene an der Forsttechnischen Akademie fort.
Hervorzuheben ist auch das Wirken von Nikolai Nikitin, der unter anderem auch im Jahr 1923 zu einem Studienaufenthalt bei Gustav Tammann an der Universität Göttingen war und dessen Fachbuch “Chemie des Holzes” im Jahr 1955 im Akademie-Verlag Berlin in deutscher Sprache erschien.
Chemiker haben über viele Jahre die Forsttechnische Akademie als Rektoren geleitet: von 1952 bis 1963 Vladimir Nikitin, von 1964 bis 1973 Viktor Sharkow und von 1973 bis 1985 Alexei Kiprianov.
Wesentliche Grundlagen zur chemischen Nutzung der Waldprodukte wurden in St. Petersburg ausgearbeitet: Prozesse für die Zellstoff- und Papierindustrie, für die Holzhydrolyse und die mikrobiologische Weiterverarbeitung der erhaltenen Zuckerlösungen, für die thermochemische Holzveredlung, für die Nutzung der Grünmasse der Bäume sowie für die Span- und Faserplattenindustrie.


<h2>Michail Zarubin und die Kooperation mit Tharandt</h2>
Unter den Chemikern aus neuerer Zeit an der Forsttechnischen Akademie ragt Michail Zarubin heraus. Am 10. Dezember begeht er seinen 85. Geburtstag und nimmt immer noch aktiv am akademischen Leben teil. Zarubin war seit dem Jahr 1962 Dozent an der chemischen Fakultät der Forsttechnischen Akademie und leitete dort seit 1972 die Professur für organische Chemie. Neben seiner wissenschaftlichen Arbeit engagierte er sich für die internationale Zusammenarbeit. So war er unter anderem von 1967 bis 1971 am Institut für Erdöl und Erdgas in Algier tätig und hatte hier auch eine Gastprofessur. Von 1984 bis 1992 leitete er ein französisch-russisches Forschungsprojekt zu holzchemischen Verfahren; in Grenoble war er ebenfalls Gastprofessor. Seit dem Jahr 1990 ist er Vorsitzender der Expertenkommission zur Chemie der pflanzlichen Ressourcen bei der Unesco. Mehrfach besuchte er die TU Dresden und das Institut für Pflanzenchemie in Tharandt, etwa zu einem internationalen Symposium der Akademie der Wissenschaften der DDR und der TU Dresden im Jahr 1980, als er über Veränderungen am Lignin bei der oxidativen Delignifizierung des Holzes sprach.
Dass — besonders in den 1960er bis 1990er Jahren — ein intensiver Austausch zwischen der chemisch-technischen Fakultät der Staatlichen Forsttechnischen Akademie St. Petersburg und dem Institut für Pflanzenchemie der TU Dresden in Tharandt stattfand, war kein Zufall. In Tharandt, wo Julius Stöckhardt Mitte des 19. Jahrhunderts gelehrt hatte [Nachr. Chem. 2008, 56, 1253], besaß die Chemie im Vergleich zu anderen akademischen forstlichen Bildungsstätten in Deutschland einen hohen Stellenwert. Stöckhardts “Schule der Chemie” war das Standard-Lehrwerk für die chemische Ausbildung im 19. Jahrhundert; er war damals führend in der Agrikulturchemie und der Rauchschadens-(Immissions-)Forschung. In der Folge haben die Nachfolger bis heute wesentliche Beiträge zur Forst-, Holz- und Umweltchemie meist in Zusammenarbeit mit anderen Forschungseinrichtungen und der Industrie erarbeitet und in der Lehre viele Studenten aus verschiedenen Fachrichtungen in diese Spezialgebiete der angewandten Chemie eingeführt.


<h2>Die Chemie an der Forsttechnischen Akademie heute</h2>
Michail Zarubin war von 1980 bis 1985 Dekan der chemisch-technologischen Fakultät und von 1985 bis 1996 Prorektor für Lehre der St. Petersburger Staatlichen Forsttechnischen Akademie.
Von grundlegender Bedeutung waren unter anderem seine Arbeiten über die sauren (Elektronenakzeptor-) und basischen (Elektronendonator-) Zentren in den makromolekularen Strukturen des Lignins. Die daraus abgeleiteten Betrachtungen zu den Destruktions-, Kondensations- und Löseeigenschaften des Lignins in Säuren, Basen und Lösungsmitten sind für das Verständnis und die Beeinflussung der technischen Prozesse der Holzverwertung äußerst wichtig.
Weiterhin sind seine Arbeiten über die Grundlagen der Holz- und Ligninthermolyse sowie zu den Inhaltsstoffen der flüssigen Produkte aus der Holzpyrolyse und deren Auftrennung zur Gewinnung von Gerbstoffen, Zusatzstoffen zu Beton und Ton wissenschaftlich und technisch bedeutsam.
In der Professur für organische Chemie, die Zarubin bis ins Jahr 2011 leitete, erarbeite die Arbeitsgruppe von Andrey Rudenko wichtige Grundlagen zur Umwandlung von Phenolen durch Supersäuren (zum Beispiel Fluorsulfonsäure) als Basis für die Destruktion des Lignins bei niederen Temperaturen.
Seit dem Jahr 2011 leitet Alexander Vasiljev die Professur. Er war unter anderem zwei Jahre an der Universität Houston und als Gastprofessor an der Universität Straßburg tätig. Das Lehr- und Forschungsgebiet der Professur umfasst die Grundlagen der Chemie, organische Chemie, Chemie der Holzverarbeitung und der pflanzlichen Rohstoffe, Biochemie, Umweltchemie und Terpenchemie.


<h2>Zusammenarbeit wieder beleben</h2>
Die Forsttechnische Akademie in St. Petersburg ist immer noch international ausgerichtet. So organisierte die Akademie unter anderem im Jahr 2011 die Konferenz “Erneuerbare Holz- und Pflanzenressourcen — Chemie, Technologie, Pharmakologie, Medizin”. Diese Themen sind auch für die chemische Forschung in Deutschland relevant. Deshalb bietet es sich an, die Kooperation mit dieser akademischen Lehr- und Forschungsstätte neu anzubahnen oder wieder zu beleben — und so an eine gute und förderliche Tradition der wissenschaftlichen Zusammenarbeit anzuknüpfen.
Otto Wienhaus, Jahrgang 1937, war bis zum Jahr 2002 Professor für Pflanzenchemie und Ökotoxikologie an der TU Dresden. Er studierte Forstwirtschaft und Chemie an der TH/TU Dresden, promovierte im Jahr 1975 und habilitierte sich dort 1984/1990. Seine Forschungsgebiete waren Holz-, Lignin- und Polysaccharidchemie, Bindemittel für Holzwerkstoffe unter Verwendung natürlicher Phenole, thermische Veredlung von Holz und Vegetationsschäden durch Luftverunreinigungen. Seit 2006 ist er Ehrendoktor der St. Petersburger Staatlichen Forsttechnischen Akademie.



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<li>
1 

Autorenkollektiv, Sankt-Peterburgskaja Gosudarstvennaja Lesotechnitscheskaja Akademija, 200 let, Sankt-Peterburg 2003, ISBN 5—9239—0037—8.
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<li>
2 

M. Ja. Zarubin, A. V. Vasilijev, D. A. Ponemarev, 80 let Kafedra Organitscheskoj Chimii Lesotechnitscheskoj Akademii SPb: SPbGLTA, 2009, 94.
</li>
<li>
3 

C. Semisch, “Doppelbegabung, Alexandr Porfirevitsch Borodin”, Kultur und Technik 1/1988, 14—24.
</li>
<li>
4 


P. Auerhammer, 
“<article-title>Rußlands Forstwirtschaft</article-title>”, 
<source>Wald und Holz
(2003), 
84, 
44–<lpage>48.</lpage>
</li>
</ul>

Artikel

Chemie für den russischen Forst

Während der NS-Zeit dominierte eine Gruppe regimetreuer Chemiker in Göttingen die akademische Welt “Großdeutschlands”.1—3 Dazu gehörten neben Peter Thiessen und Rudolf Mentzel die Brüder Gerhart und Wilhelm Jander. Ihre Karrieren begannen in Göttingen in den 1920er Jahren. Wilhelm schrieb im Jahr 1939 den Vorläufer des Standardlehrbuchs, das Studenten auch heute noch als “Jander /Blasius — Lehrbuch der analytischen und präparativen anorganischen Chemie” kennen.4 Sein älterer Bruder Gerhart (1892 — 1961) führte das Buch nach Wilhelms Tod fort.


<h2>Kriegsdekoriert und -traumatisiert</h2>
Wilhelm Jander wurde am 2. Juli 1898 in Alt-Döbern in Brandenburg geboren.5 Er hatte drei Geschwister: Edmund, Gerhart und Hildegard. Aufgrund des Ausbruchs des ersten Weltkriegs machte er im Jahr 1915 das Notabitur und ging mit 17 Jahren freiwillig als Fahnenjunker zum 79. Infanterieregiment “von Voigts-Rhetz”.6 Gerhart Jander verfolgte indes weiter seine Karriere als Chemiker.
Wilhelm kämpfte an der russischen Front und an der Westfront. Sein Regiment nahm an vier der sechs tödlichsten Schlachten des ersten Weltkriegs teil.6 Bei der dritten Flandernschlacht im Oktober 1917 wurde Janders Regiment nahezu komplett aufgerieben oder gefangen genommen.6
Im Oktober 1917 geriet Jander während der Schlacht von Broodseinde in Gefangenschaft. Nach den Verlustlisten vom Dezember 1917 hatte er einen Durchschuss seines rechten Oberarms. Im Juni 1919 tauchte sein Name im Reservelazarett in Göttingen auf.
Kaum von seinen Kriegsverletzungen erholt, begann Wilhelm Jander, Chemie zu studieren. Er, wie auch Mentzel und andere, stürzte sich aber bald in den nächsten Krieg: Im Jahr 1920/21 machte er dabei mit, polnische Aufständische in Oberschlesien niederzuschlagen, die versuchten, Oberschlesien an die Zweite Polnische Republik anzuschließen. Im Jahr 1922 trat Deutschland Ostoberschlesien an Polen ab; Jander kehrte ebenso hochdekoriert wie zuvor aus diesem bewaffneten Konflikt zurück.5


