Blickpunkt

Blickpunkt Anorganik

Wissenschaft + Forschung

Metalle sind typischerweise weniger temperatur- und oxidationsbest&auml;ndig als Keramiken. Aber sie leiten Strom und W&auml;rme besser. Eine Substanzklasse vereint die Charakteristika beider Materialklassen: Carbid- und Nitrid-Schichtverbindungen aus der Familie der MAX-Phasen.
Keramiken sind oft anorganische Oxide. Es gibt aber auch sauerstofffreie Varianten. Die bekanntesten sind Siliciumcarbid und Bornitrid &ndash; nichtmetallisch und mit klassischen Keramikeigenschaften: Sie widerstehen hoher Temperatur und Korrosion.
Die Vielfalt der anorganischen Verbindungen hat die Trennung zwischen Metall und Keramik aufgeweicht, denn eine stetig wachsende Substanzklasse hat sowohl Charakteristika von Keramiken als auch von Metallen.
<h2 type="main">Diese Elemente bilden MAX-Phasen</h2>
Bei den MAX-Phasen handelt es sich um Schichtverbindungen, die keinen Sauerstoff enthalten, sondern auf Kohlenstoff, Stickstoff oder sogar beidem basieren &ndash; daf&uuml;r steht das &bdquo;X&ldquo; in MAX (Abbildung 1). Au&szlig;erdem enthalten sie &Uuml;bergangsmetalle oder Seltene Erden (&bdquo;M&ldquo;)&ndash; auch eine Kombination ist m&ouml;glich. Die &bdquo;A&ldquo;-Elemente geh&ouml;ren zu den Hauptgruppen 13, 14 und 15, in den 2010er Jahren sind sp&auml;te &Uuml;bergangsmetalle dazugekommen. Viele Artikel nennen auch Bor als X-Elementvariante, diese MAB-Phasen kristallisieren aber in anderen (Schicht-)Strukturen und sind hier daher ausgeklammert.
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<figure><img alt="image" src="https://media.graphassets.com/ejPgy9cQRk6xvv7ppG1X">
<figcaption><label>Abb.1: </label>Die hervorgehobenen Elemente im Periodensystem bilden MAX-Phasen, die mit rotem Rand bilden MXene. MAX-Phasen sind tern&auml;re Schichtverbindungen, sie sind leitend und temperaturstabil. MXene sind graphen&auml;hnliche Schichten mit variabler Funktionalisierung. Vereinfachte Darstellung, die etwa geordnete MAX-Phasen und deren Elemente nicht zeigt.</figcaption>
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Ende der 1960er Jahre waren etwa 70 MAX-Phasen bekannt. Die Zahl steigt, unter anderem, weil neue Elemente in die Struktur eingebaut oder miteinander kombiniert werden. Ein Review-Artikel von Dezember 2023 erfasste mehr als 300 MAX-Phasen, darunter auch feste L&ouml;sungen und geordnete quatern&auml;re Varianten.
Die Basis sind also tern&auml;re Carbide, Nitride und Carbonitride, die chemisch variabel sind &ndash; man stelle sich das Mix-and-match-Prinzip angewendet vor. Einmal gut sch&uuml;tteln, heizen und heraus kommt f&uuml;r die meisten Kombinationen in Abbildung 1 eine MAX-Phase.1&ndash;3)
<h2 type="main">Strukturen von MAX-Phasen</h2>
Die Kristallstruktur der MAX-Phasen mit der allgemeinen Summenformel M2AX ist wie folgt: Eine hexagonale Struktur (Raumgruppe P63/mmc) besteht aus Schichten kantenverkn&uuml;pfter M6X-Oktaeder, die sich mit Schichten aus A-Elementen abwechseln (Abbildung 2). M6X-Oktaeder sind von bin&auml;ren &Uuml;bergangsmetallcarbiden bekannt, zum Beispiel kristallisiert Titancarbid in dieser Struktur &ndash; quasi eine NaCl-Struktur aus Titan und Kohlenstoff. Diese Gegebenheit ist mit ein Grund f&uuml;r die besonderen Eigenschaften der MAX-Phasen. Die Stapelfolge zwischen M6X-Oktaederschichten und A-Schichten ist auch variabel, sodass sich verschiedene Zusammensetzungen erreichen lassen: Die mit Abstand am weitesten verbreiteten MAX-Phasen sind M2AX, die sich der St&ouml;chiometrie folgend als &bdquo;211&ldquo; schreiben lassen. H&auml;ufige Varianten sind au&szlig;erdem M3AX2 (312) und M4AX3 (413). Ihre Strukturen unterscheiden sich am st&auml;rksten durch den steigenden c-Gitterparameter (Abbildung 2).
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<figure><img alt="image" src="https://media.graphassets.com/hD0ArPhJTOW7FCRHQIEr">
<figcaption><label>Abb.2: </label>Kristallstrukturen der MAX-Phasen, dargestellt mit vertikaler c-Achse. Der c-Gitterparameter steigt mit zunehmendem n in Mn+1Axn. M-Atome sind orangefarben, A-Atome dunkelrot und X-Atome grau. Die grauen Polyeder stellen M6X-Oktaeder dar.</figcaption>
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<h2 type="main">Woher Ti2AlC seine Eigenschaften hat</h2>
Die besonderen Eigenschaften von MAX-Phasen liegen an ihrer Kristallstruktur und der Elektronenstruktur: Der Bindungscharakter einer MAX-Phase, beispielsweiseTi2AlC, ist eine Mischung aus kovalent (Ti-C-Bindungen), ionisch (Ti-Al-Interaktionen) und metallisch (sich &uuml;berlappende Ti-d-Orbitale). M6X-Oktaeder sind die kovalenten Teile, wie sie im bin&auml;ren Carbid TiC vorkommen. Diese Oktaeder rufen den Keramik-Charakter hervor. Deshalb sind MAX-Phasen h&auml;ufig steif, hitze- und korrosionsresistent. Die d-Orbitale der &Uuml;bergangsmetalle (M-Elemente) dominieren die Zustandsdichte der MAX-Phasen, also die Anzahl der Zust&auml;nde pro Energieintervall. Sie sind f&uuml;r das metallische Verhalten verantwortlich. Daher sind MAX-Phasen elektrisch und thermisch leitend, was f&uuml;r Keramiken ungew&ouml;hnlich ist.4) Sie sind besonders f&uuml;r Anwendungen als Strukturwerkstoffe interessant und lie&szlig;en sich beispielsweise als Schutzschicht f&uuml;r Bauteile wie Heizelemente oder D&uuml;sen f&uuml;r Gasbrenner nutzen, die ohne sie keine hohen Temperaturen aushalten w&uuml;rden.
<h2 type="main">Funktionen</h2>
Seit einigen Jahren werden bei MAX-Phasen verschiedene magnetische Eigenschaften beschrieben, allerdings weitgehend f&uuml;r d&uuml;nne Schichten, nicht f&uuml;r gr&ouml;&szlig;ere Partikel und Pulver.5) Die MAX-Phase Mn2GaC etwa ist ferromagnetisch nahe Raumtemperatur.6) Sie hat magnetische &Uuml;berg&auml;nge, die mit Phasen&uuml;berg&auml;ngen &uuml;berlappen. Das ist Voraussetzung f&uuml;r magnetokalorische Materialien,7) also solche, die sich in einem externen Magnetfeld erw&auml;rmen und ohne Feld wieder abk&uuml;hlen. Diese Effekte sind allerdings weiter zu untersuchen, vor allem in gr&ouml;&szlig;eren Partikeln statt d&uuml;nnen Schichten. Wo liegt da die Herausforderung? Die Entstehung d&uuml;nner Schichten ist oft kinetisch kontrolliert, etwa bei der Molekularstrahlepitaxie/Gasphasenabscheidung. Bei klassischen Festk&ouml;rperreaktionen bildet sich jedoch das thermodynamische Produkt, da Temperaturen von etwa 1000 &deg;C n&ouml;tig sind, um die festen Reaktionspartner zur Reaktion zu bringen. Dabei entsteht aus den Elementen nicht die MAX-Phase Mn2GaC, sondern die thermodynamisch stabile Antiperovskit-Phase Mn3GaC.
