Leitartikel

Ein Leitartikel von Hans-Jörg BerglerDeutschland hat als Standort ein Problem. Die Angst vor Deindustrialisierung, Massenarbeitslosigkeit und Wohlstandsverlust geht um, und es gibt einige beunruhigende Indikatoren: 20 Prozent mehr Insolvenzen, kein Wachstum seit mehreren Quartalen, einstige Perlen wie VW drohen mit Werksschließungen.Chemie und Pharma sind dabei differenziert zu sehen: Die chemische Industrie leidet – dies liegt vor allem an enormen Energie- sowie Lohnnebenkosten, die deutlich über anderen Wettbewerbsländern liegen. Manchmal scheint es, dass in Deutschland die chemische Industrie, einst einer der Träger unseres Wohlstands, wenig beliebt ist. Die pharmazeutische Industrie hingegen entwickelt sich gut und könnte die Automobilindustrie als Schlüsselindustrie ersetzen. Allerdings sehen viele Leistungsträger in der Forschung, Start-up-Gründer und Jungunternehmer diesen Standort im Vergleich zu den USA als nachrangig an.Gemeinsam leiden die chemische und die pharmazeutische Industrie unter Regulierungen, hohen Steuern und mangelnder Bereitschaft der Politik, dagegen etwas zu tun. Das Gras ist in anderen Ländern nicht unbedingt grüner; nicht nur in Deutschland mangelt es an Arbeitskräften, und wem das deutsche Arbeitsrecht zu kompliziert ist, der wird auch in Frankreich nicht glücklich werden.Was spricht für Deutschland als Standort für Chemie und Pharma? Deutschland steht auf einem sehr hohen Niveau. Wachstum findet leichter in Gesellschaften statt, die nicht so entwickelt sind. Deutschland ist nicht überschuldet, und das kann man – auch wenn die Schuldenbremse momentan diskutiert wird – durchaus positiv sehen. Gerade Mittelständler sind in vielen Nischenbereichen globale Markt- oder Technologieführer. Wir haben Rekordbeschäftigung (schauen wir mal, wie es weiter geht). Investoren wollen weiterhin in Deutschland investieren.Die Politik kann Rahmenbedingungen setzen: Die Steuern müssen sinken, damit wir selbst aktiver investieren können. Die Erbschafts- und Schenkungsteuer muss für Unternehmer angepasst werden – sonst haben wir irgendwann keine Familienunternehmen mehr. Die Energiepolitik muss überdacht, die Subventionspolitik überprüft werden. Der Staat ist nicht der beste Investor, das sind die Unternehmen selbst. Und wir müssen Last abschmeißen in Verwaltung und überbordender Regulierung.Dies wären erste Schritte, den Rest können und sollten wir als Unternehmen selbst angehen.Aktiv der Politik erklären und einfordern, was wir brauchen: Wir müssen auf Unternehmensebene unsere Nöte und Interessen darlegen. Unsere Erfahrung bei Merz ist, dass hierzu über Parteien hinweg Bereitschaft besteht, vor Ort direkt von den Unternehmen zu lernen.Qualifizierte Arbeitnehmer und Sozialpartnerschaft fördern: Für unsere Industrie bleibt die Sozialpartnerschaft ein zentrales Instrument, das auch weiter gut funktionieren kann. Bei Merz arbeiten wir etwa stetig an einer besseren Vereinbarkeit von Familie und Beruf, flexiblen Arbeitsmodellen sowie Aus- und Weiterbildungsmöglichkeiten.Im Ausland investieren: Als innovationsgetriebene Industrie stärken wir unsere Fähigkeit, wenn wir global präsent sind und Innovation global vermarkten können. Gerade in Zeiten politischer Abschottung brauchen wir Präsenz im Ausland.Weiter in Deutschland investieren: Wir bei Merz investieren gegenwärtig 100 Mio € in unsere Produktion in Deutschland. Wir werben um Subventionen, machen uns aber nicht davon abhängig – das geht auch deswegen, weil hohe Energiekosten für uns nicht so problematisch sind wie für andere Unternehmen in unserer Industrie. Wir investieren in Deutschland, weil wir hier gute Mitarbeitende finden. Als Familienunternehmen glauben wir an den Standort Deutschland, auch weiterhin.Hans-Jörg Bergler ist Chief Operating Officer der Merz Group. Das Pharmaunternehmen hat seinen Sitz in Frankfurt am Main.<img alt="image" src="https://eu-central-1.graphassets.com/Aype6X9u2QGewIgZKbFflz/cm8wkebf97jao07tabub4au8c">