<h2>Karriere als Chemiker</h2>
Die Kämpfe scheinen Wilhelm Janders studentischen Leistungen keinen Abbruch getan zu haben: Bereits 1922 promovierte er beim deutsch-baltischen Chemiker Gustav Tammann, dem Nachfolger von Walther Nernst als Direktor der Physikalischen Chemie in Göttingen.7
Im gleichen Jahr leitete Jander die etwa 45 Mann starke Göttinger SA, die Rudolf Mentzel später eine Zeit lang übernahm.8 Sie bestand aus ehemaligen Offizieren, Mitgliedern der Reichswehr, Freikorps-Angehörigen und Studenten. Gerhart Jander beteiligte sich im Jahr 1923 am Hitlerputsch in München und erhielt dafür später den Blutsorden; Wilhelm stand mit der SA in Göttingen bereit, um den Putsch zu unterstützen.2,9
Es folgte für Wilhelm ein Jahr Postdoc bei Otto Ruff in Breslau. Im Jahr 1924 versuchte er, an Tammanns Institut zurückzukehren — der aber unterstützte ihn aufgrund Janders politischen Engagements nicht weiter. Die Jander-Brüder gehörten zu der Zeit zu den ersten 3000 der später vier Millionen NSDAP-Mitglieder — beide erhielten später das goldene Parteiabzeichen.10
Im Jahr 1927 habilitierte sich Wilhelm Jander, unterstützt von Otto Dimroth, an der Universität Würzburg. Kurz nach Hitlers Machtergreifung erhielt Jander eine volle Professorenstelle für anorganische Chemie in Frankfurt — weniger, weil er ein herausragender Chemiker war, sondern eher aufgrund des starken Einflusses, den der Physiker, NS-Anhänger und Präsident der Deutschen Forschungsgemeinschaft Johannes Stark auf den Minister für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung Bernhard Rust ausübte. Nicht überzeugend ist jedoch die Ansicht der Historikerin Christina Eibl, die Jander “offenkundig mangelnde wissenschaftliche Eignung” attestiert.2
Jander war überdurchschnittlich, gemessen an der Zahl seiner Publikationen und deren Bedeutung: Im Jahr 1927 entwickelte er die Jander-Gleichung, welche die Kinetik von Festphasenreaktionen beschreibt.11 Von 1922 bis 1942 publizierte er mit 53 Co-Autoren 58 wissenschaftliche Artikel — unter anderem über Silikatchemie und die physikalischen Eigenschaften von Spinellen bei hoher Temperatur.5 Eine Publikation verfasste Wilhelm Jander mit seinem Bruder Gerhart,12 ansonsten gingen sie getrennte Wege. Von den NS-Größen, die in Göttingen in den 1930er Jahren Einfluss hatten, war Wilhelm Jander einer der relevantesten Wissenschaftler, dessen Arbeiten noch heute Einfluss haben.


<h2>Aktivitäten im Dritten Reich</h2>
Am 4. März 1933 veröffentlichte die NS-Zeitung Völkischer Beobachter die Unterstützungserklärung “Deutsche Universitäts- und Hochschullehrer für Adolf Hitler”. Wilhelm Jander war einer der Unterzeichner.13
Nach der Machtergreifung schrieb Jander “Gutachten” an die Minister für Inneres, Wilhelm Frick, und für Bildung, Bernhard Rust, und schüchterte so mehrere Kollegen ein. Als zeitweiliger NS-Dozentenführer war Jander einer der unangenehmsten Karrierekiller seiner Zeit. Jander war ein überzeugter Nazi seit der Weimarer Republik: Er war nicht nur in der SA aktiv, sondern weigerte sich auch, mit jüdischen Wissenschaftlern zusammenzuarbeiten. Wahrscheinlich erhielt er Hilfe von einer Auskunftsdatei, die inoffiziell an der Unibibliothek in Göttingen unterhalten wurde. Diese Datenbank gab an, ob jemand Arier oder Nichtarier war, und wurde im Jahr 1925 von Hugo Willrich und dem Greifswalder Chemiker Achim Gercke eingerichtet. Gerhart Jander lieferte regelmäßig Informationen an diese Auskunftsdatei.14
Schon vor Beginn des zweiten Weltkriegs trat Wilhelm Jander als Offizier freiwillig in die Armee ein. Er arbeitete in der Gegenspionage, weil er sich in den chemischen Grundlagen der Spionage gut auskannte, etwa mit der Herstellung unsichtbarer Tinte. Im Gegensatz zu vielen anderen Chemikern mit NS-Engagement besaß er wenig Erfahrung in chemischer Waffentechnik.
Im Jahr 1941/42 verließ Jander die Armee und wechselte auf eine Professorenstelle nach Straßburg — die Gründe dafür sind nicht bekannt.


<h2>Ein vorbildlicher Nationalsozialist</h2>
Wilhelm Jander erfüllte den Traum der NS-Propaganda “Kraft durch Freude”: Er war schlank, größer als der Durchschnitt und sportlich. Er ging in den Alpen wandern — ein typisches Hobby der Angehörigen der akademischen Elite. Viele von ihnen waren im Deutschen Alpenverein organisiert, der als Nazi-Sammelbecken bekannt war.
Jander war kein Frauenheld und ein schlechter Tänzer; lieber hielt er sich in Männerclubs auf, rauchte Zigarren und trank Wein. Im Jahr 1926 heiratete er Charlotte Müller, er hatte einen Sohn und drei Töchter. Als Vater pflegte er engen Kontakt zu seinen Kindern. Immer wenn er die Stelle wechselte, zog seine Familie mit.
Jander schreckte nicht davor zurück, Politik mit Gewalt zu verbinden. Trotzdem war ihm klar, wo die Grenzen waren, um nicht zu harsch gegen das Establishment aufzutreten, etwa im Verein Deutscher Chemiker als Mitglied der NS-Kontroll-Kommission, später offiziell Fünfer-Kommission genannt.10
Gegenüber den Unterdrückten des NS-Systems kannte Jander wenig Erbarmen. Er wollte bereits in den Jahren 1933/34 nichtarische Wissenschaftler aus dem Verein Deutscher Chemiker ausschließen lassen — ein klassisches Beispiel von vorauseilendem Gehorsam: Das NS-Establishment erwartete das zu dieser Zeit noch gar nicht.10


<h2>Wilhelms Tod</h2>
Wilhelm Jander kaute oft auf Grashalmen herum. Im Juni 1942 gelangten vermutlich so Bakterien in seinen Körper, die sich über einen verfaulten Zahn ausbreiteten, und er starb 14 Tage später, an seinem Geburtstag, dem 2. Juli, an einer Blutvergiftung.15


<h2>Das Göttinger Triumvirat</h2>
Wilhelm Janders Bruder Gerhart bildete mit zwei anderen Göttinger Chemikern ein Triumvirat3 von NS-Größen. Peter Adolf Thiessen (1899 — 1990) war charmant, manipulativ und aalglatt. Er wandelte das Kaiser-Wilhelm-Institut für physikalische Chemie und Elektrochemie in Berlin-Dahlem, dessen Direktor er als Nachfolger von Gerhart Jander im Jahr 1935 wurde, in ein modernes Volksgemeinschaftslabor um. Das Institut erhielt als einziges im Jahr 1940 die Auszeichnung “Nationalsozialistischer Musterbetrieb”.18
Thiessen half den Sowjets nach dem Krieg freiwillig dabei, Atombomben zu bauen. In der späteren DDR machte er Karriere: Er war in der Ära Ulbricht einer der höchsten wissenschaftlichen Entscheidungsträger.
Rudolf Mentzel (1900 — 1987) war manchmal grob, er traf andere Wissenschaftler nicht selten in SS-Uniform und mit Pistole, um NS-Macht zu demonstrieren; manchmal trat er auch charmant auf. Er schaffte es als einziger auf eine volle Professorenstelle mit nur einer Publikation17 und ohne Lehrerfahrung. Seine Habilitation im Jahr 1933 in Greifswald wurde von meist ehemaligen Göttingern wie Robert Fricke und Walter Hückel durchgewinkt; sie war so geheim, dass kein anderer sie überprüfen und damit sehen konnte, was für ein schlechter Wissenschaftler er war.1,3
Politisch hingegen war Mentzel sehr erfolgreich: Er wurde Johannes Starks Nachfolger als Leiter der Deutschen Forschungsgemeinschaft, Vizepräsident der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft, Leiter des Beirats im Reichsforschungsrat und pflegte enge Beziehungen zu Himmler. Mentzel war wie Hermann Göring der Archetyp des Super-Nazis — sogar äußerlich. Nach dem Krieg wurde Mentzel im Zuge der Entnazifizierung zu zweieinhalb Jahren Gefängnis verurteilt. Später arbeitete er in der Industrie und saß für mehrere Wahlperioden in den Jahren 1968 und 1972 für die CDU im Gemeinderat Bassum.
Übersetzung aus dem Englischen: Brigitte Osterath


<h2>QUERGELESEN</h2>
Der Chemiker Wilhelm Jander war überzeugter Anhänger des Nationalsozialismus: Er leitete die Göttinger SA, erhielt das goldene NSDAP-Parteiabzeichen und arbeitete nicht mit jüdischen Wissenschaftlern zusammen.
Trotz seines NS-Engagements betrieb er ernsthafte Wissenschaft. Er forschte an Silikatchemie und Spinellen und stellte die Jander-Gleichung auf, welche die Kinetik von Festphasenreaktionen beschreibt. Er schrieb über 50 Publikationen.
Er ist geistiger Vater des Lehrbuchs “Jander/Blasius”.


