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Blickpunkt Biowissenschaften

Viele Menschen mögen alkoholische Getränke – das wird oft als kulturelles Phänomen betrachtet. Wie Untersuchungen zur Ernährung von Schimpansen allerdings nahelegen, nahm schon der gemeinsame Vorfahre von Mensch und Affe regelmäßig Ethanol zu sich.Der Mensch, so glaubten wir lange, sei die einzige Art, die Ethanol gezielt nutzt und genießt. Wenn diverse Tierarten versehentlich von gegorenen Früchten betrunken werden, dann galt das als lustige Anekdote, aber nicht als wissenschaftlich relevanter Teil ihrer Ernährung.Wie sich allerdings in den vergangenen Jahren erwies, konsumieren unter anderem die afrikanischen Menschenaffen (Unterfamilie Homininae) absichtlich gegorene Früchte mit signifikantem Ethanolgehalt und teilen diese mit ihrer Gruppe. Mit versteckten Kameras haben Anna Bowland von der Universität Exeter, Großbritannien, und Kolleg:innen gezeigt: Schimpansen, die nicht an Menschen gewöhnt sind – also natürliches Verhalten zeigen –, teilen die großen Früchte des Okwabaums (Treculia africana) und bevorzugen Früchte, die schon sichtbar angegoren sind.1)Die Forschenden bestimmten den Ethanolgehalt der Überreste mit einem Atemalkoholtestgerät. Demzufolge enthielten 90 Prozent der Früchte, welche die Schimpansen geteilt hatten, Ethanol in Konzentrationen zwischen 0,01 und 0,61 Volumenprozent. Da sich Schimpansen überwiegend von Früchten ernähren, können sich selbst geringe Anteile zu einem signifikanten Ethanolkonsum addieren.Aleksey Maro von der University of California in Berkeley und Kolleg:innen haben den Ethanolkonsum der Schimpansen quantifiziert.2) Sie bestimmten bei 20 Pflanzenarten, die auf dem Speiseplan der Schimpansen in der Elfenbeinküste stehen, wie viel Ethanol die reifen Früchte enthalten. Im Durchschnitt nehmen die Schimpansen mit den verzehrten Früchten rund 0,3 Gewichtsprozent Ethanol auf. Bei einem durchschnittlichen Verzehr von 4,5 kg dieser Früchte pro Tag kommen die Schimpansen bei einem Körpergewicht von 40 kg auf 14 g reinen Ethanol. Hochgerechnet auf einen Menschen von 80 kg (zum Beispiel den Autor) entspricht das 28 g Ethanol, also etwas mehr als die 24 g (0,24 L Wein mit 12 % oder 0,6 L Bier mit 5 %), die die gängigen Gesundheitsrichtlinien als risikoarmen Konsum erlauben.3)<h2 type="main">Eine alte Ethanoldehydrogenase</h2>Da sich dieser Ethanolkonsum der Schimpansen gleichmäßig über den Tag verteilt und die jeweils mit einer Mahlzeit aufgenommene Menge gering bleibt, kommt es normalerweise nicht zu Trunkenheit. Die 14 g Ethanol wollen allerdings abgebaut werden, und dabei hilft den Schimpansen eine Ethanoldehydrogenase vom Typ IV (ADH4), die ebenso wie das menschliche Enzym gegenüber dem bei Primaten üblichen Standard verbessert ist. ADH4 ist beim Menschen das erste Enzym, das mit aufgenommenem Ethanol in Berührung kommt. Dieses Enzym kommt in Zunge, Speiseröhre und Magen vor.4) Ursprünglich war es wahrscheinlich dazu da, komplexere Moleküle als Ethanol zu verarbeiten, die aber eine <link href="#nadc20254153847-fig-0001">Alkoholfunktion enthalten.<figure xml:id="nadc20254153847-fig-0001"><figure><img alt="image" src="https://eu-central-1.graphassets.com/Aype6X9u2QGewIgZKbFflz/cmimp04v5w0fg07t4ot29w3sf"><figcaption><label>Abb.1: </label>Ein Federschwanz-Spitzhörnchen (Ptilocercus lowii). Es nimmt beispielsweise fermentierten Nektar aus den Blüten der Bertam-Palme (Eugeissona tristis) zu sich, der bis zu 3,8 % Ethanol enthält. Bild: santiago silver / Adobe Stock</figcaption></figure></figure>Matthew Carrigan vom Santa Fe College, Gainesville, USA und Kolleg:innen untersuchten dieses Enzym in 18 Primatenarten.5) Bei den meisten lag eine Version vor, die beim Abbau von Ethanol aus der Nahrung nicht viel bewirkt. Allerdings kam es beim gemeinsamen Vorfahren von Menschen und afrikanischen Menschenaffen, also Gorillas und Schimpansen, vor etwa 10 Millionen Jahren zum Austausch einer einzelnen Aminosäure, der den Abbau von Ethanol um den Faktor 40 beschleunigte. Das verlieh unseren tierischen Vorfahren die Fähigkeit, aus dem Ethanol in den verzehrten Früchten Kalorien zu gewinnen.<h2 type="main">Ein altes Wort</h2>Um den tierischen Alkoholkonsum besser erforschen zu können, haben Nathaniel Dominy vom Dartmouth College in Hanover, USA, und Kolleg:innen einen neuen Begriff eingeführt: ‚Scrumping‘ vom mittelniederdeutschen Wort schrimpen, das mit der geschrumpften und verschrumpelten Erscheinung von vergammelnden Früchten zusammenhängt. Es bezeichnet das Fallobstessen von Tieren – diese Früchte enthalten mit höherer Wahrscheinlichkeit Ethanol als das frische Obst direkt vom Baum.6)Forschende unterscheiden in ihren Feldnotizen zur Ernährung von Affen oft nicht zwischen Früchten vom Boden oder vom Baum. Dominy und Kolleg:innen untersuchten deshalb die in der Literatur berichtete Höhe über dem Boden, in der die Frucht konsumiert wurde, im Vergleich zu der Höhe, in der sie normalerweise am Baum hängt. Wie sie herausfanden, sind die afrikanischen Menschenaffen dem Scrumping zugetan, während der in Südostasien beheimatete Orang-Utan das Fallobst eher verschmäht.<h2 type="main">Vergorenes verzehren</h2>Ist es sinnvoll, sich von Fallobst zu ernähren? Das ist für verschiedene Lebewesen gesondert zu beantworten. Daran hängt ein ganzes Netzwerk ökologischer Wechselwirkungen, wobei außer den Tieren auch die Pflanzen und die Gärungshefen ihre eigenen Interessen verfolgen.Bei Früchten mit harter Schale kann das Fruchtfleisch leichter zugänglich werden, wenn die Vergärung einsetzt. Der Geruch des erzeugten Ethanols kann auch als Signalstoff dienen und die Tiere zu Früchten mit hohem Zuckergehalt locken, was wiederum im Interesse der Pflanzen ist, da die Tiere ihre Samen verteilen.Wenn Affen sich von etwas ernähren, das auf dem Boden liegt, vermeiden sie zudem die Risiken und Energiekosten des Kletterns in schwindelnder Höhe. Zudem gehen sie der Konkurrenz der kleineren und agileren <link href="#nadc20254153847-fig-0002">Affenarten aus dem Weg, die grundsätzlich nur vom Baum essen.<figure xml:id="nadc20254153847-fig-0002"><figure><img alt="image" src="https://eu-central-1.graphassets.com/Aype6X9u2QGewIgZKbFflz/cmimp068txlcf07tjw5xrb9yk"><figcaption><label>Abb.2: </label>Ein Schwarzhand-Klammeraffe (Ateles geoffroyi). Er ernährt sich beispielsweise von den Früchten der Gelben Mombinpflaume (Spondias mombin). Sie enthalten zwischen 1 % und 2,5 % Ethanol. Bild: David / Adobe Stock</figcaption></figure></figure><h2 type="main">Ursprung der Gärung</h2>Hefen produzieren in gärenden Früchten seit mehr als 100 Millionen Jahren Ethanol. Es begann damit, dass aus Blütenpflanzen zuckerhaltige Früchte entstanden. Wie Anna Bowland und Kolleg:innen in einem Review darlegen, konkurrierten dann Hefen und Bakterien, die beide an diesen Kohlenhydraten interessiert sind. Unter günstigen Bedingungen vermehren sich Bakterien schneller und verdrängen die Hefen. Wahrscheinlich entwickelten Hefen deshalb die alkoholische Gärung. Mit dieser verzichteten sie zwar zunächst auf einen großen Teil der Energie, die sie im Prinzip aus dem Kohlenhydratabbau gewinnen könnten. Dafür tötet das entstehende Ethanol die Bakterien ab. Und sind diese erst einmal aus dem Weg, können die Hefen den Alkohol immer noch selbst abbauen und daraus weitere Energie gewinnen.Die alkoholische Duftfahne deutet nicht nur auf eine zuckerreiche Nahrungsquelle hin, sondern auch darauf, dass diese vermutlich nicht durch Bakterienbefall verdorben ist. Und die Pflanze hat ein Interesse daran, tierische Konsumenten anzulocken und Bakterien zu bekämpfen, wird also die Hefen in vielen Fällen tolerieren.300 000 Arten von Blütenpflanzen weltweit produzieren Früchte und Nektar, aus denen Hefen Alkohol erzeugen könnten. Obwohl dies noch nicht global und flächendeckend untersucht ist, sind Spuren von Ethanol nahezu in allen Ökosystemen entdeckt worden – am häufigsten in den Tropen. Julia Casorso von der Universität Calgary in Kanada und Kolleg:innen zufolge enthalten in Costa Rica 29 von 37 Pflanzenarten, deren <link href="#nadc20254153847-fig-0003">Früchte von Tieren verzehrt werden, Ethanol.7)<figure xml:id="nadc20254153847-fig-0003"><figure><img alt="image" src="https://eu-central-1.graphassets.com/Aype6X9u2QGewIgZKbFflz/cmimp07m7xld707tjdxcl9ubr"><figcaption><label>Abb.3: </label>Essigfliegen (Drosophila melanogaster) brüten bevorzugt auf fermentierten Früchten – eine Ethanolkonzentration von 4 % erhöht die Fitness der Larven, haben Laborversuche ergeben.4) Bild: MrEkaphol / Adobe Stock</figcaption></figure></figure>Wie Bowland et al. in ihrem Review darlegen, gibt es vermutlich außer den Menschenaffen etliche andere Tierarten, die Ethanol als Teil ihrer Ernährung verwerten könnten. Von diesen sind erst wenige bekannt. Unter Primaten gibt es zwei Beispiele: das Fingertier (Aye-Aye; Daubentonia madagascariensis) und den Sunda-Plumplori (Nycticebus coucang). Sie ernähren sich von Nektar und bevorzugen in Verhaltensexperimenten alkoholische Getränke gegenüber alkoholfreien – wahrscheinlich, weil der Geruch des Alkohols den Weg zu besonders kohlenhydratreichen Nektarquellen weist.Der Campbell-Zwerghamster (Phodopus campbelli) hat eine auffällige Ethanolresistenz entwickelt, was im Zusammenhang mit dem sprichwörtlichen Hamstern von Nahrung durchaus vorteilhaft ist, da der Ethanol diese vor bakteriellem Verderben schützt.<h2 type="main">Nachweis in Federn</h2>In der lückenhaften Forschung zum Ethanolkonsum von Tieren spielen <link href="#nadc20254153847-fig-0004">Vögel eine herausragende Rolle, da jegliche Trunkenheit im Flug gefährliche und auch leicht zu beobachtende Folgen haben kann. Bowland und Kolleg:innen zitieren mehrere Studien zu Ethanol im Luftverkehr bei Zedernseidenschwanz (Bombycilla cedrorum), Seidenschwanz (B. garrulus) und Hakengimpel (Pinicola enucleator).<figure xml:id="nadc20254153847-fig-0004"><figure><img alt="image" src="https://eu-central-1.graphassets.com/Aype6X9u2QGewIgZKbFflz/cmimp08y3xlel07tjpzwwx50d"><figcaption><label>Abb.4: </label>Ein Seidenschwanz (Bombycilla garrulus) isst Ebereschenbeeren (Sorbus aucuparia), die bis zu 0,3 % Ethanol enthalten.4) Bild: Antti / Adobe Stock</figcaption></figure></figure>Ein methodologischer Fortschritt könnte jetzt einen Weg öffnen, den Ethanolkonsum von Vögeln systematisch zu analysieren. So kommt der vom Ethanol abgeleitete Sekundärmetabolit Ethylglucuronid bei menschlichen Geweben etwa in der Forensik routinemäßig zum Einsatz; Cynthia Wang-Claypool von der University of California in Berkeley, USA und Kolleg:innen zufolge lässt sich damit aber auch in Vogelfedern verschiedener Arten Ethanolkonsum nachweisen.8)Sie untersuchten vor allem den Ethanolkonsum von Kolibris, die sich von Nektar ernähren, aber auch anderer Vogelarten mit diversen Nahrungsquellen. Insgesamt wiesen die Forschenden bei 40 von 64 Vögeln Ethanolkonsum nach. Außer zwei Kolibri-Arten testeten sie auch zwei Arten körnerfressender Vögel positiv, mehrere Arten, die sich von wirbellosen Beutetieren wie Würmern und Insekten ernähren, sowie einen Raubvogel.<h2 type="main">Der Autor</h2>Der promovierte Chemiker Michael Groß arbeitet als freier Wissenschaftsjournalist in Oxford, England. <a href="https://michaelgross.co.uk" target="_blank">michaelgross.co.uk</a><ul class="references" cited="no" style="numbered" xml:id="nadc20254153847-bibl-0001"><li xml:id="nadc20254153847-bib-0001">1 A. C. Bowland, E. Bersacola, M. Ramon et al., Curr. Biol. 2025, 35, R279-R280</li><li xml:id="nadc20254153847-bib-0002">2 A. Maro, A. A. Sandel, B. Z. A. Blaiore et al., Sci. Adv. 2025, 11, doi: <accessionid ref="info:doi/10.1126/sciadv.adw1665">10.1126/sciadv.adw1665</accessionid></li><li xml:id="nadc20254153847-bib-0003">3 <url href="https://www.gesundheitsinformation.de/ab-wann-ist-alkohol-schaedlich.html"><a href="https://gesundheitsinformation.de/ab-wann-ist-alkohol-schaedlich.html" target="_blank">gesundheitsinformation.de/ab-wann-ist-alkohol-schaedlich.html</a></url></li><li xml:id="nadc20254153847-bib-0004">4 A. C. Bowland, A. D. Melin, D. J. Hosken et al., Trends. Ecol. Evol. 2025, 40, 67–79</li><li xml:id="nadc20254153847-bib-0005">5 M. A. Carrigan , O. Uryasev, C.B. Frye et al., Proc. Natl. Acad. Sci. USA 2015, 112, 458–463</li><li xml:id="nadc20254153847-bib-0006">6 N. J. Dominy, L. D Fannin, E. R. Vogel et al., BioScience 2025, biaf102</li><li xml:id="nadc20254153847-bib-0007">7 J. G. Casorso, A. N. DePasquale, S. R. Morales et al., Proc. Biol. Sci. 2023, 290, 20230804</li><li xml:id="nadc20254153847-bib-0008">8 C. Y. Wang-Claypool, A. Corl, J. Jones et al., Ecol. Evol. Physiol. 2025, 98, 70–82</li></ul>