Meinungsbeitrag

Was der Standort Deutschland braucht

Ein Leitartikel von Frank Maa&szlig; und Nathalie Weickgenannt
Vor 137 Jahren ist die erste Ausgabe der Zeitschrift f&uuml;r angewandte Chemie erschienen. Seitdem hat sie sich als international f&uuml;hrende Fachzeitschrift etabliert, die exzellente Forschungsergebnisse aus allen Teilbereichen der Chemie publiziert. Diese Erfolgsgeschichte ist der engen Zusammenarbeit zwischen der GDCh als Eigent&uuml;mergesellschaft und der Redaktion beim Herausgeberverlag Wiley-VCH zu verdanken. Im Angewandte Chemie Council, bestehend aus Vertreterinnen und Vertretern der GDCh und den Vorsitzenden des International Advisory Board und des Scientific Advisory Committee, werden gemeinsam Entwicklungen analysiert, Ideen und Strategien entwickelt und verfeinert und richtungsweisende Entscheidungen f&uuml;r die Zukunft der Angewandten Chemie getroffen.
Das wissenschaftliche Publizieren hat sich in den vergangenen Jahren rasant ver&auml;ndert. Die Angewandte Chemie hat Ende des Jahres 2024 den Heftdruck eingestellt und verzeichnete 2024 &uuml;ber 35 Millionen Volltext-Downloads. Dauerte es im Jahr 2000 noch 150 Tage vom Einreichen bis zum Druck der Hefte, erscheint ein Manuskript heute online nach 50 Tagen. Und es werden mehr Manuskripte eingereicht und publiziert &ndash; viel mehr: Hatte die Angewandte im Jahr 2000 noch knapp 1900 Einreichungen zu verzeichnen, waren es 2024 &uuml;ber 25 000.
Eine unserer Hauptaufgaben ist es, die gr&uuml;ndliche und faire Evaluierung aller eingereichten Manuskripte zu gew&auml;hrleisten. Die mehr als 30 promovierten Naturwissenschaftlerinnen und Naturwissenschaftler der Angewandte-Redaktion pr&uuml;fen zuerst jedes Manuskript intern &ndash; die ausgew&auml;hlten Manuskripte durchlaufen dann eine externe Begutachtung. Nach wie vor ist die Redaktion stark in Deutschland verwurzelt und arbeitet gro&szlig;teils an unserem Hauptsitz in Weinheim. Zugleich spiegelt unsere redaktionelle Pr&auml;senz in China, Gro&szlig;britannien, Indien, Kanada und S&uuml;dkorea die Globalit&auml;t der Chemie und erm&ouml;glicht es, sich eng mit den Forschenden vor Ort auszutauschen.
Die Zusammenarbeit zwischen Redaktion und aktiven Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern hilft, neue Entwicklungen und notwendige Ver&auml;nderungen fr&uuml;h zu erkennen. So wird die strategische Ausrichtung der Angewandten Chemie mit den zehn Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern des Scientific Advisory Committee abgestimmt, die die Redaktion zudem bei kniffligen F&auml;llen beraten. Die &uuml;ber sechzig Mitglieder des International Advisory Board bringen ihre unterschiedlichen Karrierewege, Erfahrungen und Sichtweisen ein. Dies unterst&uuml;tzt uns dabei, auf die Bed&uuml;rfnisse unserer globalen Autoren- und Leserschaft einzugehen.
Ungeachtet dessen bleibt die Publikation wissenschaftlicher Forschung in Deutschland ein zentraler Pfeiler der Angewandten Chemie. Nachdem es in den Pandemiejahren etwas weniger Einreichungen und Publikationen aus Deutschland gab, stiegen diese Zahlen 2024 wieder; ein Anstieg, der sich in diesem Jahr hoffentlich fortsetzen wird.
Teilnehmenden der Chemiedozententagung im M&auml;rz in Braunschweig sei der Besuch unserer Veranstaltung &bdquo;Angewandte Chemie &ndash; be surprised&ldquo; am Montagabend ans Herz gelegt &ndash; es gibt Spannendes zu vermelden. Gemeinsam mit der GDCh planen wir dieses Jahr zudem eine Reihe von Angewandte-Workshops an Universit&auml;ten und Forschungseinrichtungen. Wir freuen uns auf diesen pers&ouml;nlichen Austausch und laden Sie herzlich ein, mit uns ins Gespr&auml;ch zu kommen.
Frank Maa&szlig; und Nathalie Weickgenannt sind die Chefredakteure der Angewandten Chemie. Unterst&uuml;tzt werden sie von den vier Executive Editors Charlotte Gers-Panther, Theresa Kueckmann, Xin Su und Suzanne Tobey.<img alt="image" src="https://media.graphassets.com/0o1esVz0TlmeYmCIejxZ">