<h2>Nazi-Brutstätte Göttingen</h2>
Göttingen war eine Stadt mit zwei Gesichtern. Hier traf die moderne, liberale, zum Teil linke Akademia auf das Milieu der antidemokratischen, antisemitischen, revisionistischen Stimmungen und Traditionen.
Tabelle 1 und 2 zeigen die soziale Struktur und die Wahlergebnisse in Göttingen im Vergleich zu anderen deutschen Städten. 89 Prozent der 41 000 Einwohner Göttingens im Jahr 1924 waren Protestanten, 8 Prozent Katholiken, 1 Prozent Juden. Die NSDAP erhielt mit 9,3 Prozent Stimmenanteil schon vor der Weltwirtschaftskrise im Jahr 1929 ungewöhnlich viel Unterstützung.
Göttingen war eine Garnisonsstadt mit 420 Soldaten und Offizieren. Die Angestellten arbeiteten hauptsächlich für die Universität mit ihren 3100 Studenten im Jahr 1923.
Folgende Besonderheiten Göttingens machten die NS-Bewegung hier besonders erfolgreich:
Niedriglohnarbeiter und ein hoher gutbürgerlicher Anteil
viele Protestanten (oft NSDAP-Wähler) 
linke Bürgertumulte in der Nachbarschaft im Freistaat Thüringen
ein signifikant hoher Prozentsatz von jüdischen Wissenschaftlern, besonders in Physik und Chemie
Militärtruppen und Studenten mit Sozialisierung im 1. Weltkrieg (signifikante NSDAP-Wähler)
Greifswald und Heidelberg kamen auf der Liste der deutschen NS-Hochburgen an zweiter und dritter Stelle.


<h2>Lese-Tipp</h2>
Wer sich in Wilhelm Janders Gedankenwelt einlesen möchte, dem sei “In Stahlgewittern” von Ernst Jünger empfohlen. In dem autobiografischen Buch beschreibt Jünger seine Zeit als Soldat an der deutschen Westfront während des ersten Weltkriegs. Es gibt große Parallelen zu Wilhelm Jander, was Alter, Herkunft und Rang angeht. Die beiden teilten ähnliche Fronterlebnisse und Militärtraditionen.16


Heinrich Kahlert studierte Geologie in Würzburg, Mineralogie/Geochemie (ín Göttingen sowie Technik- und Wissenschaftsgeschichte und promovierte an der Uni Stuttgart über technikhistorische Themen der Chemie. Er forschte an der Universität Heidelberg, dem Kernforschungszentrum Karlsruhe und dem Paul-Scherer-Institut Würlingen, Schweiz, und in Maryland, USA. In der probabilistischen Sicherheitsanalyse und deren Modellierung war, in der Evaluierung der CO2-Sequestrierung ist er selbstständig tätig. <a href="mailto:h.kahlert@bluewin.ch">h.kahlert@bluewin.ch</a>



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1 

 
</li>
<li>
1a 

 
F. Schmaltz, 
<source>Kampfstoff-Forschung im Nationalsozialismus. Zur Kooperation von Kaiser-Wilhelm-Instituten, Militär und Industrie, <publisher-name>Wallstein</publisher-name>, <publisher-loc>Göttingen</publisher-loc>, 2005;
</li>
<li>
1b 

M. Rasch, Mentzel, Rudolf, in: Neue Deutsche Biographie 17, 1994, Onlinefassung.
</li>
<li>
2 

 
</li>
<li>
2a 

C. Eibl, Der Physikochemiker Peter Adolf Thiessen als Wissenschaftsorganisator (1899—1990): Eine biographische Studie. Dissertation Universität Stuttgart 1999;.
</li>
<li>
2b 

 
F. Schmaltz, 
in: <source>Gemeinschaftsforschung, Bevollmächtigte und der Wissenstransfer: Die Rolle der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft im System kriegsrelevanter Forschung des Nationalsozialismus, Hrsg.: <person-group person-group-type="editor">Helmut Maier</person-group>, <publisher-name>Wallstein</publisher-name>, <publisher-loc>Göttingen</publisher-loc>, 2007.
</li>
<li>
3 

 
</li>
<li>
3a 

 
H. Kahlert, 
<source>Chemiker unter Hitler, Wirtschaft, Technik und Wissenschaft der deutschen Chemie von 1914—45, <publisher-name>Bernardus-Verlag</publisher-name>, <publisher-loc>Grevenbroich</publisher-loc>, 2001;
</li>
<li>
3b 

E. Blasius, G. Jander in: Neue Deutsche Biographie 10, 1974, Onlinefassung.
</li>
<li>
4 

 
W. Jander, 
<source>Lehrbuch für das anorganisch-chemische Praktikum, (mit Ausnahme der quantitativen Analyse), <publisher-name>Hirzel-Verlag</publisher-name>, <publisher-loc>Leipzig</publisher-loc>, 1939.
</li>
<li>
5 

 
</li>
<li>
5a 

 
R. Fricke, 
<source>Ber. dtsch. Chem. Ges. A/B, 
1944, 
77, 
A15–<lpage>A20;</lpage>
</li>
<li>
5b 

 
D. Beischer, 
<source>Z. Elektrochem., 
1942, 
48, 
661.
</li>
<li>
6 

H. Brandes, Geschichte des Kgl. Preuß. Infanterie-Regiments v. Voigts-Rhetz (3. Hannov.) Nr. 79 im Weltkrieg 1914-1918. Offizier-Vereinigung v. Voigts-Rhetz, Verlag August Lax, Hildesheim, o. J. (wohl 1930). Jander war Frontoffizier in den Schlachten Champagne (Herbst 1915), in der Brussilov- (Sommer 1916) und Neville-Offensive (April 1917) sowie der Flandernschlacht.
</li>
<li>
7 

 
G. Tammann, 
W. Jander, 
<source>Z. Anorg. Chem., 
1922, 
124, 
105.
</li>
<li>
8 

 
P. Madden, 
D. Mühlberger, 
<source>The Nazi Party: The Anatomy of a People's Party 1919—1933, <publisher-name>Peter Lang</publisher-name>, <publisher-loc>Bern</publisher-loc>, 2007.
</li>
<li>
9 

 
F. Hasselhorn, 
in: <source>Göttingen: Von der preußischen Mittelstadt zur südniedersächsischen Metrolpole, (Hrsg: <person-group person-group-type="editor">D. Denecke, R. von Thadden</person-group>), <publisher-name>Vandenhoeck &amp; Ruprecht</publisher-name>, <publisher-loc>Göttingen</publisher-loc>, 1999.
</li>
<li>
10 

 
H. Maier, 
<source>Chemiker im “Dritten Reich”: Die Deutsche Chemische Gesellschaft und der Verein Deutscher Chemiker im NS-Herrschaftsapparat, <publisher-name>Wiley-VCH</publisher-name>, <publisher-loc>Weinheim</publisher-loc>, 2015.
</li>
<li>
11 

 
W. Jander, 
<source>Z. Anorg. Chem., 
1927, 163; 166; 168.
</li>
<li>
12 

 
G. Jander, 
W. Jander, 
H. Maas, 
<source>Z. anal. Chem. Fresenius 
(1923), 
63, 
273.
</li>
<li>
13 

 
U. Felbor, 
<source>Rassenbiologie und Vererbungswissenschaft in der Medizinischen Fakultät der Universität Würzburg 1937—1945, <publisher-name>Königshausen und Neumann</publisher-name>, <publisher-loc>Würzburg</publisher-loc>, 1995.
</li>
<li>
14 

 
A. Szabó, 
<source>Vertreibung, Rückkehr, Wiedergutmachung Göttinger Hochschullehrer im Schatten des Nationalsozialismus, <publisher-name>Wallstein</publisher-name>, <publisher-loc>Göttingen</publisher-loc>, 2000.
</li>
<li>
15 

Persönliches Gespräch mit Dr. Helga Jander, 25. Feb. 2015.
</li>
<li>
16 

H. Kiesel, Ernst Jünger. Die Biographie, Siedler, München 2007; E. Jünger, Kriegstagebücher 1914—1918. Herausgegeben und kommentiert von Helmuth Kiesel, Klett-Cotta-Verlag, Stuttgart, 2010.
</li>
<li>
17 


W. Hückel, 
R. Mentzel et al., 
<source>Liebigs Ann., 
(1925), 
451, 
109–<lpage>32.</lpage>
</li>
<li>
18 

 
T. Steinhauser, 
J. James, 
D. Hoffmann, 
B. Friedrich, 
<source>Hundert Jahre an der Schnittstelle von Chemie und Physik: Das Fritz-Haber-Institut der Max-Planck-Gesellschaft zwischen 1911 und 2011, <publisher-name>DeGruyter</publisher-name>, <publisher-loc>New York</publisher-loc>, 2011, S. 127.
</li>
</ul>

Der Kraft‐durch‐Freude‐Chemiker Wilhelm Jander

Iod ist nicht nur ein einfach zu handhabender Feststoff, sondern löst sich auch gut in vielen organischen Lösemitteln. Es wirkt schwach oxidierend und ist ein schwaches Elektrophil. Iodlactonisierungen und Iodcyclisierungen (Abbildung 1) gehören zu den bekanntesten Beispielen für organische Reaktionen mit Iod. Bei beiden Reaktionen enthält das Endprodukt Iod, das daher stöchiometrisch eingesetzt werden muss. Ähnlich verhält es sich bei vielen Reaktionen, die das Redoxverhalten molekularen Iods ausnutzen. Im Gegensatz dazu stehen Umsetzungen mit Iod in katalytischen Mengen.
Eine der ersten iodkatalysierten Reaktionen ist bereits 100 Jahre alt. Hibbert berichtete im Jahr 1915 davon: Molekulares Iods in ppm-Mengen beschleunigt die quantitative Dehydratisierung von Diacetonalkohol (1) zu Mesityloxid (2) (Gleichung 1 in Abbildung 2).2 Neben dieser Dehydratisierung katalysieren geringe Mengen Iod weitere Reaktionen. Zehn Molprozent Iod beispielsweise reichen für die intramolekulare Michael-Reaktion des Aminochalkons (3) (Gleichung 2).3 Für die Friedel-Crafts-Alkylierung zwischen Indol (5) und einem α,β-ungesättigten Keton (6) (Gleichung 3) genügt ein Molprozent I2.4 In den beiden letzten Fällen findet ohne Iod auch nach mehreren Stunden keine Umsetzung statt, wie Kontrollexperimente zeigen.