Artikel

Tierischer Alkoholkonsum

Wie ist das vom Mensch eingetragene CO2 global im Meerwasser verteilt? Eine Untersuchung legt nahe: Die Versauerung der Meere hat die Belastungsgrenzen unseres Planeten überschritten. Dies ist der siebte von neun globalen Problembereichen, bei dem wir über unseren Möglichkeiten leben.Die <link href="#nadc20254153618-fig-0001">Ozeane mildern die Klimakatastrophe, indem sie etwa ein Viertel unserer CO2-Emissionen schlucken. Das ist gut für das Klima auf dem Land, aber schlecht für das Leben im Wasser: Das zusätzliche Kohlendioxid macht das Meerwasser saurer. Dadurch verschiebt sich das Gleichgewicht zwischen Hydrogencarbonat und Carbonat zu Ungunsten der Carbonationen, aus denen viele Meeresorganismen ihre Schalen oder sonstigen harten Körperteile bilden. Deshalb gilt die Versauerung der Meere als eine der neun Krisen in den Erdsystemen, für die Forschende des Stockholm Resilience Centre planetare Grenzwerte vorgeschlagen haben.1) Nach einer neuen Bewertung aus diesem Jahr hat der Meeres-pH-Wert die sichere Zone bereits verlassen und damit als siebter der neun Parameter den Grenzwert überschritten.2)<figure xml:id="nadc20254153618-fig-0001"><figure><img alt="image" src="https://eu-central-1.graphassets.com/Aype6X9u2QGewIgZKbFflz/cmg61n87293pp07rsq8lb9gea"><figcaption><label>Abb.1: </label>Durch den veränderten pH-Wert des Wassers haben schon jetzt viele Tierarten Probleme mit der Biomineralisation. Bild: YustynaOlha / Adobe Stock</figcaption></figure></figure><h2 type="main">Über Grenzen hinaus</h2>Als überschritten gelten bereits: Klimaerwärmung, Biodiversitätsverlust, biogeochemische Kreisläufe (Phosphor und Stickstoff), Landnutzung, Einbringung neuartiger Substanzen (praktisch alle industriell hergestellten Chemikalien sowie Materialien wie Asbest oder Mikroplastik) und Belastung der Süßwassersysteme.3) Als siebter Grenzübertritt kommt jetzt die Versauerung der Meere hinzu.Verbessert hat die internationale Gemeinschaft lediglich einen der neun Parameter, nämlich die Gefährdung der Ozonschicht durch Fluorchlorkohlenwasserstoffe (FCKW). Dafür haben das Montrealer Protokoll und das weitgehende Verbot dieser Substanzen gesorgt. Im grünen Bereich ist zudem bisher noch die Belastung der Atmosphäre mit Aerosolen.In der ursprünglichen Definition der neun Grenzwerte hieß es für die Versauerung der Meere: Die Carbonatsättigung des Wassers an der Oberfläche, bezogen auf die Löslichkeit des Minerals Aragonit (CaCO3), sollte sich um maximal 20 % reduzieren. Diese Definition wird allerdings den Problemen rund um die Kohlendioxidaufnahme der Meere nicht gerecht. Denn diese dringt auch in die Tiefe vor, und die Auswirkungen variieren je nach Breitengrad: Aufgrund der höheren Löslichkeit von CO2 bei niedrigeren Temperaturen ist der pH-Wert und damit die Sättigung mit Carbonationen in den höheren Breitengraden geringer als in den Tropen, und die dort lebenden Arten sind bereits daran angepasst. Zusätzlich verkomplizieren Meeresströmungen und Süßwasserzuflüsse und die von ihnen transportierten Mineralien die Situation.<h2 type="main">Probleme mit der Biomineralisation</h2>Helen Findlay vom Plymouth Marine Laboratory in Großbritannien und Mitarbeiter:innen sagen: Die Situation muss detaillierter analysiert werden. Denn unter der ursprünglichen, noch unterschrittenen Grenze haben schon jetzt etliche Tierarten säurebedingte Schwierigkeiten mit ihrer Biomineralisation. Das gilt beispielsweise für winzige Flügelschnecken (Thecosomata), Seeigel, Korallen, und Krabbenlarven.2)Wollte man eine einzige Zahl als Grenze festsetzen, die alle diese Tierarten schützen würde, so müsste der Grenzwert bei 10 % reduzierter Sättigung liegen.2) Dieser Wert ist allerdings schon in den 1980er Jahren in vielen Gebieten und seit Anfang des neuen Jahrhunderts global überschritten.Damit, wie die Versauerung des Meerwassers in die Tiefe vordringt, haben sich Jens Müller und Nicolas Gruber von der ETH Zürich befasst. Sie rekonstruierten, wie sich der pH-Wert in den 100 Metern unter der Oberfläche zwischen den Jahren 1800 und 2014 verändert hat.4)Den Autoren zufolge dringt die Versauerung immer weiter in die Tiefe vor, und dieser Trend wird sich voraussichtlich auch noch fortsetzen, wenn der Kohlendioxidgehalt der Atmosphäre seinen Höhepunkt überschritten hat.Ein weiteres globales Problem für das Überleben der Meeresorganismen ist Sauerstoffmangel. Kevin Rose vom Rensselaer Polytechnic Institute in Troy in den USA und Kolleg:innen haben vor kurzem vorgeschlagen, diesen Parameter als eigene planetare Grenze zu betrachten.5) Sie warnen, dass sich das Volumen des unzureichend mit Sauerstoff versorgten Meerwassers seit 1960 vervierfacht habe. Aus der Erdgeschichte wissen wir, dass Sauerstoffmangel zu Massensterben beitragen kann. Einen Vorgeschmack dessen, was möglicherweise wieder auf uns zukommt, bieten die regionalen Fälle der Eutrophierung von Gewässern, wenn also die Überdüngung dazu führt, dass sich Algen und Bakterien vermehren, bis sie allen Sauerstoff aufgebraucht haben. Darüber hinaus, schreiben die Autor:innen, kann der Sauerstoffmangel auch mehrere andere Erdzyklen negativ beeinflussen, würde sich also in das Netzwerk der planetaren Grenzen einfügen.<h2 type="main">pH-Schocks der Vergangenheit</h2>Versauerung der Meere wird auch mit mehreren der großen Massensterben der Erdgeschichte in Verbindung gebracht. Allerdings ist es schwierig, Werte zu messen, die direkt auf die Entwicklung des pH-Werts in weit zurückliegenden Zeiten schließen lassen. Eine Methode nutzt Bor. Es liegt in den Ozeanen gering konzentriert in zwei stabilen Isotopen vor: 80 % 11B und 20 % 10B. Da es ein leichtes Element ist, verändert der Massenunterschied zwischen benachbarten Isotopen (10 %) die Chemie. Deshalb unterscheiden sich unterschiedliche Bor-Verbindungen in ihrer Isotopenzusammensetzung: 11B bevorzugt dreibindige Verbindungen, wie in B(OH)3, 10B vierbindige. Die natürliche Abweichung von der durchschnittlichen Isotopenzusammensetzung kann zwischen –3 und +5 % betragen (bezogen auf 11B/10B = 4,04367).6)Beim pH-Wert des Meerwassers besteht ein Gleichgewicht zwischen Borat B(OH)4– und Borsäure B(OH)3, mit einem pK-Wert nahe am typischen Meerwasser-pH-Wert (ca. 8,2). Im Gleichgewicht zwischen Borat und Borsäure reichert sich das eine Isotop mehr in der einen Verbindung an und das andere mehr in der anderen. Da also beide Verbindungen verschiedene Isotope präferieren und Borat in geringen Mengen in biologisch erzeugten Carbonaten eingelagert wird, lässt sich aus diesen der pH-Wert des Meerwassers ableiten, in dem die Tiere gelebt haben.Wie Molly Trudgill von der Universität St. Andrews in Schottland und Mitarbeiter:innen nun mit dieser Methode gezeigt haben, war auch das Massensterben, das den Übergang vom Trias zum Jura definiert (vor 201 Mio. Jahren), von einem Sinken des Meeres-pH-Werts begleitet.7) Dieser Säureschock war demnach ausgeprägt genug, um das Aussterben zahlreicher Arten mit Kalkschalen zu erklären.Am Ende des Trias war das Meerwasser leicht alkalisch, ebenso wie heute (pH 8,2). Auch damals absorbierten die Ozeane große Mengen Kohlendioxid, da sich die Konzentration des Treibhausgases in der Atmosphäre rasch verdoppelt hatte. Weiteren Isotopenuntersuchungen von Trudgill et al. zufolge stammte der überschüssige Kohlenstoff aus dem Erdmantel – er war also durch extreme vulkanische Aktivität in Verbindung mit dem Zerbrechen des Superkontinents Pangaea in die Atmosphäre gelangt.Verglichen mit den heutigen, von Menschen verursachten Veränderungen von Atmosphäre und Meerwasser sind diese urzeitlichen Verschiebungen von ähnlichem Ausmaß. Sie erfolgten schnell nach geologischen Zeitvorstellungen – innerhalb von etwa 100 000 Jahren –, aber bei weitem nicht so schnell wie heute.Mit der Erkenntnis, dass das Massensterben vor 201 Mio. Jahren mit einer Versauerung der Meere zusammenhing, lassen sich drei der großen fünf Massensterben der letzten 500 Mio. Jahre mit einem sinkenden Meerwasser-pH-Wert in Verbindung bringen. Dazu gehören auch das Perm-Trias-Massensterben (vor 252 Mio. Jahren) und das uns am nächsten liegende am Ende der Kreidezeit vor 66 Mio. Jahren, das unter anderem die Dinosaurier (mit Ausnahme der Vögel) auslöschte.<h2 type="main">Schneller Wandel</h2>Das Meerwasser wurde nach dem Massensterben am Trias-Jura-Übergang relativ rasch wieder alkalisch, zumindest nach geologischen Zeitvorstellungen: Es brauchte nur einige hunderttausend Jahr. Sowohl geologische als auch biologische Rückkopplungen hatten einen Effekt – zum Beispiel die verstärkte Sequestrierung von Kohlenstoff dadurch, dass massenhaft abgestorbene Meereslebewesen unter sauerstoffarmem Wasser auf dem Meeresboden landen und nicht in die Nahrungskette zurückkehren, oder das Wiedererstarken des biologischen Kohlenstoffkreislaufs durch die Chancen, die sich für Arten ergeben, welche die freigewordenen ökologischen Nischen besetzen. Zu den Nutznießern zählten neuartige Organismen, die ihre Schalen aus Silicat statt aus Carbonat bilden: die Kieselalgen.Der nächste pH-Schock folgte allerdings weniger als 20 Mio. Jahre später. Zu Beginn des Toarcium vor 183 Mio. Jahren gab es in den Ozeanen Sauerstoffmangel, und etliche Meeresbewohner starben. Dieses Ereignis zählt zwar nicht zu den großen Massensterben, wurde aber offenbar wie diese von einer Versauerung der Meere begleitet. Dies haben Simone Kasemann von der Universität Bremen und Mitarbeitende jetzt ebenfalls mit Bor-Isotopen bestätigt.8) Sie fanden das Isotopensignal zwar nicht in versteinerten Muscheln und Armfüßern (Brachiopoda), wiesen es aber in versteinertem Kalkschlamm (Mikrit) nach. Die untersuchten Tierarten konnten die pH-Wert-Verschiebung anscheinend abpuffern und eignen sich deshalb nicht, den pH-Wert zu ermitteln.<h2 type="main">Saure Zeiten</h2>In der gegenwärtigen Biodiversitätskrise, die einige Fachleute als sechstes Massensterben einordnen, sind viele Meeresorganismen vom Aussterben bedroht. Das liegt oft an mehreren Faktoren. Korallenriffen schaden zum Beispiel sowohl die Erwärmung als auch die Versauerung der Meere. Es gibt schon Strategien, um die Korallen gegen den Hitzestress resistent zu machen. Doch gegen die Löslichkeit von Carbonaten ist nichts auszurichten, außer weniger CO2 auszustoßen.Zu den weniger bekannten Opfern der Versauerung zählen Seeigel, deren Stacheln aus Carbonat bestehen, sowie mikroskopische Organismen wie Haptophyta (komplexe einzellige Algen) und Foraminiferen (Protisten). Sonia Chaabane von der Universität Aix-Marseille und Mitarbeiter:innen haben vor kurzem die Migration planktonischer Foraminiferen über die letzten 100 Jahre beschrieben.9) Diese Organismen können sowohl zu höheren Breitengraden als auch in bis zu 100 Meter tiefes Wasser vordringen, um den Gefahren von Erwärmung und Versauerung aus dem Weg zu gehen. Doch wie die Analyse ergab, genügt diese Ausweichbewegung inzwischen nicht mehr, um die historische Biodiversität der Foraminiferen zu bewahren.Gerade diese Kleinstorganismen, die bei Naturschutzbemühungen oft übersehen werden, haben wichtige und grundlegende Funktionen in marinen Ökosystemen – sie entnehmen ihren Kohlenstoff dem Meer und ziehen ihn bestenfalls als Sediment auf längere Zeit aus dem Verkehr. Wenn diese Organismen sich buchstäblich in Säure auflösen, kommt es in den Meeren zu einem weiteren Massensterben.<h2 type="main">Der Autor</h2>Der promovierte Chemiker Michael Groß arbeitet als freier Wissenschaftsjournalist in Oxford, England. <a href="https://michaelgross.co.uk" target="_blank">michaelgross.co.uk</a><ul class="references" cited="no" style="numbered" xml:id="nadc20254153618-bibl-0001"><li xml:id="nadc20254153618-bib-0001">1 J. Rockström, W. Steffen, K. Noone, Nature 2009, 461, 472</li><li xml:id="nadc20254153618-bib-0002">2 H. Findlay, R. A. Feely, L.-Q. Jiang et al., Glob. Change Biol. 2025, 31, e70238; doi: <accessionid ref="info:doi/10.1111/gcb.70238">10.1111/gcb.70238</accessionid></li><li xml:id="nadc20254153618-bib-0003">3 K. Richardson, W. Steffen, W. Lucht, Sci. Adv. 2023, 9, adh2458</li><li xml:id="nadc20254153618-bib-0004">4 J. D. Müller, N. Gruber, Sci. Adv. 2024, 10, eado3103</li><li xml:id="nadc20254153618-bib-0005">5 K. C. Rose, E. M. Ferrer, S. R. Carpenter et al., Nat. Ecol. Evol. 2024, 8, 1400–1406; doi: <accessionid ref="info:doi/10.1038/s41559–024–02448-y">10.1038/s41559–024–02448-y</accessionid></li><li xml:id="nadc20254153618-bib-0006">6 G. L. Foster, J. W. B. Rae, Annu. Rev. Earth Planet. Sci. 2016, 44, 207</li><li xml:id="nadc20254153618-bib-0007">7 M. Trudgill, J. W. B. Rae, R. Whiteford et al., Nat. Commun. 2025, 16, 6471</li><li xml:id="nadc20254153618-bib-0008">8 S. A. Kasemann, T. Klein, R. A. Boyle et al., Commun. Earth &amp; Environ. 2025, 6, 533</li><li xml:id="nadc20254153618-bib-0009">9 S. Chaabane, T. de Garidel-Thoron, J. Meilland, Nature 2024, 636, 390–396</li></ul>