Andere Elemente und Kombinationen ergeben MAX-Phasen mit vielf&auml;ltigen Eigenschaften. Der Gro&szlig;teil der MAX-Phasen sind jedoch Carbide, etwa 87 %. Ungef&auml;hr 6 % sind Nitride und nur 2 % Carbonitride. Die restlichen 5 % entfallen auf Verbindungen mit untypischen X-Elementen wie Bor und Phosphor. In den letzten Jahren wurden mehrere Carbonitrid-MAX-Phasen erstmals synthetisiert und untersucht. Das erweiterte die bisher einzigen Carbonitride Ti2AlC1&ndash;xNx und Ti3Al(C1&ndash;xNx)2 um V2GaC1&ndash;xNx,8) V2GeC1&ndash;xNx9) und Cr2GaC1&ndash;xNx10). Kohlenstoff und Stickstoff zu mischen, beeinflusst die Eigenschaften: Die magnetische Suszeptibilit&auml;t von Cr2GaC1&ndash;xNx steigt mit dem Stickstoffgehalt. Gleiches gilt f&uuml;r V2GeC1&ndash;xNx, wobei zudem die elektrische Leitf&auml;higkeit steigt.
<h2 type="main">MXene: graphen&auml;hnliche Nanoschichten</h2>
MAX-Phasen dienen auch als Ausgangsstoffe f&uuml;r eine weitere Materialklasse: Im Jahr 2012 ver&ouml;ffentlichten Forschende an der Drexel University (USA) erstmals die Synthese von MXenen der allgemeinen Zusammensetzung Mn+1XnTx, wobei T f&uuml;r die Oberfl&auml;chengruppen steht.11,12)
Seitdem gelten diese zweidimensionalen Materialien als &bdquo;hot topic&ldquo;. Das liegt vor allem an ihren Eigenschaften: MXene sind Graphen-&auml;hnliche Nanoschichten mit gro&szlig;er Oberfl&auml;che, aber anders als Graphen, das nur aus Kohlenstoff besteht, sind Zusammensetzung und funktionelle Oberfl&auml;chengruppen von MXenen variabel &ndash; Tx ist meist eine Mischung aus F-, Cl-, OH- und O-Gruppen. Au&szlig;erdem lassen sie sich leichter als leitende Filme oder stabile kolloidale L&ouml;sungen erhalten. Aus diesen Gr&uuml;nden sind sie vielversprechend f&uuml;r Anwendungen zur Energieumwandlung, -speicherung (Katalysatoren, Superkondensatoren) und in der Biomedizin (Biosensoren, antibakterielle Beschichtung) sowie unter anderem als Membranen und zur Abschirmung elektrotechnischer Ger&auml;te.
MXene lassen sich aus MAX-Phasen top-down herstellen: Um das A-Element Al oder Ga zu entfernen, wird die MAX-Phase typischerweise chemisch ge&auml;tzt.13) Dazu dienen aggressive S&auml;uren wie Flusss&auml;ure, die sich auch in situ aus LiF und HCl herstellen l&auml;sst. Dabei entstehen zun&auml;chst van-der-Waals-Schichtpakete aus M6X-Schichten (Abbildung 3). Indem kleinere Molek&uuml;le eingelagert werden, lassen sich die Schichten dann teilweise oder vollst&auml;ndig trennen, genannt Delaminieren. Nach einem solchen Prozess f&auml;llt das MXen als w&auml;ssrige kolloidale L&ouml;sung an, aus der sich durch Filtration ein metallischer Film abscheidet. Oft werden die Nanoschichten in der L&ouml;sung weiterverarbeitet. Auch hier ist die chemische Zusammensetzung wichtig: Molybd&auml;nbasierte MXene haben bei manchen Reaktionen die h&ouml;chste katalytische Aktivit&auml;t, etwa bei solchen zur Wasserspaltung.14)
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<figure><img alt="image" src="https://media.graphassets.com/Ajifd50KQKxiVAcvykcI">
<figcaption><label>Abb.3: </label>MAX-Phasen (links), MXen-Schichtpakete (Mitte) und delaminierte Schichten (D-MXene, rechts). Aufgenommen mit Elektronenmikroskopie (links, Mitte) und Rasterkraftmikroskopie (rechts).</figcaption>
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MXene lassen sich nicht nur durch &Auml;tzen mit Flusss&auml;ure synthetisieren, sondern beispielsweiseauch durch Behandlung mit Lewis-S&auml;uren wie CuCl2 und ZnCl2. Dabei ersetzt vermutlich das Metallion zun&auml;chst das A-Element in der MAX-Phase, wobei sich das Chlorid des A-Elements bildet und elementares Metall der Lewis-S&auml;ure. Beides wird nach der MXen-Bildung durch Waschen mit w&auml;ssriger S&auml;ure entfernt.
Derzeit tut sich einiges auf dem Gebiet. Vor Kurzem ver&ouml;ffentlichten Forschende einen Artikel, der das Gebiet wohl lange besch&auml;ftigen wird: In den vermeintlich sauerstofffreien MAX-Phasen und MXenen befindet sich nicht nur oberfl&auml;chlich Sauerstoff, sondern auch in den Schichtstrukturen selbst (Kasten).
<h2 type="main">AUF EINEN BLICK</h2>
MAX-Phasen sind eine Klasse tern&auml;rer &uuml;bergangsmetallbasierter Carbide und (Carbo-)Nitride.
Sie leiten gut und sind temperaturbest&auml;ndig. Grund daf&uuml;r ist ihre Kristallstruktur.
Au&szlig;erdem sind sie Ausgangsverbindungen f&uuml;r zweidimensionale Verbindungen, die MXene. Diese &auml;hneln Graphen, ihre Zusammensetzung und Oberfl&auml;chenchemie ist aber vielseitiger.
Die Beitr&auml;ge zur Serie Blickpunkt Anorganik verfassen seit Juni 2024 im Wechsel Christina Birkel und Simon Krause.
<h2 type="main">K&uuml;rzlich entdeckt: Sauerstoff in MAX-Phasen</h2>
MAX-Phasen und MXene sind Verbindungsklassen mit fast endlosen chemischen Zusammensetzungen, und es werden immer mehr. Eine neue Studie dieses Jahres erweitert den chemischen Spielraum: Forschende in Warschau analysierten die Zusammensetzung der MAX-Phasen und MXene Schicht f&uuml;r Schicht mit Sekund&auml;rionen-Massenspektrometrie.15) Dabei fanden sie Sauerstoff nicht nur oberfl&auml;chlich, sondern auch in den Schichtstrukturen. Der Sauerstoff bleibt zudem w&auml;hrend des &Auml;tzens zwischen den Schichten, die Ergebnisse gelten also sowohl f&uuml;r MAX-Phasen als auch f&uuml;r MXene. Wie viel Sauerstoff enthalten die Verbindungen &ndash; handelt es sich bei den Verbindungen in diesem Text um Oxycarbide, Oxynitride und Oxycarbonitride? L&auml;sst sich der Sauerstoffgehalt kontrollieren?