<h2>Iod wechselwirkt mit Heteroatomen</h2>
Welche Effekte stecken hinter der katalytischen Aktivität molekularen Iods? Dessen Wechselwirkungen mit Ammoniak als Lewis-Base beschrieben Colin und Guthrie bereits in den Jahren 1814 und 1863.5,6 Beide Forscher postulierten, dass das Stickstoffatom des Ammoniaks mit Iod interagiert. Dass es sich hierbei tatsächlich um eine bindende Wechselwirkung handelt, zeigten knapp 90 Jahre später Hassel und Hvoslef.7 In der Kristallstruktur eines 1,4-Dioxan-Brom-Komplexes (Abbildung 3) beträgt der Abstand zwischen Sauerstoff und Brom 2,72 Å. Das ist deutlich kürzer als die Summe der beiden Van-der-Waals-Radien, die 3,36 Å beträgt, und belegt somit eine attraktive Wechselwirkung zwischen den beiden Atomen.
Außer mit den Lewis-Basen Ammoniak und Dioxan bildet Iod mit weiteren Verbindungen Komplexe dieser Art. So erklären sich die unterschiedlichen Farben von Iod in verschiedenen Lösemitteln: in Tetrachlorkohlenstoff oder Chloroform violett, in Benzol oder Toluol rot und in Alkoholen oder Ethern braun. Ursache sind die verschiedenen Charge-Transfer-Komplexe zwischen Iod und dem Lösemittel.9
Im Lauf der Zeit bestimmten Forscher Assoziationskonstanten für die Iodkomplexierung durch Nukleophile und fassten sie in einer Lewis-Basizitätsskala zusammen (Abbildung 4, S. 1181).8 Amine sind demnach deutlich stärkere Lewis-Basen gegenüber molekularem Iod als Ether oder Aromaten. Im Gegensatz dazu wechselwirkt Iod nur schwach mit Ketonen, Aldehyden und Estern, typischen Elektrophilen in organischen Reaktionen. In der Regel beträgt die freie Reaktionsenthalpie weniger als 5 kJ·mol—1. Dennoch hat diese Wechselwirkung einen katalytischen Effekt in Reaktionen dieser Verbindungen.


<h2>Halogenbrücken sind der Schlüssel</h2>
Auf den ersten Blick erscheint es ungewöhnlich, dass zwei Atome mit freien Elektronenpaaren miteinander wechselwirken — eigentlich sollten sich die Elektronen elektrostatisch abstoßen. Bei näherer Betrachtung sind die Elektronen anisotrop um die Iodatome verteilt: Sie bilden einen nukleophilen Gürtel senkrecht zur D-X-Bindungsachse. Über diesen gehen die Iod-atome als nukleophiler Reaktionspartner zum Beispiel Wasserstoffbrückenbindungen ein. In der Verlängerung der D-X-Bindung entsteht dadurch ein Elektronenmangel (Abbildung 5) und somit eine elektrophile Region, das σ-Loch. Über dieses σ-Loch wechselwirken iodhaltige Verbindungen mit freien Elektronenpaaren von Lewis-Basen wie Ammoniak oder Dioxan. In Analogie zu Wasserstoffbrücken, bei denen ein kovalent gebundenes Wasserstoffatom einer Donorgruppe mit dem freien Elektronenpaar eines Akzeptors (Abbildung 5) interagiert, gelten diese Bindungen als Halogenbrücken.10 Von der Stärke her halten Halogenbrücken dabei mit mittelstarken Wasserstoffbrücken mit, wobei insbesondere die höheren Homologe Brom und Iod stärkere Halogenbrücken ausbilden als Fluor oder Chlor.


<h2>Verantwortlich für Halogen- brücken: das σ*-Orbital</h2>
Auch quantenmechanische Rechnungen zeigen, dass in vielen Fällen Halogenbrücken vorliegen. In Komplexen von Iod mit den Lewis-Basen Ammoniak, Dioxan und Acetaldehyd ziehen sich Stickstoff- oder Sauerstoffatom und Iod an (Abbildung 6). Diese attraktive Wechselwirkung entsteht dadurch, dass das freie Donorelektronenpaar mit dem unbesetzten, antibindenden σ*-Orbital des Iods interagiert (n→σ*; grüne Werte in Abbildung 6). Wechselwirkungen zwischen freiem Elektronenpaar am Iod und antibindenden Orbitalen der Lewis-Basen, beispielsweise dem π*-Orbital des Acetaldehyds, wären zwar ebenfalls möglich, sind aber vernachlässigbar.
Bei Iodkatalysen können Nebenreaktionen ablaufen, die den exakten Reaktionsmechanismus verschleiern. So bildet molekulares Iod in protischen Lösemitteln wie Methanol oder Ethanol nach Gleichung 4 oder 5 in einer langsamen Reaktion Iodwasserstoff,11 analog dazu disproportioniert Iod mit starken Nukleophilen wie Alkoholaten und Aminen nach Gleichung 6.
Die Reaktionen sind vielfältig, komplex und konkurrieren untereinander. Daher konnten Forscher den Reaktionsmechanismus iodkatalysierter Reaktionen bisher nicht aufklären.


<h2>Iodwasserstoff als I2-Konkurrent?</h2>
 Iodwasserstoff verursacht mitunter versteckte Säurekatalyse. Um diese auszuschließen, verwendeten Zupan und Coautoren nicht nukleophile Basen.1 Diese fangen jedoch nicht nur HI ab, sondern koordinieren auch an molekulares Iod und desaktivieren es. Daher sagen Zupans Ergebnisse nur wenig aus.
In einigen Fällen wie der Friedel-Crafts-Alkylierung in Gleichung 3 untersuchten die Autoren neben der nicht katalysierten Reaktion, die ohne Iod nicht abläuft, den Effekt von Iodwasserstoff. Wird Iod durch Iodwasserstoff in katalytischen Mengen ersetzt, ändert sich ebenfalls nichts. Erst bei stöchiometrischen Mengen Iodwasserstoff zeigen sich nach 20 Minuten etwa zehn Prozent Umsatz. Das schließt zumindest für diese Reaktion Iodwasserstoff als Ursache der katalytischen Aktivität aus und macht eine Halogenbrückenaktivierung wahrscheinlich.4
Der genaue Reaktionsmechanismus ist für viele Fälle noch immer nicht abschließend geklärt. Auch wenn die Brønsted-Säure-Katalyse für alle iodkatalysierten Reaktionen nicht definitiv ausgeschlossen ist, erscheint die Halogenbrückenkatalyse als plausibler Aktivierungsmechanismus.
Neben molekularem Iod haben andere Katalysatorsysteme wie iodierte Fluoraromaten oder Iodazoliumsalze Potenzial für die organische Katalyse. Das bestätigen Machbarkeitsstudien der letzten Jahre (Abbildung 7).10,12,13 Möglicherweise entwickelt sich die Aktivierung über Halogenbrücken zu einem ebenso erfolgreichen Konzept wie die Wasserstoffbrückenaktivierung.


Martin Breugst, Jahrgang 1980, promovierte in organischer Chemie bei Herbert Mayr an der LMU München. Nach einem Postdoktorat bei Kendall N. Houk an der University of California, Los Angeles, leitet er seit Ende 2013 eine Nachwuchsgruppe an der Universität Köln. Seine Forschungsinteressen gelten nichtkovalenten Wechselwirkungen und der Aufklärung von Reaktionsmechanismen. <a href="mailto:mbreugst@uni-koeln.de">mbreugst@uni-koeln.de</a>



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Mit molekularem Iod katalysieren

Unähnlicher können sich zwei Isotope des gleichen Elements nicht sein. Der Atomkern von Helium-3 hat neben seinen zwei Protonen nur ein Neutron und ist damit um ein Viertel leichter als sein zweineutroniger Bruder Helium-4 (Abbildung 1). Außerdem weisen Helium-3-Kerne den Spin 1/2 auf, sind daher Fermionen und haben ein magnetisches Moment; Helium-4-Kerne mit Spin 0 sind Bosonen. Zwar sind beide Isotope Edelgase und damit chemisch inert — kernphysikalisch aber ist Helium-3 sehr reaktiv: Seine Kerne fangen Neutronen ein. Dabei bilden sich unter Energieabgabe Tritium- und 1H-Kerne, die ein Geiger-Müller-Zählrohr nachweisen kann. Das prädestiniert Helium-3 als Neutronendetektor. Aufgrund seines Kernspins ist es auch begehrt für magnetresonanztomografische Untersuchungen der Lunge und bei Neutronenpolarisationsanalysen. Außerdem ist die Mischungskühlung mit He-3 und He-4 bisher die einzige Methode, um im Labor Temperaturen unter 0,5 Kelvin einzustellen (Abbildung 2). Das Problem ist nur: Der Nachschub an Helium-3 ist extrem begrenzt.


<h2>Zerfallsprodukt des Tritiums</h2>
Nur 1,37 ppm des natürlich vorkommenden Heliums auf der Erde sind Helium-3. Es entsteht beim radioaktiven Zerfall: Tritium zerfällt mit einer Halbwertszeit von 12,3 Jahren zu Helium-3. Damit bildet sich das begehrte Isotop auch in Neutronenbomben und in den Sprengköpfen von Kernwaffen, die mit Tritium geboostert sind, um die Sprengkraft zu erhöhen. Helium-3 ist daraus regelmäßig zu entfernen.
Da das Entstehen von Helium-3 somit eng an die Existenz, die Produktion und den Abbau von Kernwaffen gekoppelt ist, sind die einzigen weltweiten Anbieter die USA und Russland. Da beide Länder ihr Atomwaffenprogramm seit Ende des Kalten Krieges zurückgefahren haben, ist der Nachschub an Helium-3 rapide gesunken — bei steigendem Bedarf.
Einige wenige Unternehmen bieten Helium-3 zum Kauf an, etwa Chemgas in Frankreich, Isoflex in den USA und Linde nach der Übernahme von Spectra Gases. Diese Unternehmen kaufen das Gas in Russland oder den USA. Vorher werden Tritiumverunreinigungen bei tiefen Temperaturen über Pd-Netze entfernt. Das passiert in den Einrichtungen der Savannah River National Laboratory in Jackson, South Carolina, für sämtliches aus den USA stammendes He-3. Mehr geben die Anbieter nicht preis. “Das Geschäft mit He-3 ist ziemlich strategisch”, sagt Jean Defler von Chemgas. Thomas Hagn, Pressesprecher von Linde, bedauert, dass sie keine genauen Informationen herausgeben dürfen: “Es gibt von Seiten der USA restriktive Auflagen, wie wir mit den Informationen über He-3 umzugehen haben.” Patrick Hardy von Isoflex ergänzt, wieso: Die Menge an entstehendem He-3 gebe “genaue Hinweise” darauf, wie das Atomwaffenarsenal eines Landes beschaffen sei.
Regelmäßig bietet das US-Energieministerium ein paar tausend Liter des Edelgases in Internetauktionen an. Das letzte Mal standen insgesamt 4000 Barliter — also 4000 Liter bei einem Druck von einem Bar — zum Verkauf, das war im August 2014.1 Forschungsinstitute können dafür bieten, müssen aber exakt angeben, was sie mit dem Gas vorhaben.