Die Ozeane versauern

DNA-Funde aus Höhlen und Isotopenanalysen in Tropfsteinen berichten von einer Zeit, als die Sahara keine Wüste war.Wir kennen den Streifen von <link href="#nadc20254151808-fig-0001">Marokko bis Ägypten als erbarmungslose Sandwüste, in der nur wenige Oasen das Überleben ermöglichen. Doch in der Jungsteinzeit war dort eine Savanne, in der Menschen lebten und Tiere hielten. Genomanalysen haben jetzt erste Einblicke in diese Epoche der grünen Sahara ergeben.<figure xml:id="nadc20254151808-fig-0001"><figure><img alt="image" src="https://eu-central-1.graphassets.com/Aype6X9u2QGewIgZKbFflz/cmcilto5txnby07upq11zqozc"><figcaption><label>Abb.1: </label>So ähnlich könnte es in der Sahara mal ausgesehen haben. Bild: apinz / Adobe Stock</figcaption></figure></figure>Ein wichtiges Fenster in die Vergangenheit der Sahara bietet die Takarkori-Höhle in der Nähe der Oasenstadt Ghat im Südwesten Libyens. Wie Sedimentschichten auf dem Boden der Höhle belegen, lebten dort vor etwa 10 170 bis 4650 Jahren Menschen. Die Höhle enthält etliche Reste von Körben und Textilien sowie Tonscherben, an denen Überbleibsel zubereiteter Pflanzen haften.<h2 type="main">Genomanalysen</h2>Tief im Inneren der Höhle befindet sich ein Gräberfeld, wo mindestens 15 Frauen und Kinder bestattet wurden. Aus den mumifizierten Leichen zweier Frauen, die vor etwa 7000 Jahren beigesetzt wurden, ließ sich DNA isolieren. Die Proben sind zu stark verunreinigt, um das gesamte Genom zu sequenzieren. Aber die Arbeitsgruppe von Johannes Krause am Max-Planck-Institut für Evolutionäre Anthropologie (EVA) in Leipzig hat eine genomweite Analyse vorgenommen und damit die Herkunft dieser Höhlen-Bewohnerinnen geklärt:1) Dazu untersuchten sie die SNPs (single nucleotide polymorphisms), also die Buchstaben im Genom, durch die sich Individuen einer Bevölkerung unterscheiden. Da die extremen Temperaturwechsel in der Sahara für die Erhaltung von DNA sehr ungünstig sind, handelt es sich hier um die ersten genomweiten Daten alter DNA aus der Sahara überhaupt. Die Frauen lebten in der Epoche der pastoralen Viehwirtschaft in dieser Gegend (vor 8300 – 4200 Jahren), also vermutlich als Teil einer Hirtengruppe.Den Ergebnissen zufolge hatte diese Bevölkerung kaum Kontakte mit den jungsteinzeitlichen, auch Ackerbau betreibenden Gruppen, die sich zu jener Zeit aus dem Nahen Osten nach Europa ausbreiteten. Die Takarkori-Frauen-DNA zeigt eine Abstammungslinie, die sich von den Afrikaner:innen südlich der Sahara etwa zu derselben Zeit abspaltete, als auch die Vorfahren aller heutigen Nicht-Afrikaner:innen ihre Out-of-Africa-Migration begannen – also vor mindestens 50 000 Jahren.Dass sie seitdem nur geringstfügigen genetischen Kontakt mit der nach Eurasien expandierenden Bevölkerung hatten, erkannten die Leipziger Forscher:innen an dem Gehalt der Neandertaler-SNPs. Wie frühere Arbeiten von Krause, Svante Pääbo und anderen gezeigt hatten, vermischten sich die zukünftigen Eurasier bei der Auswanderung aus Afrika mit den bereits früher ausgewanderten Neandertalern. Deshalb tragen heute alle Menschen, die keine neuzeitlichen afrikanischen Vorfahren haben, etwa 2 Prozent Neandertaler-SNPs im Genom.2)<h2 type="main">Verwandtschaftsverhältnisse</h2>Bei den Takarkori-Frauen betrug der Neandertaler-Anteil nur 0,15 Prozent, also über zehnmal weniger als etwa bei jungsteinzeitlichen Menschen aus dem Nahen Osten, allerdings noch etwas mehr als bei den afrikanischen Völkern südlich der Sahara. Dieser winzige Beitrag an Neandertaler-DNA stammt aus einer Vermischung, die so weit in der Vergangenheit liegt, dass die Forschenden sie nicht genauer identifizieren konnten.Die nächsten Verwandten dieser Frauen unter bekannten DNA-Funden stammen von Jägern und Sammlern aus der Taforalt-Höhle in Marokko. Deren Genome, im Licht der neuen Daten aus Libyen betrachtet, sind eine Mischung aus 40 Prozent Takarkori-DNA und 60 Prozent DNA aus dem Nahen Osten.Aus der genetischen Isolation der Takarkori-Frauen schließen die Forscher:innen: Die Lebensweise des Pastoralismus muss durch kulturelle Weitergabe in die Sahara gelangt sein und nicht durch Migration. Trotz des milderen Klimas scheint die Gegend eine geografische Barriere zwischen dem Mittelmeerraum und dem mittleren Afrika gebildet zu haben.<h2 type="main">Fische in der Sahara</h2>In früheren Studien der Takarkori-Höhle hatten Wim van Neer vom Königlich-Belgischen Institut für Naturwissenschaften in Brüssel und Savino di Lernia von der Sapienza-Universität in Rom bereits einen Einblick gegeben, welche Tiere in der Höhle auf dem Speiseplan standen. Von mehr als 17 500 Überresten von Tieren wurden knapp 80 Prozent Fischen zugeordnet, 19 Prozent Säugetieren, 1,1 Prozent Vögeln und 0,2 Prozent Reptilien.3)Die zeitliche Einordnung der Bodenschichten ermöglichte es den Autor:innen, langfristige Veränderungen zu entdecken. So nahm der Anteil der Fische gegen Ende der grünen Epoche der Sahara ab, da der Landstrich langsam austrocknete. Unter den Fischen hielten sich die Kiemensackwelse (Familie Clariidae) länger, die Luft atmen sowie in warmen und sauerstoffarmen Gewässern besser überleben können. Auch die Größe der Fische scheint die graduelle Austrocknung zu reflektieren.Überreste von Säugetieren hingegen gibt es im Lauf der Zeit immer mehr, insbesondere auch die von domestizierten Schafen, Ziegen und Rindern, die erstmals vor 8300 bis 7600 Jahren auftauchen.<h2 type="main">Klimaarchive im Tropfstein</h2>Außer den Fischgräten künden auch Tropfsteine in Höhlen von der feuchten Vergangenheit der heutigen Sandwüsten. Die grüne Sahara dehnte sich im Osten auf die Arabische Halbinsel aus. Dort untersuchten Monika Markowska vom Max-Planck-Institut für Chemie in Mainz und Kolleg:innen Stalagmiten und Stalaktiten aus sieben Höhlen in Saudi-Arabien als Klimaarchive. Dabei fanden sie mehrere grüne Phasen, die sich über die letzten acht Millionen Jahre verteilten.4) Einige dieser Phasen haben vermutlich auch die Ausbreitung der Neandertaler und später moderner Menschen sowie auch diverser Tierarten nach Eurasien ermöglicht. Eine Feuchtzeit war zum Beispiel vor etwa zwei Millionen Jahren, was zu den frühesten Hominiden-Funden in Asien passt – sie erklären, wie sich frühere Hominiden-Populationen aus dem tropischen Afrika bis nach Asien ausbreiten konnten.Die Forscher:innen bestimmten radiometrisch den Uranzerfall, um die Schichten der Kalkablagerungen zu datieren, und analysierten Isotope von Wasser- und Sauerstoff in eingeschlossenen Wassertröpfchen, um die geografische Herkunft des Regens festzustellen. Wie die Isotopenanalyse zeigte, war der Regen meist ein Monsunregen aus südlicheren Gebieten.Der langfristige Trend über die letzten acht Millionen Jahre: Die Arabische Halbinsel wurde immer trockener, sodass die begrenzten feuchten Episoden immer wichtiger wurden, damit sich Menschen und Tiere zwischen Afrika und Asien ausbreiten konnten.Ähnliche Untersuchungen an Stalagmiten in Höhlen im Süden Marokkos haben weitere Einzelheiten über die jüngste grüne Periode der Sahara geliefert. Hamish Couper von der Universität Oxford und Kolleg:innen untersuchten Sauerstoffisotope aus dem Calciumcarbonat der Stalagmiten, um zu ermitteln, wo das Regenwasser herkam, das diese Tropfsteine wachsen ließ.5) Normalerweise wird die grüne Sahara einer Nordwanderung der Monsunzone zugeschrieben, doch der Isotopenanalyse der Tropfsteine zufolge gab es auch noch dann ungewöhnlich viel Regen, nachdem sich der Monsunregen am Südhang des Atlasgebirges zurückgezogen hatte. Diesen Regen schreiben die Forscher:innen einem anderen Effekt zu: den atmosphärischen Flüssen, also relativ schmalen Luftströmungen mit hohem Wasserdampfgehalt. Der aus dem Atlasgebirge ablaufende Regen hat offenbar die Sahara noch länger in ihrem grünen Zustand bewahrt, als sich durch die Monsunverschiebung allein erklären ließe.Das Kommen und Gehen der großen Wüsten auf unserem Planeten ist ein wichtiger Faktor in der Frühgeschichte der Menschheit. Ein tieferes Verständnis dieser Veränderungen hilft uns zudem, die nahe Zukunft besser zu verstehen, da auch die heutige Klimakatastrophe zur Austrocknung großer Gebiete führen kann. Derzeit ist zum Beispiel das Kaspische Meer akut von der weitgehenden Austrocknung bedroht, wie Rebecca Court von der Universität Leeds (Großbritannien) und Kolleg:innen warnen,6) und die umliegende Region könnte sich zu einer neuen Wüste entwickeln.<h2 type="main">Der Autor</h2>Der promovierte Chemiker Michael Groß arbeitet als freier Wissenschaftsjournalist in Oxford, England. <a href="https://michaelgross.co.uk" target="_blank">michaelgross.co.uk</a><ul class="references" cited="no" style="numbered" xml:id="nadc20254151808-bibl-0001"><li xml:id="nadc20254151808-bib-0001">1 N. Salem, M. S. van de Loosdrecht, A. P. Sumer et al., Nature 2025, 641, 144–150</li><li xml:id="nadc20254151808-bib-0002">2 M. Groß, Nachr. Chem. 2022, 70(12), 68–70</li><li xml:id="nadc20254151808-bib-0003">3 W. Van Neer, F. Alhaique, W. Wouters et al., Plos ONE 2020, 15, e0228588</li><li xml:id="nadc20254151808-bib-0004">4 M. Markowska, H. B. Vonhof, H. S. Groucutt et al., Nature 2025, 640, 954–961</li><li xml:id="nadc20254151808-bib-0005">5 H. O. Couper, C. C. Day, J. J. Barrott et al., Earth Planet. Sci. 2025, 652, 119195</li><li xml:id="nadc20254151808-bib-0006">6 R. Court, M. Lattuada, N. Shumeyko et al., Nat. Commun. Earth Environ. 2025, 6, 261</li></ul>