Es ist nicht einfach, diese Fragen zu beantworten, denn viele andere Charakterisierungstechniken eignen sich nicht f&uuml;r die Aufkl&auml;rung von leichten Elementen wie C, N und O. Um diese Materialien zu ergr&uuml;nden, sollten Experimentalchemiker:innen, Theoretiker:innen und Expert:innen auf dem Gebiet neuer Charakterisierungsmethoden weiterhin zusammenarbeiten.
<h2 type="main">Die Autorin</h2>
Christina Birkel (oben) ist Professorin an der Arizona State University, USA, und Kooperationsprofessorin an der TU Darmstadt, wo sie das Gebiet der anorganischen Festk&ouml;rper- und Materialchemie vertritt. Niels Kubitza hat im Jahr 2023 bei Birkel in Darmstadt promoviert und arbeitet seit Anfang es Jahres als Postdoktorand in einem Sonderforschungsbereich zu magnetischen Materialien, an dem Birkel beteiligt ist.<img alt="image" src="https://media.graphassets.com/eGwgAAgYRO2UakPhfStd"><img alt="image" src="https://media.graphassets.com/NuRVv2yZS9W5JfwNVbFz">
<ul class="references" cited="no" xml:id="nadc20244142068-bibl-0001">
<li xml:id="nadc20244142068-bib-0001">1 M. W. Barsoum, MAX Phases: Properties of Machinable Carbides and Nitrides; Wiley-VCH, Weinheim, 2013</li>
<li xml:id="nadc20244142068-bib-0002">2 N. Kubitza, C. B&uuml;chner, J. Sinclair, R. M. Snyder, C. S. Birkel, ChemPlusChem 2023, 88, 8, e202300214</li>
<li xml:id="nadc20244142068-bib-0003">3 C. M. Hamm, C. S. Birkel; MAX Phases and MXenes. In Comprehensive Inorganic Chemistry III [Hrsg.: J. Reedijk, K. Poeppelmeier], Elsevier, 2023, 27</li>
<li xml:id="nadc20244142068-bib-0004">4 M. Radovic, M. W. Barsoum, Am. Ceram. Soc. Bull. 2013, 92, 3, 20</li>
<li xml:id="nadc20244142068-bib-0005">5 A. S. Ingason, M. Dahlqvist, J. Ros&eacute;n, J. Phys.: Condens. Matter 2016, 28, 43, 433003</li>
<li xml:id="nadc20244142068-bib-0006">6 A. S. Ingason, A. Petruhins, M. Dahlqvist et al., Mater. Res. Lett. 2013, 2, 2, 89&ndash;93</li>
<li xml:id="nadc20244142068-bib-0007">7 M. Dahlqvist, A. S. Ingason, B. Alling et al., Phys. Rev. B 2016, 93, 1, 014410</li>
<li xml:id="nadc20244142068-bib-0008">8 N. Kubitza, A. Reitz, A.-M. Zieschang et al., Inorg. Chem. 2022, 61, 28, 10634</li>
<li xml:id="nadc20244142068-bib-0009">9 N. Kubitza, B. Beckmann, S. Jankovic et al., Chem. Mater. 2024, 36, 3, 1375</li>
<li xml:id="nadc20244142068-bib-0010">10 N.Kubitza, I. Huck, H. Pazniak et al., J. Mater. Chem. C 2024, 12, 7552</li>
<li xml:id="nadc20244142068-bib-0011">11 M. Naguib, O. Mashtalir, J. Carle et al., ACS Nano 2012, 6, 2, 1322</li>
<li xml:id="nadc20244142068-bib-0012">12 B. Anasori, Y. Gogotsi; 2D Metal Carbides and Nitrides (MXenes): Structure, Properties and Applications; Springer International Publishing, Cham, 2019</li>
<li xml:id="nadc20244142068-bib-0013">13 M. Alhabeb, K. Maleski, B. Anasori et al., Chem. Mater. 2017, 29, 18, 7633</li>
<li xml:id="nadc20244142068-bib-0014">14 Z. W. Seh, K. D. Fredrickson, B. Anasori et al., ACS Energy Lett. 2016, 1, 3, 589</li>
<li xml:id="nadc20244142068-bib-0015">15 P. P. Michałowski, Nanoscale Horiz. 2024, 9, 9, 1493</li>
</ul>

Zwischen Keramik und Metall

Blickpunkt Biowissenschaften

Wirkstoffe, mit denen Aids behandelt wird, verhindern die Krankheit, wenn sie prophylaktisch geschluckt oder gespritzt werden. Dies könnte die Bekämpfung der Epidemie revolutionieren – zumindest, wenn die Mittel zuverlässig verfügbar sind und auch so genutzt werden.Aids ist für viele in Europa eine Geschichte aus der Vergangenheit. Es ist die Pandemie, die in den 1980ern die Welt in Angst und Schrecken versetzte – denn es gab noch keine Behandlung, und das Forschungsgebiet der Retroviren war Neuland. Der Erreger wurde im Jahr 1983 entdeckt. Nach einigen Wirrungen um verschiedene Virusversionen, die sich letztlich doch als gleich herausstellten, von konkurrierenden <link href="#nadc20244145566-fig-0001">Arbeitsgruppen erhielt der Erreger den Namen humanes Immundefizienz-Virus (HIV).<figure xml:id="nadc20244145566-fig-0001"><figure><img alt="image" src="https://media.graphassets.com/G2oJqsHQRCiL2ACRJYX7"><figcaption><label>Abb.1: </label>Bild: Pixel-Shot / Adobe Stock</figcaption></figure></figure>Heutzutage lässt sich die Krankheit behandeln und eine Ansteckung vermeiden. Das funktioniert aber nicht unbedingt dort, wo die Behandlung für viele Betroffene – etwa wegen fehlender Krankenversicherung oder geringer Kaufkraft im Land generell – unerschwinglich ist, etwa in den USA und im globalen Süden. Aids ist zwar kein unüberwindbares medizinisches Problem mehr, aber aus sozialen und politischen Gründen immer noch eine Epidemie.Höchststand an Neuinfektionen waren über 3 Millionen jährlich in den Jahren 1995 bis 2000. Im Jahr 2023 wurden weltweit 1,3 Millionen neue HIV-Infektionen registriert, 630 000 Menschen starben an den Folgen einer Infektion. Das Programm der Vereinten Nationen für HIV/Aids (UNAids) hatte das Ziel gesetzt, die Zahl der Neuinfektionen bis zum Jahr 2025 auf 500 000 zu senken. Das dürfte nicht erreicht werden.Am stärksten betroffen ist das südliche Afrika: In Eswatini (früher Swasiland), Lesotho, Botswana und Simbabwe sind mehr als 20 Prozent der Erwachsenen mit HIV infiziert. Südafrika hat mit 9,2 Millionen die meisten HIV-Infektionen, gefolgt von Tansania und Mosambik.Im Sommer 2024 gab es sensationelle Neuigkeiten, die diese Situation dramatisch verbessern könnten: die großflächige und prophylaktische Anwendung von Anti-Aids-Wirkstoffen.