<h2>Engpass nach 09/11</h2>
In einem Papier an den US-Kongress über die Helium-3-Situation des Landes im Jahr 2010 schrieben die Autoren, dass im US-Atomwaffenprogramm 8000 Barliter Helium-3 pro Jahr entständen.2 Der zuvor über viele Jahrzehnte angehäufte Vorrat an Helium-3 sei bereits auf 50 000 Liter gesunken.
Ein Barliter Helium-3 kostet inzwischen mindestens 3000 Euro. Das war Anfang der 2000er Jahre noch anders, erinnert sich Ralf Hertenberger von der Ludwig-Maximilians-Universität München: “Zu D-Mark-Zeiten haben wir 180 D-Mark pro Barliter bezahlt.” Der Physiker untersucht in Kosmologiestudien im Tandembeschleuniger die Zustände von Atomkernen. Nutzt er Helium-3 als Ionenquelle, benötigt er davon im Durchschnitt 10 Barliter pro Woche. “Wir mussten ein Experiment mal um ein halbes Jahr verschieben, weil gerade kein bezahlbares Helium-3 zu bekommen war”, sagt Hertenberger.
Besonders kritisch wurde die Helium-3-Versorgung für Wissenschaftler im Jahr 2009. Karl Zeitelhack, Physiker an der Forschungs-Neutronenquelle Heinz Maier-Leibnitz der TU München, nennt es “den großen Schock”: Die USA verhängten einen vollständigen He-3-Lieferstopp. Das Isotop war als Bestandteil von Neutronendetektoren nach dem Anschlag vom 11. September 2001 unter anderem an US-amerikanischen Grenzen gefragt: Die US Homeland Security wollte damit geschmuggeltes radioaktives Material, etwa Plutonium, aufgrund seiner Neutronenemissionen aufspüren. Erst im Jahr 2011 startete der He-3-Verkauf wieder. “Die Situation hat sich inzwischen entspannt”, sagt Zeitelhack. “Kleine Mengen Helium-3 kann man wieder ganz regulär kaufen.” Mit kleinen Mengen meint er einige Liter.
Die US Homeland Security hat inzwischen auf Feststoffneutronendetektoren umgesattelt. Auch Bor-10 und Lithium-6 fangen Neutronen ab, außerdem erforschen die USA halogenhaltige Elpasolith-Kristalle, etwa Rb2LiYI6, und Stilben (1,2-Diphenylethen) zu diesem Zweck.3


<h2>Helium-3-Fresser</h2>
Problematisch ist es laut Zeitelhack nach wie vor, gleichzeitig mehrere hundert Barliter Helium-3 oder sogar mehr zu bekommen. Solche großen Mengen sind für Flugzeitspektrometer in der Neutronenforschung erforderlich (Abbildung 3). “Unser größter Neutronendetektor hier fasst 1300 Barliter He-3”, erklärt Zeitelhack. Einige Forschungseinrichtungen hätten sogar noch größere Modelle.
Die Neutronenforschung beschießt Proben mit Neutronen, die anschließend auf den Neutronendetektor aufprallen. Im Detektor reagieren He-3-Kerne damit zu Tritium- und 1H-Kernen.
Flugzeitspektrometer bestehen aus He-3-gefüllten Röhren und umfassen mit ihrer Auffangfläche einen großen Raumwinkel, um die Zeit, die ein Neutron von der Probe zum Detektor braucht, genau zu erfassen. So messen unter anderem Feststoffphysiker und Biologen die Energieänderung, die eine Probe bei Beschuss erfährt und ziehen Rückschlüsse auf dynamische Prozesse in der Probe, etwa Molekülbewegungen.
Helium-3 eignet sich für solche Untersuchungen besonders gut, erklärt Zeitelhack: “Die He-3-Gasdetektoren unterscheiden zwischen Neutronen und Gammastrahlung. Da sich He-3 unter Druck setzen lässt, sind sie zudem hocheffizient.” Außerdem ist He-3 als Edelgas nicht giftig und leicht zu handhaben — ein unbezahlbarer Vorteil gegenüber dem vor vielen Jahrzehnten benutzten giftigen Gas 10BF3, das ebenfalls Neutronen einfängt, inzwischen aber aus Sicherheitsgründen nicht mehr erlaubt ist.
Aber die Neutronenforscher müssen sich für die Zukunft ein neues Detektormaterial überlegen: Die USA geben keine große Mengen He-3 für den Bau neuer Neutronendetektoren mehr raus, sagt Zeitelhack: “Ein interministeriales US-amerikanisches Helium-3-Komitee hat beschlossen, dass solche Projekte keine Priorität haben und die Wissenschaftler Alternativen entwickeln müssen.” Wie schon bei der Homeland Security sind jetzt Feststoffdetektoren, beispielsweise mit Bor-10, als Ersatz im Gespräch.


<h2>Polarisieren und beschießen</h2>
In einem äußeren Magnetfeld stellt sich das He-3-Atom mehr parallel als antiparallel zum Magnetfeld, das Gas wird so selbst magnetisch. Es absorbiert besonders gut Neutronen, wenn die Spins der eintreffenden Neutronen antiparallel zum eigenen Kernspin sind. So lassen sich Neutronenstrahlen polarisieren oder der Spinzustand einer Probe in Neutronenpolarisationsanalysen bestimmen.
Mit Helium-3 untersuchen Forscher in Teilchenbeschleunigern auch Oberflächen. Das Forschungszentrum Jülich beispielsweise analysiert damit die Wandmaterialien von Kernfusionsreaktoren. Bei der Kernfusion kann sich der Brennstoff Deuterium in die Wand einlagern. Um zu erfahren, ob das passiert ist, beschießen die Forscher später im Tandembeschleuniger Stücke der Wand mit ionisiertem Helium-3. Ist Deuterium vorhanden, reagiert Helium-3 mit dem Wasserstoffisotop zu Helium-4 und einem energiereichen Proton. Dieses Proton lässt sich detektieren und so Rückschlüsse darauf zu, wie viel des Fusionsbrennstoffs sich in die Wand eingelagert hat.


<h2>Alternative Quellen</h2>
Wer mit Helium-3 forscht, versucht schon allein aufgrund des gigantisch hohen Preises so sparsam wie möglich damit umzugehen. Für neue Neutronendetektoren recyceln Forschungsinstitute wie das von Karl Zeitelhack Helium-3 aus ihren alten Detektoren wieder. Viele Forscher fangen nichtionisiertes Helium-3 in ihrem Teilchenbeschleuniger auf. Physiker Ralf Hertenberger etwa saugt alle Gase ab, friert die unerwünschten mit flüssigem Stickstoff aus und verwendet das ungenutzte Helium-3 dann wieder.
Auf lange Sicht werden Sparmaßnahmen alleine aber nicht reichen, um den Durst der Wissenschaft nach Helium-3 zu stillen. Nicht nur die Suche nach Alternativen, auch die Suche nach neuen Quellen hat begonnen.
Tritium entsteht aus Deuterium in Schwerwasserkernreaktoren. Kanada und Südkorea beispielsweise betreiben solche Reaktoren. Nach Angaben des US-Papiers2 hat die Ontario Power Generation in Kanada bereits angefangen, dieses Tritium zu isolieren und kontrolliert zu Helium-3 zerfallen zu lassen. In einigen Jahren, so munkelt man, könnte erstmals derart produziertes Helium-3 auf den Markt kommen. Patrick Hardy von Isoflex allerdings bedauert, niemals konkrete Bekanntmachungen dazu gesehen zu haben. Bisher scheint das nichts weiter als ein Gerücht zu sein.
Eine ungewöhnlicher Plan wäre es, Helium-3 auf dem Mond abzubauen (Abbildung 4). Dort hat der Sonnenwind das begehrte Isotop in der Gesteinsdecke abgelagert.4 Bisher erfolgt der Abbau allerdings rein fiktiv, etwa in Frank Schätzings Thriller “Limit”. Falls die Preise für Helium-3 aber weiter steigen, könnte diese Idee vielleicht doch Zukunftspotenzial haben.
Die promovierte Chemikerin Brigitte Osterath arbeitet als Wissenschaftsjournalistin in Bonn. <ext-link ext-link-type="uri"><a href="https://www.writingscience.de" target="_blank">www.writingscience.de</a></ext-link>



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1 

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<li>
2 

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3 

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</li>
<li>
4 

E. N. Slyuta: The Estimation of Helium-3 Probable Reserves in Lunar Regolith. In: 38th Lunar and Planetary Science Conference 2007, <ext-link ext-link-type="uri"><a href="https://www.lpi.usra.edu/meetings/lpsc2007/pdf/2175.pdf" target="_blank">www.lpi.usra.edu/meetings/lpsc2007/pdf/2175.pdf</a></ext-link>.
</li>
</ul>

Begehrter Neutronenfänger

Die Grundkomponenten in der Halbleiterindustrie basieren fast ausschließlich auf isostrukturellen Elementen und Verbindungen, die in kubischer Diamantstruktur kristallisieren. Neben Silicium eignen sich Germanium und dessen binäre Legierungen mit Elementen der vierten Hauptgruppe. Die meisten halbleiterbasierten Bauteile sind heute aus Silicium, da es einfach und gut kontrollierbar kristallisiert und leicht zu dotieren ist. Forscher strengen sich vermehrt an, Germanium zu implementieren, da Germaniumchips schneller arbeiten als solche aus Silicium. Silicium und Germanium haben eine indirekte Bandlücke und emittieren somit kein Licht. Das schränkt den Einsatz dieser beiden Elemente als optoelektronische Bauteile ein (Abbildung 1).
Bilden sich nanostrukturiertes Silicium und Germanium mit unterschiedlicher räumlicher Ausdehnung kontrolliert aus, etwa als Nanopartikel oder Nanodrähte, macht das elektronische Bauelemente effizienter und einfacher regulierbar.1,2 Die Herstellung dieser Nanostrukturen ist gut kontrollierbar — ähnlich wie Einkristallzüchtung. Die Strukturen wachsen auf nahezu beliebigen Untergründen und an beliebigen Orten und können durch selektives Heizen mit Mikroheizelementen oder die Vorgabe von Wachstumskeimen (Abbildung 2) kontrolliert werden.3 Daher sind viele Fragen nicht mehr chemischer Natur, sondern beschäftigen hauptsächlich Physiker und Ingenieure.