Die grüne Sahara

Schlaglicht Chancengleichheit

Geschlechter-Unterschiede sind in der Medizin relevant, etwa im Immunsystem, bei Herzinfarkten und bei der Wirkung von Medikamenten. Und sie sind zu lange vernachl&auml;ssigt worden. Es bleibt noch einiges zu verbessern, bis jede:r die richtige Behandlung bekommt.
Aristoteles behauptete, Frauen h&auml;tten nur 30 Z&auml;hne, also zwei weniger als M&auml;nner &ndash; und die europ&auml;ische Wissenschaft hat ihm 2000 Jahre lang geglaubt. Erst im 17. Jahrhundert sah mal jemand nach und etablierte die Gleichberechtigung der M&uuml;nder. Die Bibel versucht uns zu verkaufen, dass Eva als Sekund&auml;rprodukt aus einer Rippe Adams entstand. Ganz in diesem Sinne haben Anatomie-Lehrb&uuml;cher jahrhundertelang den Mann als Normalzustand des Menschen dargestellt, von dem die Frau an einigen wenigen Stellen abweicht.
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<figure><img alt="image" src="https://eu-central-1.graphassets.com/Aype6X9u2QGewIgZKbFflz/cma24c6rt4kxc08uly9kccbs0">
<figcaption><label>Abb.1: </label>Bild: Evgenia / Adobe Stock</figcaption>
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Die traditionelle Vorgehensweise, frauenspezifische Probleme als Abweichungen von der Norm oder gar Ged&ouml;ns abzutun, ist heute als gef&auml;hrlicher Irrtum erkannt. Sie wird bisweilen als &bdquo;Bikini-Medizin&rdquo; beschrieben, da sie oft davon ausging, dass Frauenk&ouml;rper sich nur dort vom m&auml;nnlichen Standard unterscheiden, wo ein Bikini sie bedeckt.
Im Prinzip wissen wir seit Jahrzehnten, dass das zweite X-Chromosom auch au&szlig;erhalb der Bikinizone Auswirkungen hat, und das auch bei Personen, die ph&auml;notypisch M&auml;nner sind, etwa weil sie den Chromosomensatz XXY tragen. Ebenso wirken sich die Geschlechtshormone in vielen Bereichen der menschlichen Gesundheit aus &ndash; unabh&auml;ngig von der Bademode.
Erst in den letzten zwei Jahrzehnten hat die Medizin begonnen, sich um geschlechtsspezifische Unterschiede zu k&uuml;mmern, etwa bei Autoimmunkrankheiten, Herz-Kreislauf-Problemen und der Wirkung von Medikamenten.
<h2 type="main">Ein anderes Immunsystem</h2>
Das Immunsystem unterscheidet sich deutlich bei M&auml;nnern und Frauen. Das zeigt sich an verschiedenen Krankheitsverl&auml;ufen. So war etwa das Risiko eines Covid-19-Verlaufs, bei dem eine Intensivbehandlung notwendig wird, f&uuml;r M&auml;nner dreimal so hoch wie f&uuml;r Frauen. Auch das Klischee &bdquo;M&auml;nnergrippe&ldquo; hat einen wahren Kern: Infektionskrankheiten wirken sich bei M&auml;nnern schlimmer aus.
Die Kehrseite der Medaille: Das aktivere Immunsystem der Frauen sch&uuml;tzt sie zwar besser vor Infektionskrankheiten, schie&szlig;t aber auch leichter &uuml;bers Ziel hinaus und l&ouml;st Autoimmunkrankheiten aus. In der Evolution wurde dieser Nachteil aufgehoben durch den Vorteil, den M&uuml;tter ihren Kindern in der Schwangerschaft und in der Stillphase mitgeben. Ihre reichlich vorhandenen Antik&ouml;rper erreichen &uuml;ber Nabelschnur und Muttermilch den Nachwuchs und verbessern dessen &Uuml;berlebenschancen.
Heute wird die S&auml;uglingssterblichkeit durch medizinische Hilfe gering gehalten: Lag sie in den Jahren 1886 und 1910 in Mecklenburg noch zwischen 16,2 und 17,1 Prozent, betrug sie im Jahr 2021 in Deutschland 3,0 Promille. Und der &Uuml;bereifer des weiblichen Immunsystems zeigt sich vor allem daran, dass Frauen drei- bis viermal h&auml;ufiger Autoimmunkrankheiten haben. Und diese werden oft vernachl&auml;ssigt &ndash; sie kommen ja bei M&auml;nnern kaum vor.
<h2 type="main">Autoimmunkrankheiten</h2>
Ein Beispiel ist die Sklerodermie. Sie beginnt als Bindegewebsver&auml;nderung der Haut, verbreitet sich aber in einem Drittel der F&auml;lle auch als systemische Krankheit auf die inneren Organe (in Deutschland etwa 25 000 F&auml;lle, Stand 2023). Ursachen und Mechanismen der Erkrankung sind noch unzureichend verstanden. Erst vor kurzem haben die Arbeitsgruppen von Franck Barrat an der Cornell University in New York und Jean-Charles Gu&eacute;ry an der Universit&eacute; de Toulouse einen Fortschritt gemacht. Wie sie herausgefunden haben, sind die zwei Rezeptoren TLR7 und TLR8 an der Aktivierung plasmacytoider dendritischer Zellen (plasmacytoid dendritic cells pDCs) beteiligt &ndash; damit treiben sie die chronische Fibrose voran.1)
Die Gene dieser beiden Rezeptoren liegen auf den X-Chromosomen. Der im Jahr 1961 entdeckte Vorgang der X-Inaktivierung in Zellen mit zwei X-Chromosomen sollte normalerweise eines der beiden Chromosomen stilllegen, sodass es nicht zur Proteinbiosynthese beitr&auml;gt. (Damit sollte theoretisch die Dosierung der X-spezifischen Gene bei Menschen mit XX und solchen mit XY gleich sein.) Wie Barrats Gruppe fand, umgehen die Rezeptor-Gene im zweiten X-Chromosom bei Sklerodermie-Patientinnen zu mehr als einem Drittel die X-Inaktivierung. In gesunden Zellen liegt die Rate bei 10 bis 15 Prozent. Dieser Effekt erh&ouml;ht offenbar das Krankheitsrisiko bei Menschen mit zwei X-Chromosomen.
<h2 type="main">Besser altern mit XX</h2>
Das zweite X-Chromosom hat allerdings auch gute Seiten. Wie in den letzten Jahren immer deutlicher wurde, zieht die Inaktivierung des &uuml;berz&auml;hligen Chromosoms dieses keineswegs zu 100 Prozent und f&uuml;r alle Zeiten aus dem Verkehr. Wom&ouml;glich tr&auml;gt die Expression bestimmter Gene des inaktivierten Chromosoms zu der geistigen Gesundheit &auml;lterer Frauen bei &ndash; das haben zumindest Margaret Gadek von der University of California, San Francisco, und Kolleg:innen ermittelt.2)
Die Forscher:innen untersuchten zun&auml;chst die Gen-Expression auf dem X-Chromosom &auml;lterer weiblicher M&auml;use, wobei &bdquo;&auml;lter&ldquo; zirka 20 Monate bedeutet &ndash; das entspricht etwa 65 Jahre alten Menschen. Zu diesem Zweck hatten sie die Chromosomen so manipuliert, dass sich unterscheiden lie&szlig;, ob eine mRNA vom aktiven oder vom inaktivierten X-Chromosom kam. Diese Untersuchung f&uuml;hrten sie spezifisch f&uuml;r bestimmte Zelltypen des Gehirns aus und fanden heraus: 22 Gene, die, wenn sie abgelesen werden, das alternde Gehirn sch&uuml;tzen, werden bei &auml;lteren Mausdamen von der X-Inaktivierung befreit.
Dies gilt zum Beispiel f&uuml;r das Protein Plp1, das bekannterma&szlig;en das alternde Gehirn sch&uuml;tzt. Es unterst&uuml;tzt die Bildung der Myelinschicht, die Nervenbahnen isoliert und damit ihre elektrische Leitf&auml;higkeit gew&auml;hrleistet. Wie drei verschiedene Verhaltensexperimente mit &auml;lteren m&auml;nnlichen und weiblichen M&auml;usen zeigen, verbessert eine verst&auml;rkte Plp1-Herstellung bei beiden Geschlechtern die kognitiven F&auml;higkeiten. Dies ist somit ein interessanter Ansatzpunkt, um die Alzheimer-Krankheit und andere altersbedingte kognitive St&ouml;rungen zu behandeln. Es wurde bereits festgestellt, dass auch bei &auml;lteren Menschen das Plp1 bei Frauen verst&auml;rkt auftritt, also wom&ouml;glich ebenso wie bei den M&auml;usen von einer Aufhebung der X-Inaktivierung profitiert.