<h2 type="main">Vorher besser als nachher</h2>Solange kein Impfstoff verfügbar ist, gilt die Prä-Expositions-Prophylaxe (PrEP) als beste Methode, die Ansteckung mit HIV und damit auch die Aids-Erkrankung zu verhindern. PrEP bedeutet, regelmäßig einen Wirkstoff einzunehmen, der die Erkrankung verhindert, selbst wenn man der Ansteckungsgefahr ausgesetzt ist.Ein PrEP-Medikament ist seit Jahren im Einsatz: Das Aids-Medikament Truvada wurde von der US-Aufsichtsbehörde FDA im Jahr 2012 zusätzlich auch zur Prophylaxe in Risikogruppen zugelassen. Die Weltgesundheitsorganisation schloss sich dieser Empfehlung an.Dieses Präparat besteht aus einer täglich einzunehmenden Tablette mit den Wirkstoffen Emtricitabin – einem Analogon des Nukleosids Cytidin – und Tenofovir, einem Reverse-Transkriptase-Inhibitor auf Nukleotidbasis. Beide verhindern, dass sich die Viren vermehren. In den USA wird es für mehr als 2000 US-Dollar pro Person und Monat gehandelt. Doch inzwischen gibt es etliche Initiativen, die Nachahmerprodukte des Wirkstoffs auch in ärmeren Ländern der Bevölkerung zugänglich machen, die einem hohen Aids-Risiko ausgesetzt ist.Allerdings blieb das Risiko, sich mit HIV anzustecken, nahezu gleich bei denjenigen Frauen in afrikanischen Ländern, denen Truvada verschrieben wurde. Dies wird darauf zurückgeführt,1) dass die am meisten gefährdeten Frauen oft nicht die nötige Autonomie und Privatsphäre haben, um das Medikament zuverlässig jeden Tag einnehmen zu können. Denn PrEP wurde zunächst explizit an Hochrisikogruppen vermarktet und gilt deshalb jetzt als Stigma: Für Frauen kommt PrEP oft einem Eingeständnis der Promiskuität gleich, auch wenn vielleicht in Wirklichkeit ihre promiskuitiven Partner sie der Ansteckungsgefahr aussetzen.Wegen dieser Schwierigkeiten mit PrEP bei täglicher Tabletteneinnahme wurde es jetzt als enormer Fortschritt begrüßt, dass ein langanhaltendes Präparat ebenso wirksam schützt: Das bereits zur Aids-Behandlung zugelassene Lenacapavir bindet an Bausteine der Virusproteinhülle (des Capsids) und verhindert so, dass sich aktive Viren zusammenlagern. Damit ist der ganze Funktionszyklus des Virus unterbrochen, es kann keine neuen Zellen infizieren und sich somit auch nicht weiter vermehren.<h2 type="main">Studien mit Frauen und Männern</h2>Eine klinische Studie mit 5338 Teilnehmerinnen in Südafrika und Uganda testete das Medikament Lenacapavir. Es muss zweimal pro Jahr gespritzt werden, und die Studie verglich dies mit den etablierten PrEP-Tabletten. In dem Doppelblindversuch erhielten die Frauen entweder Wirkstoff-Injektionen und Placebo-Tabletten oder umgekehrt.2)Unter den 2134 Teilnehmerinnen, die Lenacapavir erhalten hatten, infizierte sich keine mit HIV. In den Vergleichsgruppen, die durch die wirksamen Tabletten geschützt sein sollten, diese aber vermutlich nicht wie vorgegeben nehmen konnten, gab es hingegen 55 HIV-Fälle. Von den 1068 Frauen, die Truvada erhielten, steckten sich 16 an (1,5 %), bei den 2136 Frauen, die das neuere Präparat Descovy bekamen, waren es 39 (1,8 %). Die Ansteckungsraten waren in diesen Gruppen nur leicht geringer als in der allgemeinen Bevölkerung.Aufgrund dieser eindeutigen Ergebnislage wurde das Doppelblindverfahren aus ethischen Gründen aufgehoben, als 50 Prozent der Teilnehmerinnen seit einem Jahr dabei waren. Die Teilnehmerinnen wurden informiert, in welcher Gruppe sie sich befanden, und durften wählen, welchen der drei Wirkstoffe sie von nun an nutzen würden. Die Studie läuft jetzt also im Open-label-Format weiter; interessant sind Faktoren wie Langzeitverträglichkeit und ob es doch Infektionsfälle gibt, die nur zu selten sind, um bei ein paar Tausend Teilnehmerinnen aufzufallen.Eine zweite Studie an Männern in Lateinamerika, Südafrika, Thailand und den USA erbrachte ebenfalls vielversprechende Ergebnisse hinsichtlich der Spritze,3) es liegt aber noch keine wissenschaftliche Veröffentlichung vor.Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung der afrikanischen Studie2) belief sich der Marktpreis für Lencapavir in den USA auf 42 250 US-Dollar pro Person und Jahr. In Reaktion auf die klinische Studie haben Expert:innen ausgerechnet: Generische Versionen des Wirkstoffs ließen sich sogar bei einem Verkaufspreis von 40 US-Dollar pro Person und Jahr noch gewinnbringend verkaufen, wenn mindestens 10 Millionen Menschen ihn regelmäßig nutzen. Diese Berechnung wurde im Juli bei der 25. Internationalen Aids-Konferenz in München bekanntgegeben.Im September stellte das US-Unternehmen Gilead, das Lenacapavir entwickelt hat, einen Plan vor: Partnerfirmen sollen den Wirkstoff herstellen und in 120 ärmeren Ländern zu erschwinglicheren Preisen verfügbar machen. Kritische Stimmen notierten allerdings, etliche Länder des wirtschaftlichen Mittelfelds etwa in Lateinamerika seien von dem Schema ausgeschlossen, obwohl dort viele Menschen Aids haben: Brasilien beispielsweise steht mit einer HIV-Prävalenz bei Erwachsenen von 1,5 Prozent auf Platz 47 der Weltrangliste.<h2 type="main">Soziale Verwicklungen</h2>Bis heute ist es unter anderem deshalb so schwierig, Aids zu bekämpfen, weil soziale Komplikationen wie Armut, mangelnde Gleichberechtigung, diverse Sexualverhalten und damit assoziierte Vorurteile entscheidend zur Ausbreitung der Krankheit beitragen – und diese Faktoren werden nicht immer offen angesprochen.Ebenso wie die täglichen PrEP-Pillen in Afrika an der mangelnden Autonomie der gefährdeten Frauen scheitern, könnte auch der Einsatz der Lenacapavir-Spritze unbeabsichtigte Nebenwirkungen haben. In Europa zum Beispiel zeichnet sich ab, dass sich Menschen wegen der Wirksamkeit von PrEP von anderen Vorsichtsmaßnahmen abwenden, etwa von Kondomen. Dies zeigt sich bereits in einer Zunahme von anderen sexuell übertragenen Infektionen, gegen die PrEP natürlich nicht im Geringsten hilft.Solche Reaktionen können den erhofften Erfolg der Lenacapavir-Spritze verringern und auch die wirtschaftliche Last für arme Länder auf andere Krankheiten verschieben. Möglicherweise würde – sind Aids-Erkrankungen erst einmal seltener geworden – die Motivation der Menschen sinken, sich alle sechs Monate Lenacapavir spritzen zu lassen. Dann würde zwar die Zahl der Erkrankungen sinken, aber nicht auf Null, was bedeuten würde, dass die Aids-Epidemie noch jahrzehntelang besteht. Eine dauerhaft wirksame Impfung wäre daher zu bevorzugen, doch die lässt noch auf sich warten.<h2 type="main">Wo bleibt die Impfung?</h2>In der Covid-19-Pandemie haben wir erlebt, wie innerhalb eines Jahrs nach der Identifizierung des neuartigen Erregers Impfstoffe entwickelt wurden.4) Bei <link href="#nadc20244145566-fig-0002">Aids erwies sich dies leider als nicht so einfach, und nach vier Jahrzehnten gibt es immer noch keine Impfung. Ein fundamentales Problem liegt darin, dass der Erreger wandlungsfähig ist und der von einem Impfstoff induzierten Immunreaktion ausweichen kann.