<h2>Kontrollierbare Dicke und Orientierung</h2>
Sollen Kristallstruktur oder Kristallisationsprozesse variiert werden, schließt die Herstellung immer festkörperchemische Prinzipien ein. Ein Beispiel ist die Umwandlung von kubischem Silicium und Germanium in ihre hexagonale Form. Kontrolliertes, mechanisches Verformen von einkristallinem, nanometerdickem Material löst diese Transformation aus. Hierbei sind Nanodrähte mit kontrollierbarer Orientierung und Dicke ein ideales Modellsystem. Eine martensitische Phasenumwandlung — also ein Verschieben entlang von Gleitebenen in einer Raumrichtung — wandelt kleine Teilbereiche in eine hexagonale Phase um. Diese hexagonalen Bereiche bleiben voneinander durch kubische Segmente getrennt.4,5 Es ergibt sich jedoch kein praktischer Nutzen aus dieser Phasenumwandlung, da sie auf kleine Bereiche der Nanodrähte begrenzt ist.
Um eine hexagonale Siliciumphase großflächig herzustellen, eignet sich ein Templat. Ein Substrat fungiert dabei als strukturdirigierende Komponente und initiiert das Wachstum von hexagonalem Silicium durch Heteroepitaxie, das heißt die orientierungsbezogene Bildung eines Kristalls auf einem anderen Kristall unterschiedlicher Zusammensetzung. Unlängst beschrieben Hauge et al. zum ersten Mal die Synthese hexagonalen Siliciums auf einem vorgefertigten Templat aus Galliumphosphid-Nanodrähten.6 In diesem Prozess wächst Silicium bei hohen Temperaturen in Lonsdaleitstruktur, also hexagonaler Diamantstruktur, und umhüllt die Drähte in kontrollierbarer Dicke (Abbildung 3A). Diese Methode ist gut kontrollierbar und basiert nicht darauf, dass das hexagonale Silicium zufällig Keime bildet. Darüber hinaus kann eine große Probenmenge oder Oberfläche beschichtet werden, was eine eindeutige Charakterisierung zulässt. Dies ist sehr wichtig, denn einzelne Nanostrukturen täuschen in der Elektronenbeugung hexagonales Silicium vor, wenn sie in verzwillingten Strukturen vorliegen.7


<h2>Wachstum und Heteroepitaxie</h2>
Nach demselben templatbasierten Prinzip sollten auch Si-Ge-Legierungen und reines hexagonales Germanium wachsen. Für die Anwendung wären diese Verbindungen weitaus interessanter. Hexagonales Germanium hat eine direkte Bandlücke, wodurch es sich in lichtabsorbierenden und -emittierenden Systemen einsetzen lässt. Jedoch hängt der Einsatz des Materials in elektronischen Bauteilen stark davon ab, wie es dotiert ist. Die Dotierung ist in der Regel beabsichtigt und wird bei der Herstellung kontrolliert.
Hexagonales Silicium wächst bei sehr hoher Temperatur auf Galliumphosphid — dabei müssen theoretisch Templatatome in das Siliciumgitter diffundieren. Ob das auch praktisch so ist, wurde zwar bisher nicht aufgeklärt, aber es verdeutlicht, dass wahrscheinlich weitere Anstrengungen nötig sind, um dieses Allotrop in Reinform zu erhalten.
Die Heteroepitaxie spielt neben der reinen Templatwirkung für Beschichtungen eine große Rolle bei der Synthese elongierter Halbleiterstrukturen. Sie ist ein oft unterschätzter Einflussfaktor, was die Bildung von Halbleiternanodrähten durch feste Wachstumskeime angeht. Der Einfluss auf das Wachstum von Materialien dieser Morphologie beschränkt sich nicht nur auf Elemente der Gruppe 14.8 Dieser Prozess wird dann als Vapor-Solid-Solid-Mechanismus (VSS) beschrieben. Keime werden dabei meist empirisch gewählt, jedoch besteht in der Regel ein kristallographischer Zusammenhang zwischen Metallpartikel und wachsendem Material.
Oft werden die Halbleiternanodrähte durch das Vapor-Liquid-Solid-Verfahren (VLS) hergestellt. Seit den 1960er Jahren ist bekannt, dass sich aus einer flüssigen Gold-Silicium-Legierung in einem Gasphasenprozess einkristalline Siliciumnanodrähte bilden.9 Während des schnellen Wachstums lagern sich jedoch Goldatome aus der flüssigen Legierung in den Siliciumkristall ein und verändern die elektronischen Eigenschaften. Das tritt weniger auf, wenn Wachstumskeime eingesetzt werden, die bei der Prozesstemperatur fest bleiben.


<h2>Epitaxie erzeugt Spiegelbild</h2>
Greifen Hersteller von Nanodrähten auf einen VSS-Mechanismus zurück, so können sie auch Effekte kontrollieren, die sonst nur zufällig auftreten. Zum Beispiel sind Zwillinge oder Stapelfehler entlang von (111)-Ebenen recht häufig in Gruppe-14-Halbleitern. Diese zweidimensionalen Defekte treten auch in Metallen mit kubisch-flächenzentrierter Struktur auf. Die Zwillingsanordnung eines Silber-Wachstumskeims lässt sich so — kontrolliert und erwünscht — auf einen wachsenden Germaniumnanodraht übertragen. Die epitaktische Beziehung zwischen Wachstumsinitiator und Material löst hierbei den Defekttransfer aus: An der Wachstumsgrenzfläche bildet der Wachstumskeim Facetten. So entstehen Verspannungen und Unebenheiten, die den sich bildenden Germaniumkristall beeinflussen. Dadurch ergibt sich eine bestimmte Anzahl lamellarer Segmente im Germaniumkristall, der so die Anordnung dieser Segmente im Silberkristall widerspiegelt (Abbildung 3B).10


<h2>Indirekter Halbleiter wandelt sich zu direktem</h2>
 Legierungen von Silicium mit Germanium sind feste Lösungen oder Substitutionsmischkristalle. Ein Blick auf die Phasendiagramme der schwereren Homologe Zinn und Blei zeigt, dass lediglich bei Zinn eine — wenn auch geringe — Löslichkeit von bis zu einem Prozent in Germanium besteht. Eine theoretische Substitution von zehn Prozent würde die physikalischen Eigenschaften der Legierung dramatisch ändern, da sich mit der Zusammensetzung der Abstand der Germaniumatome untereinander ändert. Die Änderungen umfassen einen schnelleren Ladungstransport und einen Übergang vom indirekten zum direkten Halbleiter mit kleinerer Bandlücke. Diese Umwandlung macht das Material extrem interessant für optische Anwendungen.
Damit dies funktioniert, muss die kinetisch kontrollierte Prozessführung die Thermodynamik aushebeln. So tricksen bereits seit längerem die Hersteller von Dünnschichten: Sie realisieren höhere Zinngehalte im Germaniumgitter, als das Phasendiagramm vorgibt. Dabei ist epitaktisches Wachstum bei niedrigen Temperaturen wichtig. Anschließendes Ätzen überführt die entstehenden epitaktischen Schichten in kleinere Strukturen, etwa Nanodrähte. Diese Technik führte zum ersten Laser mit ausschließlich Elementen der vierten Hauptgruppe.11
Ein neues Forschungsgebiet bilden Nanostrukturen aus solchen metastabilen Materialien, die nicht von heteroepitaktischem Schichtwachstum abhängen. Eine erste Studie zeigte, wie Ge1-xSnx-Nanopartikel aus Lösung entstehen.12 Dazu zersetzen sich thermisch Mischungen aus Germanium- und Zinnhalogeniden gemeinsam mit primären Aminen und Butyl- lithium. Jedoch beschreiben die Autoren nicht, warum diese Kombination der Edukte für die gewünschte Legierung notwendig ist. Es ist aber naheliegend, dass die eigentlich aktive Verbindung ein Metallimid sein könnte. Eine annähernd zeitgleich erschienene Studie identifizierte heterometallische Ge-Sn-Imidokubane (Abbildung 4) als Erfolgsgaranten für die Synthese von Ge-Sn-Nanodrähten.13


<h2>Die Dicke der Nanostrukturen entscheidet</h2>
Die Zersetzungsmethode, das Vorgehen zur Keimbildung und wie Ge-Sn-Nanodrähte wachsen, unterscheiden sich von den Vorgängen bei der Ge-Sn-Partikelsynthese.14 Die zinnreichen heterometallischen Imidokubane zerfallen vor den germaniumreichen Imidokubanen. Dadurch entstehen Zinnwachstumskeime, die unter den Reaktionsbedingungen flüssig sind. Sind noch nicht alle Vorstufen verbraucht und die Reaktion wird unterbrochen, ergeben sich Nanodrähte mit konstantem Durchmesser. Reflexe im Beugungsdiagramm verschieben sich, was hierbei auf den Einbau von Zinn in das Germaniumgitter hinweist (Abbildung 4C). Das Zinnpartikel bildet das Reservoir, und das Germaniumgitter baut die maximale Konzentration an Zinn ein. Dauert die Reaktion länger und verarmt die Lösung an zinnhaltiger Vorstufe, verschwindet das Zinnpartikel, während der Durchmesser der Nanodrähte sinkt — so lange, bis das Kristallgitter des Legierungsdrahts das Zinn vollständig eingebaut hat.
Beide Morphologien unterscheiden sich in der Verteilung des Zinngehalts (Abbildung 4D). Bei einem konstanten Durchmesser ist auch der Zinngehalt entlang der Nanostruktur konstant. Wird der Durchmesser verringert, beeinflusst das direkt die Zusammensetzung. Deshalb verkleinert sich der Durchmesser bei einem dünnen Draht mit vergleichsweise geringem Längenzuwachs sehr schnell. Solche Verbindungen kontrolliert herzustellen, erfordert also eine strenge Kontrolle der Wachstumsbedingungen, insbesondere wie sich Zinnwachstumskeime bilden und wie begrenzt zinnreiche Vorstufen sind.