<h2 type="main">R&auml;tselhafte Ursachen</h2>
Diese Art von Ph&auml;nomenen bereitet Evolutionsbiolog:innen Kopfzerbrechen. Denn die von altersbedingten Krankheiten betroffenen Frauen k&ouml;nnen sich nicht mehr fortpflanzen &ndash; ihre Gesundheit steht somit nicht unter dem Selektionsdruck der Evolution, zumindest nicht direkt.
Menschen geh&ouml;ren zu einer sehr kleinen Gruppe von S&auml;ugetieren, deren Weibchen eine Menopause durchlaufen und in ihrem letzten Lebensabschnitt unfruchtbar sind. Die anderen f&uuml;nf bisher entdeckten sind Zahnwale, n&auml;mlich Orca, Kurzflossen-Grindwal, kleiner Schwertwal, Beluga und Narwal, wobei die beiden letztgenannten erst im Jahr 2018 in den Club aufgenommen wurden.
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<figcaption><label>Abb.2: </label>Beluga- oder Wei&szlig;wale &ndash; hier in einem Aquarium &ndash; geh&ouml;ren neben vier anderen Zahnwalarten und Menschen zu den S&auml;ugetieren, deren Weibchen nach einer Menopause noch einen unfruchtbaren Lebensabschnitt haben. Bild: Mikhail / Adobe Stock</figcaption>
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Um dieses evolutionsbiologische Paradoxon zu erkl&auml;ren, wird meist die Gro&szlig;mutter-Hypothese herangezogen. Demnach verbessern die mit Lebenserfahrung gesegneten Omas den Fortpflanzungserfolg ihrer Kinder und die &Uuml;berlebenschancen ihrer Enkelkinder, was sich auf die Ausbreitung ihrer eigenen Gene auswirkt &ndash; zwar nur anteilig, aber immerhin.
Um diese Vermutungen auf eine solidere Grundlage zu stellen, hatten Samuel Ellis von der University of Exeter in Gro&szlig;britannien und Kolleg:innen eine Idee. Sie untersuchten die Lebenserwartung der f&uuml;nf Walarten mit Menopause und verglichen sie mit der &auml;hnlicher Arten ohne post-reproduktive Lebensspanne.3) Die Studie kam zu dem Schluss: Die Wechseljahre evolvierten zumindest bei Walen als Verl&auml;ngerung der Lebenserwartung, nicht etwa als Verk&uuml;rzung der fruchtbaren Jahre.
Auch die Gro&szlig;mutter-Hypothese haben die Forschenden an diesen Walarten untersucht. Vermutlich waren zwei Dinge als Selektionsfaktoren wichtig: zum einen der Nutzen einer erfahrenen Seniorin im Familienverband, zum anderen, die Konkurrenz zwischen M&uuml;ttern und T&ouml;chtern zu vermeiden, indem sich die Lebenserwartung der Gro&szlig;m&uuml;tter verl&auml;ngert, ohne die Fruchtbarkeit mitzunehmen. Nun bleibt nur noch zu kl&auml;ren, wie die Wale es mit der X-Inaktivierung halten.
<h2 type="main">Gro&szlig;e und kleine Unterschiede</h2>
In vielen weiteren Bereichen der Medizin sind erst in diesem Jahrhundert die gro&szlig;en und kleinen Geschlechter-Unterschiede erkannt worden, deren Vernachl&auml;ssigung lebensbedrohlich werden kann. So manifestieren sich etwa Herzinfarkte bei den Geschlechtern unterschiedlich. Beim typischen m&auml;nnlichen Herzinfarkt ist ein Herzkranzgef&auml;&szlig; blockiert, das sich leicht aufsp&uuml;ren l&auml;sst. Bei Frauen betrifft die Verengung eher kleinere, fein verzweigte Blutgef&auml;&szlig;e (Kasten S. 78). Dieser Unterschied ist zwar inzwischen bekannt, wirkt sich aber immer noch auf die Reaktionszeit aus. Wie Vera Regitz-Zagrosek von der Charit&eacute; in Berlin im vorigen Jahr dem Spiegel erl&auml;uterte, kommen Frauen mit einem Herzinfarkt im Mittel 30 Minuten sp&auml;ter in die Klinik als M&auml;nner.
Hier ist weitere Aufkl&auml;rung n&ouml;tig, ebenso wie in vielen anderen Bereichen, in denen Symptome bei Frauen historisch nicht ernst genommen oder als Aspekt der allgemeinen Andersartigkeit von Frauen abgetan wurden. Diese Vorurteile haben dazu beigetragen, dass Erkrankungen wie etwa Endometriose immer noch unzureichend verstanden und nicht heilbar sind. Vernachl&auml;ssigt, weil typisch weiblich &ndash; und nicht objektiv diagnostizierbar &ndash; ist beispielsweise Migr&auml;ne; vernachl&auml;ssigt, weil bei Frauen seltener, ist etwa Autismus.
Verbessern muss sich auch die experimentelle Forschung vom Tierversuch bis hin zum klinischen Test. Hier wurden weibliche M&auml;use und Menschen oft ausgeschlossen, um etwaige Komplikationen zu vermeiden, die aus dem Menstruationszyklus oder einer unerwarteten Schwangerschaft entstehen k&ouml;nnten. Es m&uuml;sste ein Grundsatz der gesetzlichen Gleichberechtigung sein, dass Medikamente, die bei Frauen und M&auml;nnern zum Einsatz kommen, vorher in gleichem Umfang an beiden erprobt werden.
<h2 type="main">Bitte merken: So dr&uuml;ckt sich ein Herzinfarkt aus</h2>
Zu den typischen Zeichen eines Herzinfarkts bei Frauen geh&ouml;ren der Krankenkasse Barmer1) zufolge
Engegef&uuml;hl in der Brust
Schmerzen im Oberbauch
&Uuml;belkeit mit Erbrechen
M&uuml;digkeit beziehungsweise Schw&auml;che
Kiefer-, Nacken- oder Halsschmerzen
R&uuml;ckenschmerzen
starke Kurzatmigkeit, Atemnot
Benommenheit
Schwei&szlig;ausbr&uuml;che
Schmerzen oder Ziehen in einem oder beiden Armen
Bei M&auml;nnern ist das bekannteste Herzinfarkt-Symptom laut Deutscher Herzstiftung2) ein pl&ouml;tzlicher, sehr starker Schmerz, der &uuml;berwiegend im Brustkorb auftritt &ndash; h&auml;ufig hinter dem Brustbein (&bdquo;Elefant auf der Brust&ldquo;). Der Schmerz h&auml;lt im Normalfall l&auml;nger als f&uuml;nf Minuten an; er kann in Arme, Oberbauch, den Bereich zwischen den Schulterbl&auml;ttern, R&uuml;cken oder Hals und Kiefer ausstrahlen. Dazu kommen massives Engegef&uuml;hl, Brennen in der Brust, &Uuml;belkeit, Erbrechen, Atemnot, Oberbauchschmerzen und Angstschwei&szlig; mit kalter, fahler Haut.
<h2 type="main">Der Autor</h2>
Der promovierte Chemiker Michael Gro&szlig; arbeitet als freier Wissenschaftsjournalist in Oxford, England. <a href="https://michaelgross.co.uk" target="_blank" rel="noopener">michaelgross.co.uk</a>
<ul class="references" cited="no" xml:id="nadc20254149552-bibl-0001">
<li xml:id="nadc20254149552-bib-0001">1 Y. Du, B. Faz-Lopez, M. D.e Ah Kioon et al., J. Exp. Med. 2025, 222, e20231809</li>
<li xml:id="nadc20254149552-bib-0002">2 M. Gadek, C. K. Shaw, S. Abdulai-Saiku et al., Sci. Adv. 2025, 11, eads8169</li>
<li xml:id="nadc20254149552-bib-0003">3 S. Ellis, D. W. Franks, M. L. Kronborg Nielsen et al., Nature 2024, 627, 579&ndash;585</li>
<li xml:id="nadc20254149552-bib-0004">4 <a href="https://t1p.de/2wvx0" target="_blank" rel="noopener">t1p.de/2wvx0</a></li>
<li xml:id="nadc20254149552-bib-0005">5 <a href="https://t1p.de/ghonl" target="_blank" rel="noopener">t1p.de/ghonl</a></li>
</ul>
<ul class="references" cited="no" xml:id="nadc20254149552-bibl-0002">
<li xml:id="nadc20254149552-bib-0001">1 Y. Du, B. Faz-Lopez, M. D.e Ah Kioon et al., J. Exp. Med. 2025, 222, e20231809</li>
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</ul>