<figure xml:id="nadc20244145566-fig-0002"><figure><img alt="image" src="https://media.graphassets.com/7FpZfz3MSeyBrvtWwIEc"><figcaption><label>Abb.2: </label>So funktioniert die sequenzielle Impfung, die HIV-Immunität induziert. Es gibt mehrere Erkennungsstellen (Epitope) für breit neutralisierende Antikörper (bnAb) auf dem Glykoprotein-Baustein (Env) der Virushülle von HIV-1. Die CD4-Rezeptor-Bindungsstelle (CD4bs) und die V3-N332-Epitop-Cluster sind wichtige Ziele für das Keimbahn-Targeting (GT) impfstoffinduzierter breit neutralisierender Antikörper (bnAb). Bei dieser Strategie werden zunächst vorbereitende (priming) Immunogene mit starker Veränderung der Epitope eingesetzt (gekennzeichnet als Sterne), dann formende (shaping) Immunogene mit geringeren Veränderungen, und zuletzt aufpolierende (polishing) Immunogene, die dem nativen Wildtyp des virenassoziierten Hüllproteins ähneln. Die Sequenz soll B-Zellen dazu bringen, zu langlebigen bnAb-produzierenden Plasmazellen zu werden. nach 5)</figcaption></figure></figure>Eine vielversprechende Strategie induziert nicht die Bildung bestimmter Antikörper gegen bestimmte Erregermerkmale, sondern setzt im Immunsystem eine Stufe früher an – bei den Vorläuferzellen (B-Zellen), aus denen sich dann die Antikörper produzierenden Zellen entwickeln. Diesen Ansatz verfolgen Forschende am Scripps Research Institute und der International Aids Vaccine Initiative (IAVI), die im Mai 2024 vier vorklinische Studien dazu veröffentlichten.5)Unabhängig davon haben Forschende am Massachusetts Institute of Technology eine Methode entwickelt, die Resistenzbildung zu umgehen. Dazu sind sieben Impfungen nacheinander mit zunehmender Dosis innerhalb von zwei Wochen nötig. Das ahmt nach, was passiert, wenn das Immunsystem auf natürliche Weise einer Viruserkrankung ausgesetzt wird: Wenn die Virenlast zunimmt, verstärkt das Immunsystem seine Gegenmaßnahmen. Dieses Verfahren ist für Massenimpfungen allerdings zu umständlich. Deswegen suchte das Team nach Vereinfachungen und berichtete nun im September: Zumindest in Tierversuchen funktionieren auch zwei Impfungen mit der gleichen Gesamtdosis im Abstand von sieben Tagen, wenn 20 Prozent der Gesamtdosis beim ersten Mal verabreicht werden und 80 Prozent beim zweiten Mal.6)Für alle gegenwärtig untersuchten Impfstoff-Hoffnungen fehlt bisher der klinische Beweis, dass sie vor einer HIV-Infektion schützen. Da es nun eine zuverlässig wirksame Prä-Expositions-Prophylaxe gibt, wird es schwieriger, die für die Impfstoff-Entwicklung nötigen klinischen Studien zu rechtfertigen. Man müsste sich ihrer Wirksamkeit schon sehr sicher sein, um einen Einsatz im Doppelblindverfahren gegen einen so starken Schutz wie Lenacapavir verantworten zu können.<h2 type="main">Der Autor</h2>Der promovierte Chemiker Michael Groß arbeitet als freier Wissenschaftsjournalist in Oxford, England. <a href="https://michaelgross.co.uk" target="_blank">michaelgross.co.uk</a><h2 type="main">AUF EINEN BLICK</h2>Solange kein Impfstoff verfügbar ist, gilt die Prä-Expositions-Prophylaxe (PrEP) als beste Methode, eine Ansteckung zu verhindern.Bisher sind PrEP-Medikamente nicht bezahlbar für die Menschen, die der größten Ansteckungsgefahr ausgesetzt sind. Generika sind nötig.PrEP senkt zwar die Aids-Zahlen, erhöht aber die Sorglosigkeit und damit die Häufigkeit anderer sexuell übertragbarer Krankheiten.<ul class="references" cited="no" style="numbered" xml:id="nadc20244145566-bibl-0001"><li xml:id="nadc20244145566-bib-0001">1 S. Davoudpour, G. L. Phillips II, P. A. Serrano, A. L. French, S. G. Hosek, Sexes 2024, doi: <accessionid ref="info:doi/10.3390/sexes5030023">10.3390/sexes5030023</accessionid></li><li xml:id="nadc20244145566-bib-0002">2 L.-G. Bekker , M. Das, Q. A. Karim et al., N. Engl. J. Med. 2024, 391, 1179–1192</li><li xml:id="nadc20244145566-bib-0003">3 zur Gilead-Meldung: <url href="https://t1p.de/s7ixt"><a href="https://t1p.de/s7ixt" target="_blank">t1p.de/s7ixt</a></url> (Stand 9. Oktober 2024)</li><li xml:id="nadc20244145566-bib-0004">4 M. Groß, Nachr. Chem. 2021, 69(1), 50–53</li><li xml:id="nadc20244145566-bib-0005">5 R. W. Sanders, J. P. Moore, Science 2024, 384, 738–739</li><li xml:id="nadc20244145566-bib-0006">6 S. H. Bhagchandani, L. Yang, J. H. Lam, Sci. Immunol. 2024, doi: <accessionid ref="info:doi/10.1126/sciimmunol.adl3755">10.1126/sciimmunol.adl3755</accessionid></li></ul>

Artikel

Vorbeugen mit Pille oder Spritze

Tausende pharmakologisch aktive Substanzen werden regelmäßig genutzt und gelangen somit in die Umwelt. Im Gegensatz zu ihrer Sicherheit für Patient:innen sind die Kollateralschäden in der Biosphäre wenig erforscht.Seit Anfang des 20. <link href="#nadc20244145385-fig-0001">Jahrhunderts hat die Behandlung von Krankheiten mit neu entwickelten Medikamenten die Medizin revolutioniert, die Lebenserwartung verlängert und Seuchen zurückgedrängt. Heute stehen mehr als 1900 Wirkstoffe für menschliche Patent:innen zur Verfügung. Obwohl sie teilweise verstoffwechselt werden, landen Teile der Ursprungssubstanz sowie Abbauprodukte meist im Urin und somit im Abwasser. Nicht genutzte Medikamente und Produktionsabfälle gelangen zusätzlich über die Müllentsorgung in die Umwelt.<figure xml:id="nadc20244145385-fig-0001"><figure><img alt="image" src="https://media.graphassets.com/3cdgSPj7TixCd3UYCgyy"><figcaption><label>Abb.1: </label>Bild: Leigh Prather / Adobe Stock</figcaption></figure></figure>Im Abwasser lassen sich mit den analytischen Methoden, die unter anderem zur vorsorglichen Überwachung in der Coronavirus-Pandemie dienten – etwa LC-MS/MS –, etliche Wirkstoffe nachweisen. Neben Medikamenten finden sich illegale Drogen wie Kokain, was hilft, den Drogenkonsum in Städten oder bei Festivals zu ermitteln. Wenig ist hingegen darüber bekannt, welche Wirkstoffe in welchem Umfang nach der Abwasseraufbereitung mit dem geklärten Wasser – oder, schlimmer noch, mit ungeklärtem Wasser – in die Umwelt gelangen und welche Schäden sie dort anrichten.