<h2>Ausblick</h2>
Die physikalischen Eigenschaften der neuartigen nanoskaligen Halbleiterstrukturen sind genau zu evaluieren und die Synthesestrategien gegebenenfalls zu verbessern. All diese neuen Errungenschaften zeigen, dass das Herstellen von Verbindungen mit einfacher Zusammensetzung immer auch das Know-how der Chemie benötigt.


<h2>QUERGELESEN</h2>
Nanostrukturen von Halbleitern wie Silicium und Germanium sind auch als Einkristalle gut zugänglich. Template bestimmen deren Struktur.
Festkörperchemische Prinzipien sagen voraus, wie sich Kristallstruktur und Kristallisationsprozess variieren lassen — beispielsweise, wenn kubische Strukturen in hexagonale umgewandelt werden sollen.
Ein neues Forschungsgebiet hat zum Ziel, dass Nanostrukturen metastabiler Phasen ohne Heteroepitaxie in Lösung entstehen.


Sven Barth, Jahrgang 1976, ist Nachwuchsgruppenleiter am Institut für Materialchemie an der Technischen Universität Wien, wo er sich 2015 habilitierte. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen die molekülbasierte Herstellung funktioneller Nanostrukturen, deren Charakterisierung und die zugrundeliegenden Bildungsmechanismen. <a href="mailto:sven.barth@tuwien.ac.at">sven.barth@tuwien.ac.at</a>
Michael S. Seifner, Jahrgang 1990, studiert Chemie und Technologie der Materialien an der Technischen Universität Wien. Er verfasst derzeit seine Diplomarbeit in der Gruppe von Sven Barth und beschäftigt sich dort mit der Mikrowellensynthese nanoskaliger, metastabiler, germaniumhaltiger Legierungen.



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Neu zusammengesetzt: Gruppe‐14‐Elemente als Halbleiter

Pathogene Bakterien können beim Menschen zu schweren und teilweise tödlichen Erkrankungen führen. Für Infektion und Ausprägung einer Krankheit ist eine Reihe von Virulenzfaktoren verantwortlich. Diese ermöglichen es den Bakterien, im menschlichen Wirt Fuß zu fassen, sich vor dessen Immunantwort zu schützen und Nährstoffe aus dem Wirtsorganismus zu ziehen.1 Virulenzfaktoren sind beispielsweise Adhäsine, die bewirken, dass Bakterien am Wirtsgewebe anhaften, und Hämolysine, die rote Blutzellen perforieren und Nährstoffe freisetzen. Toxine schaden dem gesamten Organismus und schwächen das Immunsystem. Extrazelluläre Enzyme — darunter Proteasen, DNasen, Lipasen und Hyaluronidasen — bauen Proteine, DNA und Lipide ab oder ermöglichen, dass Bakterien sich durch das Bindegewebe ausbreiten.1
Der überwiegende Anteil dieser Virulenzfaktoren sind Proteine. Jedoch spielen auch kleine organische Moleküle eine entscheidende Rolle für die bakterielle Virulenz. Sie übertragen Signale an Zellen, koordinieren den Angriff, wirken als Toxin oder hemmen die Virulenz. Das eröffnet neue Perspektiven, Infektionskrankheiten zu behandeln.


<h2>Kommunikation zwischen Zellen</h2>
Bakterienzellen produzieren ihre Virulenzfaktoren in der Regel nicht kontinuierlich, sondern stimmen sich mit der gesamten Bakterienpopulation ab.1 Meist steuert die Populationsdichte diese koordinierte Verhaltensweise mit Signalmolekülen, durch die sich die Zell-Zell-Kommunikation verstärkt. Dieses Vorgehen heißt Quorum Sensing.
Bei geringer Populationsdichte der Bakterien ist auch die Zahl der Signalmoleküle gering. Ein Repressor verhindert dann, dass Gene abgelesen werden, die für die Virulenz verantwortlich sind — und somit auch für den Angriff der Bakterien auf den Wirtsorganismus.2 Liegen genügend Signalmoleküle vor, sorgt ein Rückkopplungsmechanismus dafür, dass die Signalmoleküle ihre eigene Produktion steigern. Haben die Bakterien eine kritische Menge erreicht, aktivieren die Signalmoleküle — die nun in hoher Konzentration vorliegen — einen Rezeptor und schalten so Virulenzgene frei. Quorum Sensing bedingt dann, dass alle Zellen einer Population gleichzeitig Toxine und andere Faktoren ausschütten. Dadurch können die Krankheitserreger das Immunsystem überwältigen und sich ausbreiten.
Verschiedene Quorum-Sensing-Signale koordinieren die Virulenz pathogener Bakterien. Grampositive Bakterien nutzen als Signalmoleküle für Quorum Sensing kurze, genetisch codierte, zyklische Peptide, autoinducing peptides. Gramnegative Bakterien dagegen verwenden nicht- ribosomal produzierte Naturstoffe.2 Die häufigste und strukturell vielfältigste Substanzklasse dieser Naturstoffe bilden die N-Acylhomoserinlactone (AHLs). Je nach produzierendem Bakterium unterscheiden sich AHLs in der Länge ihrer Alkylkette (zwischen C4 und C18) und der Funktionalisierung der Position 3. Der Homoserinlacton-Ring ist dagegen immer gleich, was sich aus der Biosynthese der AHLs ergibt. Während sich das Lacton aus S-Adenosylmethionin bildet, entstammt der Alkylrest dem Fettsäurestoffwechsel und variiert daher im Aufbau. Homologe des Proteins LuxI verknüpfen dann S-Adenosylmethionin und die an ein Acyl-Carrier-Protein gebundene Fettsäure zum AHL (Abbildung 1a).3


<h2>Signale verschiedener Bakteriengattungen</h2>
Die Mehrzahl humanpathogener Bakterien bildet AHL-Moleküle als Quorum-Sensing-Signale. Eine der am besten untersuchten Bakteriengattungen ist Yersinia mit einer Vielzahl pathogener Spezies. Yersinien sind unter anderem Auslöser der Pest.
Alleine in Yersinia pseudotuberculosis, das beim Menschen eine Dünndarmerkrankung mit Befall der Lymphknoten auslöst, finden sich mindestens 24 unterschiedliche AHLs. Von denen werden vor allem C6-HSL, 3-oxo-C6-HSL, 3-oxo-C7-HSL, C8-HSL, 3-hydroxy-C8-HSL, 3-oxo-C8-HSL und 3-oxo-C10-HSL produziert (Abbildung 1b).4 In Yersinia enterocolitica — Auslöser einer fieberhaften Darmentzündung —, das ebenfalls einige der oben genannten Signalstoffe produziert, steuern sie das Schwimm- und Schwarmverhalten.5
Der Cholera-Erreger Vibrio cholerae nutzt das Hydroxyketon CAI-1 und den Furanosylboratdiester Autoinducer-2 (AI-2) (Abbildung 1b), um die Biofilmproduktion zu kontrollieren und die Virulenzfaktoren zu regulieren.6
Die Substrate in der Biosynthese von CAI-1 sind S-Adenosylmethionin und Decanoyl-CoA. Diese reagieren pyridoxalphosphatabhängig zunächst zu 3-Aminotridec-2-en-4-on und später zu (S)-3-Hydroxytridecan-4-on (CAI-1).7
Einer der am häufigsten auftretenden Krankenhauskeime ist Pseudomonas aeruginosa. Dieses Bakterium siedelt auch in den Lungen gesunder Menschen. Bei geschwächtem Immunsystem löst es jedoch schwerwiegende Infektionen aus und verursacht oftmals auch tödliche Lungenentzündungen. Pseudomonas aeruginosa produziert neben den AHL-Molekülen C4-HSL und 3-oxo-C12-HSL das Hydroxychinolin PQS (Pseudomonas-aeruginosa-quinolone-signal) und dessen biosynthetische Vorstufe HHQ als Quorum-Sensing-Signale.2,8 Biosynthetisch entstehen Hydroxychinoline, wenn Anthranilsäure mit β-Ketosäure kondensiert und anschließend erst decarboxyliert und dann an Position 3 hydroxyliert wird (Abbildung 1c).8 Die Anthranilsäure entstammt dabei dem Tryptophan-Kynurenin- oder dem Shikimatsäure-Stoffwechsel.8 Neben seiner Wirkung als Quorum-Sensing-Signal zur Aktivierung von Virulenzfaktoren wirkt PQS durch seine catecholartige Struktur als Eisenchelator.


<h2>Eisen und Siderophore</h2>
Eisen(III) ist schlecht löslich und daher für Mikroorganismen in nahezu allen Ökosystemen eine begrenzte Ressource — auch im Menschen. Im menschlichen Blutserum sorgt das Eisentransportprotein Transferrin für minimale Eisen(III)-Konzentrationen um 10—24 mol·L—1, während die Konzentrationen in Bakterienzellen etwa 10—3 mol·L—1 betragen.9 Um in der eisenarmen Umgebung zu überleben und zu wachsen, produzieren viele pathogene Bakterien hoch affine Eisenchelatoren, die Siderophore. Als bakterielle Virulenzfaktoren ermöglichen Siderophore es pathogenen Bakterien, den Menschen zu besiedeln, und lassen so Infektionen ausbrechen.
Das von P. aeruginosa ausgeschüttete PQS bindet extrazelluläres Eisen(III) und verursacht so einen Eisenmangel in der direkten Umgebung der Bakterienzelle. Dadurch bilden sich weitere Siderophore. Zu diesen zählt ein grün fluoreszierendes Siderophor namens Pyoverdin, das ebenfalls extrazelluläres Eisen bindet und als Komplex über einen speziellen Rezeptor in die Bakterienzelle aufgenommen wird.8
Bisher sind über 60 verschiedene Pyoverdine der Gattung Pseudomonas bekannt. Ihnen allen ist ein Dihydrochinongrundgerüst gemein, das Fluoreszenz hervorruft. Mit variablen Oligopeptidketten, die Hydroxamat- und Formamidgruppen tragen, koordinieren Pyoverdine Eisen(III) mit hoher Bindungsaffinität. Die C3-Aminogruppe des Chromophors ist in der Regel mit einem Succinat- oder Succinamidrest verestert (Abbildung 2).
Pyoverdin ist essenziell für Infektion und Vermehrung von P. aeruginosa im Wirtsorganismus, wie genetische Mutanten zeigen, die dieses Siderophor nicht produzieren können.10 Auch andere Siderophore krankheitserregender Bakterien komplexieren Eisen(III) über Catecholgruppen und entscheiden über die Virulenz dieser Organismen. Hierzu zählt Enterobactin, das eine der höchsten bekannten Bindungsaffinitäten zu Eisen(III) aufweist. Pathogene wie Salmonella, Klebsiella, Shigella und Escherichia sowie einige grampositive Bakterien stellen Enterobactin her (Abbildung 2).11 Siderophore wie Staphyloferrin A von Staphylococcus aureus koordinieren Eisen(III) ausschließlich über Carboxygruppen, während Aerobactin Carboxygruppen und Hydroxamate kombiniert (Abbildung 2). Aerobactin wird vorwiegend von krankheitserregenden Darmkeimen produziert. Es ist ein wichtiger Virulenzfaktor in solchen Stämmen von E. coli, die Harnwegsinfektionen auslösen.12