Die globale Autoren‐ und Leserschaft im Blick

Ein Leitartikel von Peter GärtnerSeit mittlerweile mehreren Jahrzehnten versuchen Chemiker:innen, das öffentliche Bild der Chemie zu verbessern. Weg von der historisch negativ geprägten Wahrnehmung – als vermeintlich schmutzige Wissenschaft mit umweltschädlichen Chemikalien – hin zu einer positiven Sichtweise: Chemie als Wissenschaft, die das Leben verbessert, lebensrettende Medikamente bereitstellt und neue Materialien und Techniken entwickelt für erneuerbare Energien, Nachhaltigkeit und Umweltverträglichkeit.Dennoch bleibt Chemie aufgrund ihrer Komplexität für viele Menschen einschüchternd und schwer zugänglich. Dieses Unbehagen zeigt sich auch im Ruf als schwieriges Schulfach und darin, dass es gesellschaftlich akzeptiert ist, wenig über Chemie zu wissen. Dieses Unwissen fördert Ängste vor Chemikalien und Missverständnisse, die sich in Begriffen wie „chemiefrei“ oder der Gleichsetzung von Chemie mit Unnatürlichem oder Gefährlichem äußern.Wie begegnen wir diesem Phänomen? Nur umfassende Information und Aufklärung können dieser Wahrnehmung in der breiten Öffentlichkeit entgegenwirken. Die positiven Aspekte der Chemie müssen wir stärker vermitteln, ohne die bekannten Probleme zu verschweigen. Zahlreiche Initiativen – von öffentlichen Veranstaltungen bis zu Social-Media-Kampagnen – wurden gestartet. Doch meist erreichen sie nur jene, die Chemie bereits schätzen. Wie gewinnen wir jedoch die Skeptiker?An der TU Wien zeigt sich in Umfragen unter Studienanfänger:innen, dass Chemielehrer:innen oft entscheidend sind für die Studienwahl. Wie sie Chemie unterrichten und ob ihre Begeisterung überspringt, prägt das Bild der Chemie bei den Schüler:innen. Lehrende haben daher eine Schlüsselrolle für die öffentliche Wahrnehmung der Chemie. Aber was geschieht mit denen, die aufgrund sozialer oder ökonomischer Barrieren keinen Zugang zu gutem Unterricht hatten, oder wenn Lehrer:innen keine Begeisterung wecken konnten?Hier greift das Prinzip: Unterrichte die Eltern über die Kinder. Junge Menschen sind grundsätzlich neugierig und oft hoch motiviert, und ihr Interesse an Chemie kann meist nachhaltig geweckt werden. Dieses Interesse beeinflusst wiederum Eltern und Umfeld. Universitäten, nationale chemische Gesellschaften und Fachverbände können hier ebenfalls beitragen, indem sie Schulbotschafter:innen entsenden oder Schulklassen zum einfachen Experimentieren einladen. Das Mitmachlabor der TU Wien, seit 20 Jahren erfolgreich, ist ein Beispiel für solche Initiativen.Doch wie wählen wir Botschafter:innen aus? Es macht einen großen Unterschied, ob man mit Fachexpert:innen diskutiert oder Chemie jemandem näherbringen möchte, der davon noch nicht viel gehört hat. Absolvent:innen der universitären Chemiestudien sind meist gut darin geschult, Detail- und Spezialwissen zu kommunizieren; diese Inhalte auf niedrigschwelliger und Interesse weckender Ebene zu vermitteln, kommt in der Ausbildung aber zu kurz. Hier sollten Studienpläne angepasst werden, um auch diese Fähigkeiten gezielt zu fördern.Wir brauchen mehr Botschafter:innen, um das Bild der Chemie in der Öffentlichkeit zu verändern. Je mehr Menschen sich daran beteiligen, desto besser. Ohne solche aktiven Bemühungen werden Fehlinformationen und Fake Facts oder Fake News weiterhin bestehen und das Bild der Chemie in der Öffentlichkeit negativ prägen. Nur Menschen, die informiert sind, können wahr von falsch unterscheiden, und dieses Wissen muss auf einem für die jeweilige Gruppe geeigneten Niveau vermittelt werden.Prof. Dr. Peter Gärtner, Präsident der Österreichischen Chemischen Gesellschaft und Studiendekan für Technische Chemie der TU Wien<img alt="image" src="https://media.graphassets.com/w7rC0NtKSgO4oGRfo7E6">