Der große Unterschied

Molekulare Mechanismen schützen Bärtierchen vor Wassermangel und anderen Extrembedingungen. Die achtbeinigen, zwischen 0,1 und 0,5 Millimeter großen Tiere halten sogar radioaktiver Strahlung stand.Viele Einzeller leben unter Extrembedingungen, insbesondere Archaeen. Vielzeller hingegen reagieren meist empfindlich auf hohe oder niedrige Temperaturen, hohen Druck, Wassermangel, ungewohnte pH-Werte und Radioaktivität. Denn aufwendiger konstruierte Organismen sind leichter anzugreifen.Eine bemerkenswert widerstandsfähige Ausnahme ist der Stamm der Bärtierchen oder Wasserbären, fachsprachlich Tardigrada. Sie sind nicht nur resistent gegen die genannten Extrembedingungen, die das Leben auf der Erde einschränken, sondern überleben auch Weltraumbedingungen.Die mikroskopisch kleinen Tierchen sind entfernte Verwandte von Spinnen und Insekten, den Gliederfüßern. Es gibt rund 1500 Arten; die meisten leben in den Ozeanen oder im Süßwasser. Aber viele haben sich auch an vergängliche Lebensräume wie Wassertropfen auf Pflanzen und Moosen angepasst. Um deren Austrocknung zu überleben, haben diese süßwasser-landlebenden (limnoterrestrischen) Arten eine besondere Strategie entwickelt: Sie schrumpeln zu einem nahezu wasserfreien, Tannenzapfen-förmigen „Tönnchen” (<link href="#nadc20254148948-fig-0001">Abbildung) und stellen jede messbare Lebensfunktion ein, bis ein neuer Wassertropfen sie wiederbelebt. In dieser Form widerstehen die Tiere auch anderen Extrembedingungen. Neuere Forschungsergebnisse entschlüsseln, wie sie das machen und wie sich diese Eigenschaften entwickelt haben.<figure xml:id="nadc20254148948-fig-0001"><figure><img alt="image" src="https://eu-central-1.graphassets.com/Aype6X9u2QGewIgZKbFflz/cm8wk0xr847i907tdh1xnt819"><figcaption><label>Abb.1: </label>Das Bärtierchen Milnesium tardigradum in der Rasterelektronenmikroskopaufnahme. Oben im aktiven Stadium, unten im „Tönnchen“-Zustand, in dem keine Lebensfunktion messbar ist. Bild aus doi: 10.1371/journal.pone.0045682</figcaption></figure></figure><h2 type="main">Schützende Proteine</h2>Bekannt waren bisher drei Familien hitzelöslicher Proteine, die an Entstehung und Stressresistenz des Tönnchen-Zustands beteiligt sind. Je nachdem, wo sie sich in der Zelle befinden, heißen sie unterschiedlich:<list><listitem>CAHS (cytosolic abundant heat soluble) im Cytoplasma,</listitem><listitem>MAHS (mitochondrial AHS) in den Mitochondrien und</listitem><listitem>SAHS (secretory AHS) in Sekreten.</listitem></list>Zwei weitere Familien fanden sich zuerst nur in der Art Echiniscus testudo, sie heißen daher EtAHS alpha und beta. Zusätzlich codiert das Gen MRE11 (meiotic recombination 11) eine weitere Tönnchen-beteiligte Proteinfamilie – es schützt auch andere Tierarten bei Austrocknung vor Schäden.James Fleming, Davide Pisani und Kazuhara Arakawa von der Keio-Universität in Japan haben nun systematisch Gensequenzen dieser sechs Proteinfamilien quer durch den Stamm der Tardigrada verglichen, wobei sie 13 Bärtierchengattungen erfassten.1) Mit mehr als 170 solcher Gensequenzen haben die Forschenden einen Stammbaum dieser Gene erstellt, der erste Einblicke gewährt, wie und wann die Bärtierchen lernten, sich gegen Austrocknung zu wehren. Wie die Befunde nahelegen, haben die beiden Klassen Eutardigrada und Heterotardigrada einen gemeinsamen Vorfahren im Ozean; sie eroberten separat das Festland und die von der Austrocknung bedrohten limnoterrestrischen Lebensräume. Und um Austrocknung zu verhindern, entwickelten Eutardigrada dabei die CAHS-, MAHS- und SAHS-Proteine, während Heterotardigrada sich mit EtAHS behalfen.Über diese grobe Aufteilung hinaus gibt es ein komplexes Geflecht aus Gen-Verdopplungen und -Verlusten. Und das lässt sich nicht ohne weiteres mit den Lebensräumen der heute existierenden Arten erklären.<h2 type="main">Strahlenschutz</h2>Wasser ist für alles Leben auf der Erde unverzichtbar – wer überleben will, darf nicht austrocknen. Dass die Bärtierchen dagegen resistent sind, lässt sich also leicht mit der Evolution begründen. Resistenz gegen radioaktive Strahlung hingegen ist schwieriger zu begründen. Sie tritt etwa beim Bakterium Deinococcus radiodurans auf – und im Stamm der Tardigrada. Bei dem Bakterium gilt ein besonders wirksamer DNA-Reparaturmechanismus als entscheidend. Dieser entwickelte sich vermutlich, um die Zellen vor Austrocknung zu schützen, denn die dabei auftretenden DNA-Schäden ähneln denen, die auch Radioaktivität verursacht, etwa Einzel- und Doppelstrangbrüche.Courtney Clark-Hachtel von der University of North Carolina in Chapel Hill, USA, und Kolleg:innen zufolge hat das Bärtierchen Hypsibius exemplaris sogar seinen eigenen Geigerzähler.2) Es detektiert sofort Strangbrüche, die durch Gamma-Strahlung entstehen, und kurbelt dann dementsprechend die Expression der Gene an, welche die DNA reparieren. Dass die durch den Detektor aktivierten Gene wirklich DNA reparieren, fanden die Autor:innen heraus, indem sie die Gene in Bakterien exprimierten: Die so veränderten Mikroben sind resistenter gegen Strahlung als ihre unbehandelten Kollegen.Unabhängig davon untersuchten Marwan Arnoud am Muséum national d‘Histoire naturelle in Paris und Kolleg:innen die Genexpression bekannter DNA-Reparaturmechanismen in H. exemplaris. Dabei entdeckten sie ein DNA-bindendes Protein, das vermutlich ebenfalls bei der Reparatur hilft – denn seine Produktion wird im Gleichtakt mit den bekannten Resistenzfaktoren hochgefahren.3)<h2 type="main">Wie Bärtierchen Stress widerstehen</h2>Weitere Einzelheiten zur Strahlungsresistenz entdeckten Lingqiang Zhang am Beijing Institute of Lifeomics in China und Kolleg:innen: Sie sequenzierten das Genom einer neu entdeckten Art, Hypsibius henansis, und untersuchten die Strahlungsresistenz mit einem Multi-omics-Verfahren, also indem sie Genom, Transcriptom und Proteom studierten.4) Das Ergebnis: Radioaktive Strahlung aktiviert 285 Gene.In dieser Reaktion auf Stressbedingungen entdeckten die Forschenden drei separate molekulare Mechanismen, die zur Strahlungsresistenz beitragen. Ihnen zufolge hilft das Protein TDP1, das nur Bärtierchen bilden, DNA-Doppelstrangbrüche zu reparieren. Zudem beschreiben sie das bakterielle Gen Dopa-Dioxygenase 1 (Doda1), das die Tierchen offenbar nicht durch Evolution erworben haben, sondern von anderen Organismen (horizontaler Gentransfer). Doda1 codiert für ein Enzym, das Betalaine produziert – eine Gruppe wasserlöslicher Blüten- und Fruchtfarbstoffe, die bei Pflanzen, Pilzen und Bakterien freie Radikale beseitigen. Der dritte neu entdeckte Mechanismus betrifft den mitochondrialen Faltungshelfer BCS1: Er wird als Antwort auf Strahlenbelastung verstärkt hergestellt und schützt offenbar gezielt die Proteine der Mitochondrien.<h2 type="main">Gene variieren</h2>Wieso die Bärtierchen so widerstandsfähig sind, ließe sich leichter entschlüsseln, wenn die Gene so einfach zu verändern wären wie bei Bakterien und Fliegen. Dafür diente bei letztgenannten bisher beispielsweise das Crispr-Cas9-Werkzeug „direct parental crispr”. Dieses haben nun Koyuki Kondo, Akihiro Tanaka und Takekazu Kunieda an der Universität Tokio, Japan, für Tardigrada entwickelt.5)Die Forschenden veränderten damit die Keimbahn der asexuellen Bärtierchenart Ramazzottius varieornatus. Außerdem lassen sich damit funktionierende Gene entfernen oder hinzufügen – so lässt sich die Bedeutung einzelner Gene testen.Die besondere Überlebensfähigkeit der Tardigrada zeigt sich auch nach über 250 Millionen Jahren Evolution. Nachvollziehen lässt sich das mit Fluoreszenzmikroskopie an den vier erhaltenen Bernsteinfossilien dieses Tierstamms. Damit beschäftigten sich Marc Mapalo, Joanna Wolfe und Javier Ortega-Hernández von der Harvard-Universität. Sie kamen zu dem Schluss: Die Tierchen haben wahrscheinlich vor allem dank ihrer besonderen Fähigkeit, Tönnchen zu bilden, die letzten drei der fünf größten Massenaussterben der Erdgeschichte überlebt.6) Insofern haben sie gute Chancen, auch das gegenwärtige sechste zu überstehen.<h2 type="main">Der Autor</h2>Der promovierte Chemiker Michael Groß arbeitet als freier Wissenschaftsjournalist in Oxford, England. <a href="https://michaelgross.co.uk" target="_blank">michaelgross.co.uk</a><h2 type="main">AUF EINEN BLICK</h2>Sechs Familien hitzelöslicher Proteine schützen Bärtierchen, wenn kein Wasser vorhanden ist.Radioaktive Strahlung aktiviert Gene, die dazu beitragen, dass die DNA besonders schnell repariert wird.Mit einem neuen molekularen Werkzeug lässt sich die Bedeutung einzelner Gene testen.<ul class="references" cited="no" style="numbered" xml:id="nadc20254148948-bibl-0001"><li xml:id="nadc20254148948-bib-0001">1 J. F. Fleming, D. Pisani, K. Arakawa, Genome Biology and Evolution 2024, 16, evad217</li><li xml:id="nadc20254148948-bib-0002">2 C. M. Clark-Hachtel, J. D. Hibshman, T. De Buysscher et al., Curr. Biol. 2024, 34, 1819–1830</li><li xml:id="nadc20254148948-bib-0003">3 M. Arnoud, E. Delagoutte, Q. Helleu et al., eLife 2024, 13, RP92621</li><li xml:id="nadc20254148948-bib-0004">4 L. Li, Z. Ge, S. Liu et al., Science 2024, 386, eadl0799</li><li xml:id="nadc20254148948-bib-0005">5 K. Kondo, A. Tanaka, T. Kunieda, PLOS Genet. 2024, doi: <accessionid ref="info:doi/10.1371/journal.pgen.1011298">10.1371/journal.pgen.1011298</accessionid></li><li xml:id="nadc20254148948-bib-0006">6 M. A. Mapalo, J. M. Wolfe, J. Ortega- Hernández, Comm. Biol. 2024, 7, 953</li></ul>