<h2>Andere Funktionen von Siderophoren</h2>
Manche Bakterien verfügen über mehr als ein Siderophor. So produziert Pseudomonas aeruginosa neben Pyoverdin auch das phenolische Siderophor Pyochelin, das eine ähnliche Struktur wie Yersiniabactin aufweist (Abbildung 2).
Einige Siderophore sind nicht nur hoch affine Eisenchelatoren, welche die Ausbreitung einer Infektion unterstützen. Sie haben noch weitere Funktionen: Pyoverdin reguliert direkt die Expression anderer Virulenzfaktoren, die dafür verantwortlich sind, dass Pseudomonas aeruginosa so unterschiedliche Krankheiten auslöst wie Lungenentzündung, Wundinfektion und Blutvergiftung. Zu diesen Virulenzfaktoren zählen eine Reihe redoxaktiver Phenazinverbindungen, die von den Bakterien abgesondert werden. Das blaue Pyocyanin beispielsweise, ein 5-N-Methyl-1-hydroxyphenazin (Abbildung 3a, Seite 1166), generiert reaktive Sauerstoffspezies in Form von Hydroxylradikalen. Es zerstört so die Epithelzellen der Lunge und sorgt damit für die charakteristische Blaufärbung von entzündetem Gewebe.8 Da Quorum Sensing die Biosynthese von Pyocyanin reguliert, wird dieses Virulenzgen nur exprimiert, wenn die Zellzahl des Bakteriums hoch genug ist, um das Immunsystem des Wirts zu überwältigen.


<h2>Krank durch Naturstoffpigmente</h2>
Bei vielen pathogenen Bakterien sind Naturstoffe die Virulenzfaktoren, die ein oft ernsthaftes Krankheitsbild herbeiführen. Ein Beispiel sind lebensgefährliche Blutvergiftungen durch Chromobacterium violaceum. Hier produziert das Bakterium ein violettes Farbpigment mit antioxidativen Eigenschaften, das Violacein.13
Das Grundgerüst des Virulenzfaktors bilden zwei Pyrrolidonsäureester, die aus L-Tryptophanmolekülen entstehen (Abbildung 3b). Diese konjugierte Struktureinheit fängt reaktive Sauerstoffspezies ab, die von Immunzellen ausgeschüttet werden, und schützt so die Lipidmembran der Bakterien. Außerdem verursacht es die Apoptose von Leukozyten und hilft so dem Pathogen, der menschlichen Immunantwort zu entkommen.
Derzeit beschäftigen sich klinische Studien mit Violacein, das aufgrund des toxischen Potenzials als Chemotherapeutikum oder Antibiotikum dienen könnte.
Eine ähnliche Funktion wie Violacein hat der Virulenzfaktor Staphyloxanthin.13 Staphyloxanthin aus der Klasse der Carotinoide ist das namensgebende Pigment des goldfarbenen Bakteriums Staphylococcus aureus. Dieser oft multiresistente Krankenhauskeim (MRSA) verursacht mitunter lebensgefährliche systemische Infektionen.
Ein typisches Strukturelement der Carotinoide ist eine Polyenstruktur mit alternierenden Doppelbindungen, die bei Staphyloxanthin in einer C30-Kohlenstoffkette vorkommen (Abbildung 3c). Die Doppelbindungen fangen die reaktiven Sauerstoffspezies des Immunsystems ab, ähnlich wie bei Violacein. Somit wirkt Staphyloxanthin als Antioxidans und erhöht so die Überlebenswahrscheinlichkeit der Bakterien gegenüber Immunzellen.


<h2>Polyenstruktur schützt Bakterien</h2>
Ein weiterer Naturstoff, der als Virulenzfaktor agiert, ist Granadaen von Streptococcus agalactiae.13 Vor allem bei Ungeborenen löst Streptococcus agalactiae Blutvergiftung, Hirnhaut- oder Lungenentzündung aus. Granadaen ist ein Ornithin-Rhamnolipid aus der Gruppe der Carotinoide mit einer ungesättigten C12-Kohlenstofkette und verursacht die charakteristische Rot-Orange-Färbung von Streptococcus agalactiae (Abbildung 3e). Die Polyenstruktur von Granadaen liefert antioxidative Eigenschaften und schützt so die Bakterien vor den Makrophagen der menschlichen Immunantwort. Auch die Biosynthese anderer wichtiger Virulenzfaktoren wie den porenbildenden β-Hämolysinen hängt von diesem Pigment ab.
Neben der antioxidativen Wirkung vieler virulenzrelevanter Naturstoffe können diese auch menschliche Zellen schädigen. Einer der bekanntesten, hochtoxischen Virulenzfaktoren ist das Mycolacton A/B von Mycobacterium ulcerans.14 Hauptsächlich in armen und ländlichen Teilen Afrikas verbreitet, ruft das Bakterium die Krankheit Buruli ulcera hervor, bei der die Haut abstirbt. Mycobacterium ulcerans befällt vorwiegend Hände und Füße, die dann häufig amputiert werden müssen. Die Sterblichkeitsrate ist aber gering. Mycolacton A/B entscheidet hierbei über die Pathogenität des Bakteriums: Durch seine Polyketidstruktur diffundiert es leicht durch die Zellmembran des Wirts und löst so Entzündungen und Gewebesterben aus. Mycolacton A/B setzt sich aus Z-Δ4"-5" (Mycolacton A)- und E-Δ4"-5" (Mycolacton B)-Isomeren zusammen und hat ein zwölfgliedriges, makrozyklisches Polyketid-Grundgerüst, das über eine Esterbindung mit einer langen, ungesättigten Polyketid-Seitenkette verknüpft ist (Abbildung 3d).


<h2>Vorbild für Antibiotika- alternativen</h2>
Antibiotikaresistente Keime entwickeln und verbreiten sich rasch. Die Ursache hierfür ist der in den letzten Jahrzehnten übermäßige und teilweise unsachgemäße Einsatz von Antibiotika in der Tierzucht und der evolutionäre Selektionsdruck, den antibiotische Wirkstoffe erzeugen. Deswegen sind Alternativen zur Behandlung bakterieller Infektionen wichtig. Forscher müssen Ideen entwickeln, um gegen Resistenzentwicklung vorzugehen. Theoretisch ist dies möglich, wenn ein Wirkstoff nicht wie ein Antibiotikum das Wachstum der Bakterien beeinflusst, sondern ausschließlich deren Pathogenität und die Produktion von Virulenzfaktoren.
Um den Energieaufwand bei der Invasion des Wirts zu minimieren, koordinieren Bakterienpopulationen die Produktion von Virulenzfaktoren durch Quorum Sensing. Diese Kommunikationswege zu blockieren, wäre somit vielversprechend, um sich vor bakteriellen Angreifern zu schützen. In der Natur nutzt die Rotalge Delisea pulchra diese Strategie: Sie produziert niedermolekulare Sekundärmetabolite, bromierte Furanone, die das Quorum-Sensing-System vieler Bakterien lahm legen. Die bromierten Furanone binden hierbei kovalent an das Enzym LuxS, eine S-Ribosylhomocysteinlyase, die AI-2 synthetisiert (Abbildung 4).15 Solche Antivirulenzstrategien könnten auch für Menschen interessant sein, um bakterielle Infektionen zu verhindern. Sie sind gegenwärtig ein vielversprechender Forschungsansatz bei der Suche nach Antibiotikaalternativen. Wissenschaftler beschäftigen sich mit zahlreichen antivirulenten synthetischen Wirk- und Naturstoffen, die entweder direkt die Produktion der Virulenzfaktoren inhibieren oder indirekt die Zellkommunikation manipulieren.2


Naturstoffe aus Bakterien bestimmen, ob eine Infektion ausbricht und wie schnell sie voranschreitet.
Einige dieser Stoffe koordinieren den Angriff der Bakterien auf den Menschen; andere komplexieren das Wachstumsmineral Eisen, schützen die Bakterienzellen vor dem Immunsystem oder greifen direkt den Wirtsorganismus an.
 Andere Stoffe, welche die Virulenz krankheitserregender Bakterien hemmen, sind aussichtsreiche Kandidaten, um Infektionskrankheiten zu behandeln.


Michaela Prothiwa, Jahrgang 1986, studierte Pharmaceutical Sciences an der LMU München und schrieb ihre Masterarbeit bei Alan Saghatelian in Harvard. Seit dem Jahr 2014 promoviert sie bei Thomas Böttcher. Sie beschäftigt sich mit Naturstoffen als Virulenzinhibitoren. David Szamosvari, Jahrgang 1987, studierte in Jena Biochemie und chemische Biologie und schrieb seine Masterarbeit am Max-Planck-Institut für Chemische Ökologie bei Bernd Schneider. Er promoviert seit 2015 bei Thomas Böttcher über den Einfluss von Quorum-Sensing-Signalen auf interspezifische Kommunikation. Thomas Böttcher, Jahrgang 1982, ist seit dem Jahr 2014 Emmy-Noether-Nachwuchsgruppenleiter an der Universität Konstanz. Er promovierte an der LMU München bei Stephan Sieber, leitete einen Exist-Forschungstransfer an der TU München und war als Postdoc bei Jon Clardy an der Harvard Medical School. Seine Forschung beschäftigt sich mit Naturstoffisolation und neuen Methoden der chemischen Biologie.



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