Das neue Image der Chemie

Ein Leitartikel von Johanna Kowol-Santen
Wissenschaft lebt von internationaler Zusammenarbeit &ndash; dies hat die chemische Grundlagenforschung bereits seit langem verinnerlicht. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) hat es sich zur Satzungsaufgabe gemacht, die internationale Zusammenarbeit &uuml;berall dort zu unterst&uuml;tzen, wo es die Forschung selbst verlangt. Die Wissenschaft kennt zwar keine L&auml;ndergrenzen, finanziert wird sie aber bis heute gr&ouml;&szlig;tenteils &uuml;ber die nationalen F&ouml;rderorganisationen. Dies gilt insbesondere f&uuml;r Projekte mit relativ wenigen beteiligten Forschenden, wie es h&auml;ufig in der Chemie der Fall ist. Traditionell halten sich nationale Organisationen damit zur&uuml;ck, Forschende im Ausland zu f&ouml;rdern, und die Finanzierung bi- und multilateraler Projekte bleibt aus administrativen Gr&uuml;nden schwierig.
Die Chemie, ihre nationalen und internationalen Fachgesellschaften und die F&ouml;rderorganisationen, stellen sich dieser Herausforderung schon seit mehr als zwei Jahrzehnten &ndash; immer wieder auch als Vorreiter, wie unl&auml;ngst in einer bilateralen Kooperation mit Singapur: Beim Angewandte-Symposium Singapur Anfang Dezember unterzeichneten sowohl GDCh und SNIC (Singapore National Institute of Chemistry) als auch die DFG und A*Star (Agency for Science, Technology and Research) ein Memorandum of Understanding; die Ausschreibung bilateraler Forschungsprojekte in der Chemie f&uuml;r das Jahr 2025 ist geplant.
In der internationalen Forschungsf&ouml;rderung gibt es bew&auml;hrte Mechanismen. So war es die Chemie, die im Jahr 2004 eines der ersten ERA-NET-Programme der Europ&auml;ischen Kommission eingeworben hat. ERA-Chemistry zielte darauf ab, die Koh&auml;renz und Koordination von Forschungsprogrammen und -projekten in Europa zu verbessern. Mehrere Ausschreibungen in der Chemie &ndash; sowohl thematische als auch themenoffene &ndash; m&uuml;ndeten in der gemeinsamen F&ouml;rderung bi- und multilateraler europ&auml;ischer Forschungsprojekte. Mit dem gleichen Ziel und &auml;hnlicher Umsetzung gr&uuml;ndete die Iupac im Jahr 2007 das Committee on Chemistry Research Funding (CCRF), ein global agierendes Netzwerk, dem neben Organisationen zahlreicher europ&auml;ischer Staaten auch Forschungsf&ouml;rderer aus den USA, Japan, Brasilien oder China angeh&ouml;rten.
Die National Natural Science Foundation of China (NSFC), ein Mitglied darin, war und ist ein wichtiger Partner der DFG. Allerdings haben sich die Rahmenbedingungen f&uuml;r deutsch-chinesische Kooperationen in den vergangenen Jahren ver&auml;ndert. Nicht nur die rechtlichen Neuregelungen, sondern auch die aktuellen geopolitischen Entwicklungen erfordern eine reflektierte Abw&auml;gung. So gilt es, dem zu erwartenden Erkenntnisgewinn die Risiken gegen&uuml;berzustellen, etwa beim Dual Use Research of Concern. Doch gerade unter versch&auml;rften geopolitischen Rahmenbedingungen f&uuml;hren internationale Kooperationen zu mehr als nur zu wissenschaftlicher Erkenntnis. Gemeinsame Projekte schaffen langfristige wechselseitige Bindungen zwischen Menschen und zwischen Institutionen. Es sind die sozialen Verflechtungen, die Sympathien und Loyalit&auml;ten zwischen Partnern, die in schwierigen Zeiten Br&uuml;cken bauen.
Es gibt keine einfachen Antworten auf die Frage, wie es sich in einem grob abgesteckten Bereich aus rechtlichen Risiken und ethischen Grenzen, aber eben mit Blick auf die Vorz&uuml;ge internationaler Kooperationen und der Aussicht auf Spitzenforschung navigieren l&auml;sst. Die DFG verzichtet bewusst darauf, generelle rote Linien hinsichtlich bestimmter L&auml;nder, Partnerinstitutionen oder Forschungsthemen zu ziehen, denn die in Deutschland grundgesetzlich garantierte Wissenschaftsfreiheit ist ein hohes Gut. Es gilt, Chancen und Risiken gegeneinander abzuw&auml;gen, und dies bedeutet ein hohes Ma&szlig; an Verantwortung f&uuml;r die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler und ihre Institutionen.
Dr. Johanna Kowol-Santen<img alt="image" src="https://media.graphassets.com/ymmiDKkETFClnruQeccb">
leitet die Gruppe Physik und Chemie bei der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG)