Nichts kann ihnen etwas anhaben

Blickpunkt Anorganik

Festkörperchemie umfasst schon lange mehr als diffusionsgesteuerte Reaktionen zweier oder mehrerer Festkörper. Insbesondere nasschemisch gestützte Hybridmethoden steigern stetig Phasenvielfalt und -kontrolle. Dies zeigt sich vor allem bei carbidischen und nitridischen Materialien.Festkörperchemie bedeutet für viele Menschen diffusionsgesteuerte Reaktionen fester Reaktionspartner: shake-n-bake. Die Reaktionen laufen häufig bei Temperaturen über 1000 °C ab und dauern mehrere Stunden bis hin zu Wochen. Diese klassischen Hochtemperatur-Festkörperreaktionen waren und sind wertvoll, dennoch ist ihre Zeit- und Energieeffizienz verbesserungswürdig.Außerdem beschränkt die thermodynamische Reaktionsführung die chemische Vielfalt, und Morphologie oder Partikelgröße lassen sich schwer einstellen.Festkörpersynthese funktioniert jedoch auch nasschemisch. Populär ist die Sol-Gel-Synthese, die aus dem 19. Jahrhundert stammt. Wie sich damals bei der Synthese von Alkoxiden zeigte, bildet SiCl4 ein Gel, sobald es mit Luft in Kontakt kommt.1) Nicht der Sauerstoff verursacht die Gelbildung, sondern die Luftfeuchtigkeit. Diese hydrolysiert das SiCl4, gefolgt von Kondensation des Präkursors.<h2 type="main">Sol-Gel-Synthese</h2>Von diesem historischen Beispiel abgeleitet lässt sich die Sol-Gel-Synthese in drei Schritte unterteilen. Der erste Schritt ist die Entstehung des Sols, einer kolloidalen Dispersion. Dabei werden Alkoxide hydrolysiert und partiell kondensiert. Der zweite Schritt ist die Gelbildung durch Polykondensationen. Es bilden sich Metall-Oxo-Metall- oder Metall-Hydroxy-Metall-Bindungen. Im letzten Schritt wird das Gel getrocknet oder bei über 700 °C kalziniert, um die Zwischenstufe in das Produkt umzuwandeln.2) Diese Art sauerstoffbasierter Sol-Gel-Synthese ist am weitesten verbreitet und wird vor allem genutzt, um TiO2-Nanopartikel herzustellen:3) für Photokatalysatoren4), als Coating-Material, als elektronische Bauteile oder zum Abbau von Schadstoffen.5)Inzwischen gibt es auch Sol-Gel-Ansätze, mit denen sich carbidische und (carbo-)nitridische Materialien herstellen lassen. Dabei sind zwei Methoden besonders wichtig: die Zitronensäure- und die Harnstoff-gestützte Sol-Gel-Synthese.<h2 type="main">Sol-Gel-Synthese mit Zitronensäure</h2>Bei einer Sol-Gel-Synthese werden Zitronensäure und Metallsalze, überwiegend Nitrate, in Wasser gelöst. Die Reaktionslösung, hier Sol genannt, wird anschließend erhitzt, die Zitronensäure verknüpft Metallzentren und formt als Chelatbildner ein Gel. Der Vorteil dieser Methode liegt bei der Kalzinierung: Sie beeinflusst je nach Atmosphäre, welches Produkt entsteht. In einer Sauerstoffatmosphäre ist ein oxidisches Produkt zu erwarten. Liegen jedoch Inertbedingungen mit beispielsweise Argon vor, fungiert die Zitronensäure als Kohlenstofflieferant, und es bilden sich carbidische Materialien.2)Beim Reaktionsverlauf handelt es sich dann um eine carbothermische Reduktion. Dies zeigte sich anfangs an binären carbidischen Systemen,6) gilt aber ebenso für ternäre Verbindungen. Besonders bei der Materialklasse der MAX-Phasen (Nachr. Chem. 2024, 72(12), 50)7) wurden diese Methoden in den letzten Jahren angewandt.MAX-Phasen sind ternäre hexagonal geschichtete Carbide und Nitride, die keramische und metallische Eigenschaften vereinen. Siebert et al. synthetisierten die MAX-Phase Cr2GaC nahezu phasenrein durch eine Sol-Gel-Methode – in 5 h bei 900 °C.8) Zum Vergleich: Die klassische Variante läuft 5 Tage lang bei 1000 °C.9)Die Synthese ist nicht auf das System Cr2GaC beschränkt, sondern wurde auf weitere Phasen10) bis hin zu Phosphorverbindungen wie V2PC ausgeweitet (<link href="#nadc20254147527-fig-0001">Abbildung 1).11)<figure xml:id="nadc20254147527-fig-0001"><figure><img alt="image" src="https://eu-central-1.graphassets.com/Aype6X9u2QGewIgZKbFflz/cm8wjpqb26qqt07uokchqgmzc"><figcaption><label>Abb.1: </label>Mit Zitronensäure-gestützter Sol-Gel-Synthese entsteht die phosphorhaltige ternäre MAX-Phase V2PC.</figcaption></figure></figure><h2 type="main">Antiperovskite herstellen</h2>Über Sol-Gel-Synthese mit Zitronensäure lassen sich neben MAX-Phasen ternäre funktionale carbidische Antiperovskitmaterialien herstellen.12) Zu diesen gehört Mn3GaC, das wegen seiner magnetostrukturellen Übergänge sowie schmalen Hystereseeigenschaften interessant für die Magnetokalorik ist.Die Sol-Gel-Methode ist hier eine effizientere Alternative zur etablierten kompressionsbasierten Kühltechnik.Der Kühleffekt ist auf den magnetokalorischen Effekt zurückzuführen, definiert als reversible Änderung der Paramater Temperatur T und Entropie S abhängig von einem wechselnden äußeren Magnetfeld. Diese neue Technik ist einer der zentralen Aspekte des Sonderforschungsbereichs/Transregio SFB/TRR 270 der TU Darmstadt und Universität Duisburg-Essen. Darin wird das Hysterese-Design magnetischer Materialien für effiziente Energieumwandlung erforscht.13)Die Sol-Gel-basierte Synthese von Mn3GaC ist ein Teilprojekt dieses Sonderforschungsbereichs. Neben den kürzeren Reaktionszeiten verglichen mit klassischen Methoden sind die Ausgangsstoffe leichter zu verarbeiten, weil die Prozesse lösungsmittelbasiert sind.Es ist möglich, allein durch den Zitronensäuregehalt im Produkt dessen magnetische Eigenschaften zu beeinflussen (<link href="#nadc20254147527-fig-0002">Abbildung 2, S. 69). Dies unterstreicht das Potenzial dieser Methode: Mit nur kleinsten Veränderungen der Syntheseparameter lassen sich funktionelle Materialeigenschaften kostengünstig, effizient und gezielt beeinflussen.<figure xml:id="nadc20254147527-fig-0002"><figure><img alt="image" src="https://eu-central-1.graphassets.com/Aype6X9u2QGewIgZKbFflz/cm8wjpsbw3ruj07tdlbh3ksvm"><figcaption><label>Abb.2: </label>Magnetische Messungen an Sol-Gel-synthetisierten Mn3GaC-Proben (Zero field-cooled (ZFC), field-cooled (FC) und field-warmed (FW) Messungen in B = 10 mT). a) Mn3GaC-Sol-Gel-Probe, die mit 50 Prozent weniger Zitronensäure hergestellt wurde als die Probe in b). Wie die Kurven zeigen, wurde gezielt die ferromagnetische Ordnung im System beeinflusst. Sie resultiert aus den Besetzungsunterschieden des Kohlenstoffs im dargestellten Oktaeder der Elementarzelle. Schwarz: Kohlenstoff, orangefarben: Mangan.</figcaption></figure></figure><h2 type="main">Harnstoff als Gelbildner</h2>Außer Zitronensäure eignet sich auch Harnstoff als Gelbildner bei der Sol-Gel-Synthese. Ein Beispiel ist die Harnstoff-Glas-Route, die erstmals Giordano, Antonietti et al. im Jahr 2008 beschrieben.14)Da Harnstoff neben Kohlenstoff- und Sauerstoffatomen noch zwei Stickstoffatome pro Formeleinheit enthält, lassen sich mit ihm nicht nur rein carbidische Materialien herstellen, sondern auch nitridische oder carbonitridische. Was entsteht, basiert einzig auf dem Verhältnis von Harnstoff zu Präkursoren.Abgesehen davon gleichen sich die Reaktionsmechanismen beider Sol-Gel-Routen. Auch die Harnstoff-Glas-Route lässt sich als carbothermische Reduktionsreaktion verstehen.15) Reine ternäre Nitride oder Carbide sind, abgesehen von Mischkristallphasen binärer Carbide oder Nitride, bislang nicht dokumentiert. Die Sol-Gel-Produkte eignen sich als Vorläuferverbindungen ternärer carbonitridischer Strukturen. Dies zeigte sich bei den MAX-Phasen im System V2GaC1–xNx.16) Rein nitridische Folgeprodukte lassen sich mit dieser Art Sol-Gel-Synthese nicht herstellen: Da Harnstoff Kohlenstoff enthält, entsteht amorpher Kohlenstoff, der in Folgereaktionen reagiert.