<h2 type="main">Wirkstoffe in Flüssen</h2>Die erste weltweite Untersuchung der Auswirkungen von Pharmawirkstoffen auf Ökosysteme in Flüssen erschien im Jahr 2022. John Wilkinson und Alejandra Bouzas-Monroy von der Universität York in England haben zusammen mit Kolleg:innen aus anderen Ländern nach 61 Pharmawirkstoffen gesucht, und zwar in Proben von 1052 Entnahmestellen an 258 Flüssen in 104 Staaten auf allen Kontinenten.1) Zu den nachgewiesenen Substanzen zählten etwa das Malariamedikament Artemisinin, Carbamazepin gegen Epilepsie, das Beruhigungsmittel Diazepam, das Schmerzmittel Paracetamol, das Antibiotikum Trimethoprim sowie die Alltagsdrogen Nikotin und Koffein.Den Ergebnissen zufolge gefährden an mehr als einem Viertel der untersuchten Entnahmestellen die Wirkstoffe die Gesundheit von Menschen, der Umwelt oder beidem. Diese Schlussfolgerung beruht auf vorläufigen Auswertungen, bei denen nachgewiesene Konzentrationen mit kritischen Umweltkonzentrationen und mit den beim Menschen als harmlos eingestuften Konzentrationen verglichen wurden. Nicht für alle Substanzen gibt es Vergleichswerte in der Literatur.In einer eingehenderen Auswertung der Daten verglichen Bouzas-Monroy und andere die Befunde mit ökotoxikologischen Kriterien.2) Wie sie dabei herausfanden, gefährdeten an 461 der 1052 Entnahmestellen (43,5 %) die Wirkstoffkonzentrationen dort ansässige Arten. Die bedenklichen Substanzen repräsentieren verschiedene Wirkstoffkategorien und wirken dementsprechend unterschiedlich auf Organismen: Das reicht von akuter Giftwirkung bis hin zu subtilen Verhaltensänderungen, was langfristig die Überlebensfähigkeit von Populationen und Arten infrage stellen kann. Die wenigen bisher ausgeführten Untersuchungen solcher Auswirkungen geben nur einen ersten Eindruck dessen, was passieren kann.<h2 type="main">Spezifische Schäden</h2>Antibiotika sind ein Sonderfall. Hier ist seit Jahren bekannt: Die Nutzung dort, wo sie nicht unbedingt nötig sind – etwa in der Landwirtschaft –, beflügelt die Verbreitung von Resistenzgenen in der Umwelt. Und neue Antibiotika zu entwickeln dauert zu lange, um mit den Resistenzen Schritt zu halten. Deshalb besteht die große und dringliche Gefahr, dass wir innerhalb weniger Jahrzehnte die gewohnte Schutzwirkung der Antibiotika verlieren und bakterielle Infektionen wieder ein ebenso großes Problem werden, wie sie es bis Anfang des 20. Jahrhunderts waren.3)<h2 type="main">Schmerzmittel und anderes</h2>Bei anderen Wirkstoffen gibt es nur gelegentlich einen Einblick, was sie in der Natur bewirken. Das auch bei Tieren als Entzündungshemmer verwendete Schmerzmittel Diclofenac ist ein Beispiel. Es diente in Indien zur Behandlung von Rindern. Da diese dort oft eines natürlichen Todes sterben und ihre Kadaver von Geiern entsorgt werden, erhielten die Geier toxische Dosen des Wirkstoffs. Mehrere Arten der Gattung Gyps waren nahezu ausgestorben, bevor das Medikament im Jahr 2005 verboten wurde. Weil die wenigen Geier ihrer Entsorgungsaufgabe nicht mehr flächendeckend nachkommen konnten, vermehrten sich unkontrolliert Aasfresser wie Ratten und Wildhunde. Unter diesen breitete sich die Tollwut aus, an der dann 500 000 Menschen starben. Mittlerweile ist Diclofenac ein Schulbeispiel dafür, wie sehr ein einzelner Wirkstoff der Gesundheit von Mensch und Umwelt schaden kann.Die Krise rund um die Wirkung von Neonicotinoiden auf Bienen und Hummeln ist ein Beispiel dafür, dass ein Wirkstoff nicht akut toxisch sein muss, um Schaden anzurichten. Selbst eine leichte Gedächtnisstörung kann die ökologische Funktion der bestäubenden Insekten zum Entgleisen bringen. Ähnlich subtile Effekte sind von psychoaktiven Substanzen zu erwarten, die nach menschlicher Nutzung in die Umwelt gelangen – von Kaffee bis Kokain.In geklärtem Wasser aus tschechischen Kläranlagen sind Methamphetaminreste nachweisbar. Ausgehend von dieser Beobachtung hat die Arbeitsgruppe von Pavel Horký an der Tschechischen Agraruniversität Prag untersucht, wie diese Droge auf die dort heimische Forelle (Salmo trutta) wirkt. Methamphetamin ist ein anregender Wirkstoff, der bei der Behandlung einer Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) zum Einsatz kommt, aber vor allem als Partydroge benutzt wird. Das Hydrochlorid ist das besonders leicht süchtig machende Crystal Meth. Die Forscher:innen untersuchten das Verhalten der Forelle bei Methamphetamin-Konzentrationen, wie sie in Flüssen stromab von Kläranlagen vorkommen: Die Fische hatten Anzeichen einer Sucht nach dem Wirkstoff.4)Die Forellen zeigten Entzugserscheinungen und strebten aktiv nach der Droge. Diese Verhaltensweisen sind in freier Natur problematisch, weil das Drogen-suchende Verhalten andere, lebenswichtige Prozesse beeinträchtigen kann. Darüber hinaus verleitet es die Forellen, zur Drogenquelle zurückzukehren, also zu den Einflüssen von Kläranlagen, wo sie dann weiteren Gefahrstoffen ausgesetzt sind.<h2 type="main">Ecstasy</h2>Eine andere Studie befasste sich mit dem Methamphetamin-Derivat MDMA (Ecstasy) und Tintenfischen. Die Abstammungslinien von Mollusken und Säugetieren trennten sich vor mehr als 500 Millionen Jahren. Tintenfische gelten zwar mittlerweile als ebenso intelligent wie viele Säugetiere, aber ihr Nervensystem ist völlig anders organisiert als das von Mäusen und Menschen.5) Deshalb waren Eric Edsinger und Gul Dolen überrascht, als sie bei Genomstudien am Kraken Octopus bimaculoides fanden, dass dieser denselben Ecstasy-Rezeptor herstellt wie wir. Mit einem Verhaltensexperiment demonstrieren die Autoren daraufhin: Auch der Tintenfisch wird mit Ecstasy seinen Artgenossen gegenüber aufgeschlossener als ohne.6)Anna Capaldo von der Universität Neapel hat in mehreren Studien beschrieben, wie Kokain auf Fische wirkt. Die Konzentrationen entsprechen dabei denen, wie sie in der Umwelt vorkommen. Besonders beschäftigte sich Capaldo mit dem europäischen Aal (Anguilla anguilla). Chronische Belastung des Wassers mit Kokain führt bei den Aalen zu etlichen anatomischen Veränderungen, etwa an ihren Kiemen, ihren Skelettmuskeln und im Fortpflanzungssystem. Diese Veränderungen könnten langfristig das Überleben der Art gefährden.7)<h2 type="main">Alternativen suchen</h2>Kokain ist eine der am schnellsten abhängig machenden Drogen, und der Kampf gegen diese Droge und ihre Verbreitung erweist sich seit Jahren als aussichtslos. Allerdings wird die Droge in der Natur rasch abgebaut – im Gegensatz zu vielen anderen Wirkstoffen.Tomas Brodin von der Schwedischen Landwirtschaftlichen Universität in Umeå und Kolleg:innen haben zu einem Umdenken in der Pharmaindustrie aufgerufen.8) Man müsse dringend weniger umweltgefährdende Wirkstoffe entwickeln, die bei gleicher Wirksamkeit weniger Schaden in der Umwelt anrichten.