Internationale Kooperationen in der Chemie

Die Chemie ist gut darin, im Labor spezifische L&ouml;sungen zu finden. Wir schaffen neue Molek&uuml;le und Materialien, die &ndash; als Wirk- und Werkstoffe eingesetzt &ndash; unser Leben und unsere Welt ver&auml;ndern. Doch in Anbetracht hoher Energiepreise, fragiler Lieferketten, globalen Wettbewerbs und des Klimawandels muss sich auch die Chemie wandeln und kreislauff&auml;hig werden. Damit diese Transformation gelingt, m&uuml;ssen wir mehr Zusammenarbeit wagen, innerhalb unseres Fachs, mit anderen Disziplinen und mit Forschenden aus Akademie und Industrie. Ebenso brauchen wir motivierende gemeinsame Nenner. Das menschliche Genom entschl&uuml;sseln, unbekannte Elementarteilchen entdecken oder die Vision &bdquo;in einem Jahrzehnt zum Mond&ldquo; &ndash; diese Projekte haben ihre Wissenschaftsgebiete sprungartig vorangebracht. In der Chemie gab es bislang kein Moonshot-Projekt, also ein der Mondlandung der 1960er Jahre &auml;hnlich ambitioniertes Ziel, das Forschende verschiedener Hintergr&uuml;nde motiviert und zusammenbringt. Mit dem neu entstehenden Gro&szlig;forschungszentrum &bdquo;Center for the Transformation of Chemistry&ldquo; (CTC) gehen wir die Generationenaufgabe an und orientieren unsere Forschung an zwei Herausforderungen: dem komplett recycelbaren Auto und dem vollautomatisierten Labor.
In der EU werden zwar 95 Gewichtsprozent der verschrotteten Autos verwertet. Allerdings vermittelt diese Zahl einen tr&uuml;gerischen Optimismus, denn sie enth&auml;lt auch Downcycling und energetische Verwertung, also Verbrennung. Von den hunderten Materialien in Autos sind es vor allem Stahl, Aluminium und Kupfer, die weiterverwendet werden. Kunst- und Klebstoffe oder kritische Ausgangsstoffe wie Neodym, Nickel, Kobalt oder Phosphor werden selten in einer Qualit&auml;t recycelt, die eine Wiederverwendung erm&ouml;glicht. Deshalb werden f&uuml;r die Autoindustrie permanent neue Rohstoffe importiert. Unser Ziel ist es, ein vollst&auml;ndig recycelbares und damit im regionalen Kreislauf produzierbares Auto zu erforschen. Daf&uuml;r wollen wir eine neue Generation von Materialien entwickeln, die von Anfang an dem Prinzip Design to Recycle folgen, nichtfossilen Ursprungs sind und sich im industriellen Ma&szlig;stab wirtschaftlich produzieren lassen. Kritische Ausgangsstoffe sollen recycelt, Additive, Kleb- und Schmierstoffe aus nachwachsenden Rohstoffen hergestellt werden.
Unser zweiter Moonshot adressiert die Automatisierung &ndash; hier gibt es viel unausgesch&ouml;pftes Potenzial. In vielen Hochtechnologiefeldern rationalisiert die Automatisierung Prozesse, reduziert menschliche Fehler sowie Unf&auml;lle und beschleunigt Experimente und Analysen. Und in der Chemie? Reaktionen lie&szlig;en sich pr&auml;zise steuern und Hochdurchsatzexperimente durchf&uuml;hren. Daten lie&szlig;en sich in einem noch nie dagewesenen Umfang sammeln und KI-unterst&uuml;tzt auswerten. Roboter k&ouml;nnten Experimente auch unter Umgebungsbedingungen ausf&uuml;hren, die f&uuml;r Menschen nicht tolerierbar sind, und so neue chemische Reaktionen entdecken. All das w&uuml;rde Chemikerinnen und Chemiker von sich st&auml;ndig wiederholenden Aufgaben entlasten und Freiraum f&uuml;r Kreativit&auml;t schaffen. Die chemische Forschung w&uuml;rde so zu einer effizienteren, datengesteuerten und wissensreicheren Disziplin. Unsere Idee: ein vollautomatisiertes, aus der Ferne steuerbares Chemielabor. Es soll f&uuml;r chemische Experimente und Prozesse flexibel einsetzbar sein und reproduzierbare Ergebnisse liefern.
Beide Ziele sind ambitioniert. Wir k&ouml;nnen sie am CTC nicht alleine erreichen. Kooperation mit anderen Forschenden &ndash; durch gemeinsame Berufungen, gemeinsame Nachwuchsgruppen, gemeinsame Projekte &ndash; wird essenziell sein, um die Chemie zu transformieren. Deshalb, liebe Kolleginnen und Kollegen: Lassen Sie uns die Aufgabe gemeinsam angehen.
Prof. Peter H. Seeberger (Max-Planck-Institut f&uuml;r Kolloid- und Grenzfl&auml;chenforschung Potsdam) ist Gr&uuml;ndungsdirektor des Center for the Transformation of Chemistry (CTC) in Delitzsch und Merseburg<img alt="image" src="https://media.graphassets.com/nYGjGPVTpaOjIx1ruUOr">