<h2 type="main">Mit viel Stickstoff</h2>Allgemein sind stickstoffhaltige oder vielmehr rein nitridische anorganische Verbindungen nur schwierig herstellbar. Dies liegt an der hohen Bindungsenergie des Stickstoffmoleküls, seinem gasförmigen Zustand unter Normalbedingungen und daran, dass Stickstoff nur langsam in nitridische Materialien wie binäre Nitride hineindiffundiert.17) Dies spiegelt sich in der Inorganic Crystal Structure Database (ICSD): Hier sind mehr als 4000 ternäre oxidische Verbindungen gelistet, aber nur etwa 400 ternäre nitridische Verbindungen.Um die Schwierigkeiten der Nitridsynthese zu umgehen, eignet sich flüssiger Ammoniak als Lösungsmittel und Reaktionspartner. Dessen Siedepunkt von etwa –33 °C lässt sich leicht durch gängige Kältebad-Kombinationen erreichen, etwa durch Isopropanol mit Trockeneis.Flüssiger Ammoniak hat ähnliche Eigenschaften wie Wasser, es liegt etwa Autoionisation vor, und er löst anorganische Salze. Ein entscheidender Unterschied: Flüssiger NH3 löst Alkali- und Erdalkalimetalle ohne weitere chemische Reaktion. Dabei dissoziieren die Metalle in Kationen und solvatisierte Elektronen, wodurch sich der Ammoniak blau färbt. Je nach Konzentration der solvatisierten Elektronen reicht diese Färbung bis hin zu kupferfarben.18)Die gelösten Metalle steigern das Reduktionspotenzial der Lösung. Hierdurch lassen sich Übergangsmetallsalze wie TiCl4 oder CrCl3 reduzieren, was in Verbindung mit dem flüssigen Ammoniak zu stickstoffhaltigen Vorläuferverbindungen führt.<h2 type="main">Von binär zu ternär</h2>Die stickstoffhaltigen Vorläuferverbindungen werden typischerweise bei 500 – 1000 °C kalziniert und dann zu nanopartikulären, phasenreinen binären Nitriden umgesetzt.19,20) Diese eignen sich wiederum als Vorläuferverbindungen, und zwar für ternäre Verbindungen. Da sie als Nanopartikel vorliegen, bilden sich feinere Morphologien und kleine Partikel der ternären Zielverbindungen (<link href="#nadc20254147527-fig-0003">Abbildung 3).16)<figure xml:id="nadc20254147527-fig-0003"><figure><img alt="image" src="https://eu-central-1.graphassets.com/Aype6X9u2QGewIgZKbFflz/cm8wjqfx96rng07uo2azjmdds"><figcaption><label>Abb.3: </label>Schema für Synthesen ternärer Nitride, unterstützt mit flüssigem NH3: Zunächst werden binäre Nitride aus Metallhalogeniden hergestellt. a) Dann werden (Erd-)Alkalimetalle in NH3(l) gelöst. Sie bilden Ionenpaare aus Kationen und solvatisierten Elektronen, was die Lösung verfärbt. Die Elektronen reduzieren die binären Nitride. b) Diese entstehen als Nanopartikel, erkennbar an den breiten Reflexen in der Röntgendiffraktometrie. c) Anschließend reagieren die binären Nitride (MN) mit Elementen (M, A) zur ternären Zielverbindung M2AN.</figcaption></figure></figure>Dieses Phänomen wurde zur Synthese von V2GaN genutzt. Dieses entsteht bei der Reaktion von VN, das in NH3 hergestellt wurde, mit elementarem Vanadium und Gallium. Es bildet definierte Partikel im Gegensatz zu den großen Strukturen, die die klassische Festkörperreaktion liefert.16)Zudem lassen sich durch Nanopartikel-Präkursoren metastabile Produkte stabilisieren. Das zeigte sich etwa bei der Synthese des nitridischen Antiperovskits Cr3GeN: Es wurde erstmals im Jahr 2022 in seiner orthorombischen Struktur synthetisiert.21)<h2 type="main">AUF EINEN BLICK</h2>Mit Zitronensäure- und Harnstoff-gestützter Sol-Gel-Synthese lassen sich carbidische und (carbo-)nitridische Materialien herstellen.Werden dabei Reaktanden oder ihr Verhältnis zueinander verändert, können sich die funktionellen Eigenschaften der Produkte ändern.Mit flüssigem Ammoniak lassen sich stickstoffhaltige Nanopartikel-Vorläufer synthetisieren. Aus diesen können ternäre Verbindungen mit definierter Morphologie und Partikelgröße werden.Nanopartikuläre Intermediate können metastabile Produkte stabilisieren.<h2 type="main">Die Autor:innen</h2>Christina Birkel ist Professorin an der Arizona State University, USA, und Kooperationsprofessorin an der TU Darmstadt, wo sie das Gebiet der anorganischen Festkörper- und Materialchemie vertritt. Niels Kubitza hat im Jahr 2023 bei Birkel in Darmstadt promoviert und arbeitet seit Anfang 2024 als Postdoktorand in einem Sonderforschungsbereich zu magnetischen Materialien, an dem Birkel beteiligt ist.<img alt="image" src="https://eu-central-1.graphassets.com/Aype6X9u2QGewIgZKbFflz/cm8wjqico3sy007tdd4d9v3gu"><img alt="image" src="https://eu-central-1.graphassets.com/Aype6X9u2QGewIgZKbFflz/cm8wjqkg73t4c07tdepolsoyk">Dies ist der letzte Beitrag Christina Birkels zur Serie Blickpunkt Anorganik; seit Juni 2024 verfasste sie ihn im Wechsel mit Simon Krause.<ul class="references" cited="no" style="numbered" xml:id="nadc20254147527-bibl-0001"><li xml:id="nadc20254147527-bib-0001">1 I. Ebelmen, Ann. Chem. Pharm. 1846, 57(3), 319–355</li><li xml:id="nadc20254147527-bib-0002">2 A. E. Danks, S. R. Hall, Z. Schnepp, Mater. Horiz. 2016, 3(2), 91–112</li><li xml:id="nadc20254147527-bib-0003">3 S. G. Ullattil, P. Periyat, in Sol-Gel Materials for Energy, Environment and Electronic Applications; S. C. Pillai, S. Hehir, Eds.; Springer International Publishing: Cham, 2017, 271–283</li><li xml:id="nadc20254147527-bib-0004">4 U. G. Akpan, B. H. Hameed, Appl. Catal. Gen. 2010, 375(1), 1–11</li><li xml:id="nadc20254147527-bib-0005">5 C. Chang, S. Rad, L. Gan, Z. Li , J. Dai, A. Shahab, NTREV 2023, 12(1), 1–23</li><li xml:id="nadc20254147527-bib-0006">6 L. Zhao, K. Fang, D. Jiang et al., Catal. Today 2010, 158 (3–4), 490–495</li><li xml:id="nadc20254147527-bib-0007">7 C. Birkel, N. Kubitza, Nachr. Chem. 2024, 72(12), 50–52</li><li xml:id="nadc20254147527-bib-0008">8 J. P. Siebert, L. Bischoff, M. Lepple et al., J. Mater. Chem. C 2019, 7(20), 6034–6040</li><li xml:id="nadc20254147527-bib-0009">9 S. Lin, P. Tong, B. S. Wang et al, J. Appl. Phys. 2013, 113(5), 053502</li><li xml:id="nadc20254147527-bib-0010">10 J. P. Siebert, K. Patarakun, C. S. Birkel, Inorg. Chem. 2022, 61(3), 1603–1610</li><li xml:id="nadc20254147527-bib-0011">11 J. Sinclair, J. P. Siebert, M. Juelsholt et al., Inorg. Chem. 2022, 61(43), 16976–16980</li><li xml:id="nadc20254147527-bib-0012">12 N. Kubitza, P. Babaei, U. Wiedwald et al., Chem. Mater. 2023, 35(21), 9175–9181</li><li xml:id="nadc20254147527-bib-0013">13 <a href="https://www.tu-darmstadt.de/sfb270/about_crc/index.en.jsp" target="_blank">www.tu-darmstadt.de/sfb270/about_crc/index.en.jsp</a></li><li xml:id="nadc20254147527-bib-0014">14 C. Giordano, C. Erpen, W. Yao et al., Nano Lett. 2008, 8(12), 4659–4663</li><li xml:id="nadc20254147527-bib-0015">15 C. Giordano, M. Antonietti, Nano Today 2011, 6(4), 366–380</li><li xml:id="nadc20254147527-bib-0016">16 N. Kubitza, A. Reitz, A.-M. Zieschang et al., Inorg. Chem. 2022, 61(28), 10634–10641</li><li xml:id="nadc20254147527-bib-0017">17 A. L. Greenaway, C. L. Melamed, M. B. Tellekamp et al., Annu. Rev. Mater. Res. 2020, 51, 1–28</li><li xml:id="nadc20254147527-bib-0018">18 S. Hartweg, A. H. C. West, B. L. Yoder et al., Angew. Chem. 2016, 128(40), 12535–12538</li><li xml:id="nadc20254147527-bib-0019">19 B. Yuan, M. Yang, H. Zhu, J. Mater. Chem. C 2009, 24, 448–451</li><li xml:id="nadc20254147527-bib-0020">20 A.-M. Zieschang, J. D. Bocarsly, M. Dürrschnabel et al., Chem. Mater. 2018, 30(5), 1610–1616</li><li xml:id="nadc20254147527-bib-0021">21 A. Reitz, H. Pazniak, C. Shen et al., Chem. Mater. 2022, 34(23), 10304–10310</li></ul>

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