<ul class="references" cited="no" style="numbered" xml:id="nadc20244145385-bibl-0001"><li xml:id="nadc20244145385-bib-0001">1 J. L. Wilkinson, A. B. A. Boxall, D. W. Kolpin et al., Proc. Natl. Acad. Sci. USA 2022, 119, e2113947119</li><li xml:id="nadc20244145385-bib-0002">2 A. Bouzas-Monroy, J. L. Wilkinson, M. Melling, A. B. A. Boxall, Environ. Toxicol. Chem. 2022, 41, 2008</li><li xml:id="nadc20244145385-bib-0003">3 M. Groß, Nachr. Chem. 2022, 70(1), 62</li><li xml:id="nadc20244145385-bib-0004">4 P. Horký, R. Grabic, K. Grabicová, B. W. Brooks et al., J. Exp. Biol. 2021, 224, jeb242145</li><li xml:id="nadc20244145385-bib-0005">5 M. Groß, Nachr. Chem. 2015, 63, 1186</li><li xml:id="nadc20244145385-bib-0006">6 E. Edsinger, G. Dölen, Curr. Biol. 2018, 28, 3136</li><li xml:id="nadc20244145385-bib-0007">7 A. Capaldo, F. Gay, M. Lepretti, G. Paolella et al., Sci. Total Environ. 2018, 640 und 862</li><li xml:id="nadc20244145385-bib-0008">8 T. Brodin, M. G. Bertram, K. E. Arnold et al., Nat. Sustain. 2024, 7, 949</li></ul>

Pharmazeutika als Umweltproblem

Werden bestimmte Materialien mit Licht bestrahlt, trennen sich in ihnen die Ladungen. Hält die Trennung lang genug, eignet sich das als Solarbatterie – ein Bauteil, das Sonnenenergie gleichzeitig verwertet und speichert. Nicht nur das: Manche der Substanzen können auch im Dunkeln Wasser spalten.Sonnenenergie ist eine nachhaltige Energiequelle, zumindest, wenn die Erdoberfläche der Sonne zugewandt ist. In der Nacht sieht es da im Wortsinn düster aus. Doch die Biologie nutzt Solarenergie rund um die Uhr: Bei Tag findet die Lichtreaktion der Photosynthese statt, bei Nacht arbeiten die dabei gebildeten chemischen Energieträger und Reduktionsmittel. Ähnlich verarbeiten neuerdings manche künstliche Materialien die Lichtenergie.<h2 type="main">Speichern statt nur einfangen</h2>Edmond Becquerel hat bereits im Jahr 1839 ein anderes Konzept entdeckt, mit dem sich Solarenergie umwandeln und nutzen lässt: den photovoltaischen Effekt. Strahlt die Sonne auf einen Halbleiter, regt Lichtenergie Elektronen in das Leitungsband an. Dabei entstehen Elektronen-Loch-Paare (<link href="#nadc20244142066-fig-0001">Abbildung 1) – und deren Trennung erzeugt elektrische Spannung. So generieren Photovoltaik-Anlagen Strom.<figure xml:id="nadc20244142066-fig-0001"><figure><img alt="image" src="https://media.graphassets.com/LEgc1ovSTqQ9lW6oiVvu"><figcaption><label>Abb.1: </label>Halbleiter und die Prozesse der lichtinduzierten Ladungstrennung in Elektron(e–)-Loch(h+)-Paare. Angeregte Elektronen lassen sich nutzen, um Wasser in Wasserstoff und Sauerstoff zu spalten. V+ steht für Vakanz, M+ ist meist ein Alkalimetallkation.</figcaption></figure></figure>Die ladungsgetrennten Zustände im Aktivmaterial rekombinieren, daher beträgt deren Lebenszeit nur Nano- bis Millisekunden. Das bedeutet: ohne Licht kein Strom. Eine Photovoltaikanlage ist eben keine Batterie. Doch welche Möglichkeiten ergäben sich, wenn die Ladungstrennung in Materialien länger halten würde – Stunden oder gar Tage? Und sich Materialien mit Licht aufladen ließen?<h2 type="main">Getrennte Ladungen länger stabilisieren</h2>Zur Ladungstrennung sollte die Bandlücke der Materialien etwa so groß sein wie die Energie des Lichts. Die angeregten Elektronen und die damit verbundenen Löcher lassen sich auf verschiedenen Wegen lange stabilisieren: über Redoxreaktionen innerhalb des Materials, lokale Defekte im Gitter oder an der Oberfläche sowie durch besondere Zustände in der Bandstruktur. Darüber hinaus können Ladungsträger, häufig Löcher, aus dem Material entfernt werden. Das geht durch elektrochemische Reaktion an Elektroden oder durch chemische Reaktionen mit Elektronendonoren, die mit der Oberfläche in Kontakt kommen. Die entfernten Löcher fehlen zur Rekombination mit den Elektronen, wodurch die Elektronen länger stabilisiert sind.Die Ladung des Materials muss jedoch ausgeglichen bleiben. Das bewerkstelligen beispielsweise Alkalimetallionen, die dazu allerdings frei beweglich oder schwach gebunden sein müssen.1) Durch Lichteinstrahlung steigt die Konzentration und Mobilität der Ionen und dementsprechend die Leitfähigkeit (Optoionik), da das Licht die Ladungen trennt und die erzeugten Ladungsträger schwächer im Gitter gebunden sind.2) Weiterhin können Defekte oder strukturelle Vakanzen verhindern, dass Löcher und Elektronen rekombinieren, also sich gegenseitig auslöschen – das stabilisiert beispielsweise Elektronen langfristig im Festkörper.3)<h2 type="main">Titandioxid: weiß, schwarz oder bunt</h2>Titandioxid ist eines der bedeutendsten Materialien, das diese Eigenschaften erfüllt und folglich über lange Zeit lichtinduzierte Ladungen speichern kann, vor allem Elektronen.Wie seit 1972 bekannt ist, kann TiO2 Wasser in Wasserstoff und Sauerstoff spalten.4) Dazu ist UV-Licht nötig, das einige TiIV-Ionen zu TiIII reduziert, wobei Teilchen in der Umgebung oxidiert werden; beispielsweise reagieren Oxidionen zu molekularem Sauerstoff (<link href="#nadc20244142066-fig-0002">Abbildung 2). Dadurch entstehen Sauerstofffehlstellen. Diese Stellen dienen entweder direkt als katalytisch aktives Zentrum, oder die freigewordenen Elektronen werden auf einen Cokatalysator wie Pt übertragen, der dann das Wasser spaltet.