Lasst uns groß denken

Eine Inklusion (lateinisch inclusio &bdquo;Einschluss&ldquo;) ist chemisch gesehen ein in einem Mineral eingeschlossener Fremdstoff. Wie sieht es mit der Inklusion in der chemischen Gemeinschaft aus und speziell in der Wissenschaft und Lehre?
In &Ouml;sterreich und Deutschland gibt es klare Gesetze, welche die Inklusion von Menschen mit Behinderung am Arbeitsplatz und in der Bildung f&ouml;rdern sollen. In der Realit&auml;t werden diese gesetzlichen Vorgaben jedoch oft umgangen; Unternehmen nutzen Schlupfl&ouml;cher und zahlen lieber geringe Ausgleichsleistungen, statt Barrieren am Arbeitsplatz abzubauen. Gesetze und zentrale Bestimmungen verpflichten Universit&auml;ten dazu, alle Bereiche des Hochschullebens barrierefrei zug&auml;nglich zu machen. Dies umfasst nicht nur Geb&auml;ude, Lehrveranstaltungen und Pr&uuml;fungen, sondern auch den uneingeschr&auml;nkten Zugang zu universit&auml;ren Einrichtungen wie Laboren. Auch wenn bauliche Ma&szlig;nahmen im Laborbereich vorgeschrieben sind, um barrierefreies Arbeiten zu erm&ouml;glichen, werden diese Arbeitspl&auml;tze oft zweckentfremdet und dienen als Abstellplatz &ndash; ein trauriges Beispiel f&uuml;r fehlendes Engagement. Sicherheitsbedenken oder vermeintlich unl&ouml;sbare technische Probleme werden h&auml;ufig als Gr&uuml;nde angef&uuml;hrt, warum inklusive Ma&szlig;nahmen nicht umgesetzt werden.
Die &ouml;ffentliche Meinung vermittelt h&auml;ufig das Gef&uuml;hl, wir w&uuml;rden bereits alle inklusiv und gleichberechtigt leben. Doch die Realit&auml;t sieht anders aus. Die Hindernisse, denen Menschen mit Beeintr&auml;chtigungen in der chemischen Gemeinschaft begegnen, sind vielf&auml;ltig und reichen von physischen bis hin zu psychischen Barrieren wie Stereotype und Vorurteile. Menschen sind die Summe ihrer sichtbaren &ndash; Geschlecht, K&ouml;rpermerkmale &ndash; und verborgenen Attribute, etwa kultureller und sozio&ouml;konomischer Hintergrund, Elternrolle, psychische Gesundheit, Neurodivergenz oder Farbenblindheit. Die daraus resultierenden Barrieren sind tief in unsere Gesellschaft eingebettet; sie lassen sich nur mit umfassenden Ma&szlig;nahmen &uuml;berwinden.
Jede Personengruppe erlebt diese H&uuml;rden unterschiedlich. Barrieren sind allgegenw&auml;rtig, doch wir bemerken sie erst, wenn wir selbst damit konfrontiert sind. Viele von uns leben mit dem Privileg, nur wenige oder geringf&uuml;gige Barrieren im Alltag zu erfahren. Doch die Wahrheit ist: Wirklich barrierefrei lebt niemand, manche von uns sind nur weniger stark von Barrieren betroffen.
Die Zukunft der Chemie &ndash; und der Gesellschaft insgesamt &ndash; erfordert Mut, Engagement und einen langen Atem. Der Erfolg von Inklusion misst sich daran, wie gut sie umgesetzt wird. Dazu geh&ouml;rt etwa, Labore flexibel und modular zu gestalten und auf individuelle Bed&uuml;rfnisse einzugehen. Talente und Potenziale d&uuml;rfen nicht wegen nichtinklusiver Normen verloren gehen. Es sind oft genau diese Talente und St&auml;rken, die unsere Gesellschaft bereichern und neue Chancen und Blickwinkel aufzeigen.
Unser Fazit: Inklusion in der Gesellschaft ist hier analog zur Chemie als Wissenschaft zu sehen. Chemische Einschl&uuml;sse sind keine Fremdk&ouml;rper, sondern Teil des Ganzen. Inklusion ist kein Luxus, sondern ein gesamtgesellschaftliches Thema. Der Gedanke, dass Chemie und Behinderung nicht zusammenpassen, ist &uuml;berholt. Es ist ein Irrtum zu glauben, dass der fordernde Laborbetrieb ein Grund daf&uuml;r sei, Inklusion zu vernachl&auml;ssigen. Vielmehr ist es h&ouml;chste Zeit, uns ehrlich zu fragen: Bekommen wir wirklich alle Talente in die Chemie? Und wenn nicht, was m&uuml;ssen wir tun, au&szlig;er barrierefreie Laborpl&auml;tze bereitzustellen? Nur so lassen wir die Talente am Ende nicht doch alleine vor den Barrieren stehen.
Johanna Irrgeher (links), Vorstand der &Ouml;sterreichischen Gesellschaft f&uuml;r Analytische Chemie in der G&Ouml;CH (ASAC); Vanessa Moll (Mitte) und Tanja Wrodnigg (rechts), Mitglieder des G&Ouml;CH-Pr&auml;sidiums<img alt="image" src="https://media.graphassets.com/1itCsgWQQK8yVKBoT0Zg">

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Meinungsbeitrag

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