<figure xml:id="nadc20244142066-fig-0002"><figure><img alt="image" src="https://media.graphassets.com/ayTo2zpcTeJshOibu8tr"><figcaption><label>Abb.2: </label>Strukturen und Bandmodelle lichtaktiver Halbleiter: TiO2 (links), Wolframbronze (Mitte) und Carbonitride (rechts). Nach Lichtanregung speichern die Verbindungen auf unterschiedliche Art Elektronen. Abbildung inspiriert von Lit. 22.</figcaption></figure></figure>Damit TiO2 die Sonnenergie möglichst effizient nutzt, sollte es sichtbares Licht absorbieren. Reines TiO2 hat jedoch eine Bandlücke von 3 – 3,2 eV, absorbiert also nur UV-Licht und nutzt so nur rund 5 Prozent der Sonnenenergie. Doch TiO2 lässt sich so modifizieren, dass es auch sichtbares Licht absorbiert.5) Zum Beispiel lassen sich strukturelle Defektstellen (Sauerstoffvakanzen) einbauen,6) und partiell reduziertes TiIII wird stabilisiert. Diese Modifikation entsteht, wenn TiO2 bei hoher Temperatur einer Wasserstoffatmosphäre ausgesetzt wird. Dass das so veränderte TiO2 im sichtbaren Bereich absorbiert, zeigt sich an einer Blau- bis Schwarzfärbung des Materials. Die defektreiche Atomstruktur dieses TiO2-Materials ist bis heute schlecht verstanden, und die photokatalytische Aktivität ließ sich dadurch nicht so stark erhöhen wie erhofft.Statt TiO2 selbst sichtbares Licht absorbieren zu lassen, kann dies ein Farbstoff übernehmen, der an die Partikeloberfläche adsorbiert oder gebunden ist. Der Farbstoff wird mit sichtbarem Licht angeregt und überträgt Ladung oder Energie auf das Material. Dieses Prinzip nutzen Farbstoffsolarzellen mit TiO2 und organischen Farbstoffen.7)Mit Lichtabsorbern arbeitet auch die Photosynthese: Diese trennen in der Lichtreaktion die Elektron-Loch-Paare. Die freien Elektronen interagieren daraufhin mit Cokatalysatoren in einer photokatalytischen Reaktion und spalten so Wasser. Die Teile des Wassers wandern in das Nicotinamidadenindinukleotid NADH/H+ – frei werden Adenosintriphosphat (ATP) und Sauerstoff. In der Nacht nutzen die Zellen NADH/H+ als chemisches Reduktionsmittel und ATP als Energieträger in ihrer Dunkelreaktion. Dabei wird CO2 reduziert, und so werden Kohlenhydrate aufgebaut. Für diesen Prozess müssen Zellen Lichtenergie als chemische Energie speichern und umwandeln.<h2 type="main">Bronzen ohne Kupfer</h2>Eine weitere Stoffklasse, die Ladung aus Licht erzeugen und stabilisieren kann, sind Wolframbronzen. Bronzen heißen sie, weil sie metallisch aussehen und elektrisch leitfähig sind. Sie sind nichtstöchiometrische Verbindungen der Formel MxWOn; bekannt sind vor allem die, bei denen M für Alkalimetallionen steht. Je nach Zusammensetzung unterscheiden sich die Strukturen. Auch bei den Wolframbronzen erzeugt das Licht eine Ladungstrennung, woraufhin Wolfram teilweise reduziert wird.Die Löcher verschwinden wie bei TiO2 – sie reagieren mit umliegenden Molekülen oder setzen O2 aus dem Gitter frei. Die eingelagerten Alkalimetallionen wandern und neutralisieren so die stabilisierten Elektronen.<h2 type="main">Photoaktive Festkörper ohne Metall</h2>Carbonitride sind ein weiteres lichtaktives Material.8,9) Herstellen lassen sie sich beispielsweise aus Harnstoff oder Stickstoff-Kohlenstoff-Heterocyclen. Alkalimetalle wie Kalium sorgen durch Ladungsausgleich dafür, dass das gelbe Carbonitrid Kalium-Poly(heptazinimid)(K-PHI)-Elektronen stabilisiert – vorausgesetzt, ein Elektronendonor ist anwesend (Abbildung 2). Unter Sauerstoffausschluss bleiben die Ladungen tagelang getrennt. Das „lichtgeladene“ Material nimmt ein kräftiges Blau an, ähnlich wie das modifizierte TiO2. Um Elektronen zu stabilisieren, müssen nicht nur Löcher entfernt sein, sondern Kationen müssen durch das Material wandern, um die Ladung des lokal gespeicherten Elektrons auszugleichen.10)PHI-Systeme sind Halbleiter; sie katalysieren zusammen mit Cokatalysatoren wie Pt unter Lichtbestrahlung viele Reaktionen, darunter Wasserspaltung und Reduktion von CO2.9)<h2 type="main">Eingesperrte Moleküle</h2>Es gibt Materialien, die Aspekte oxidischer Halbleiter und organischer Farbstoffe vereinen: metallorganische Gerüstverbindungen (MOFs).Manche MOFs enthalten mehrkernige Titan-oxo-Cluster, die mit Carboxylatliganden vernetzt sind. Sie färben sich blau, wenn sie bestrahlt werden und ein Elektronendonor anwesend ist. Die Farbe kommt ähnlich wie bei TiO2 daher, dass TiIV zu TiIII reduziert wird, welches sichtbares Licht absorbiert. Im MOF lässt sich durch die Auswahl der organischen Linker einstellen, Licht welcher Wellenlänge das MOF absorbiert und wie effizient: Dazu werden die Carboxylatliganden funktionalisiert.11)In anderen MOFs lässt sich die Ladungen auch über die Liganden speichern. Besonders interessant ist hier das Dicarboxylat in Lehns Re-Bipyridin-Komplex ([Re(bpy)(CO)3Cl]). Nachdem dort die Ladung photochemisch getrennt worden ist, stabilisiert dieser molekulare Baustein Elektronen in Form eines bpy-Radikals oder katalysiert Reaktionen wie die Reduktion von CO2 zu CO.Die Geometrie des molekularen Komplexes in Lösung ist für die Katalyse nicht optimal. Sie lässt sich aber ändern, indem der Komplex in eine Al- oder Zr-basierte Gerüstverbindung eingebaut wird (<link href="#nadc20244142066-fig-0003">Abbildung 3).12) Außerdem isolieren die inerten Knotenpunkte des Gerüsts die lichtgeladenen Komplexe und sorgen so für einen langlebigen Zustand. Wie neue Arbeiten zeigen, lässt sich dasselbe auch mit Mn-Komplexen in Al-basierten MOFs erreichen.13)<figure xml:id="nadc20244142066-fig-0003"><figure><img alt="image" src="https://media.graphassets.com/TXUmuHC3T4aCgWP165CH"><figcaption><label>Abb.3: </label>Lichtaktive metallorganische Gerüstverbindungen. Gespeichert wird die Ladung entweder im anorganischen Cluster (links) oder im (metall-)organischen Linker (rechts). Im linkerzentrierten System ist ein Komplex geometrisch stabilisiert, indem er in das Gerüst eingebaut wurde. ED = Elektronendonor.</figcaption></figure></figure><h2 type="main">Dunkle Photokatalyse, helle Batterie</h2>Damit sich lichtaktive Materialien direkt für die Photokatalyse nutzen lassen, müssen möglichst viele Photonen zu Ladungstrennungen führen; außerdem muss der angeregte Zustand zumindest für die reaktionsrelevante Zeit (Piko- bis Nanosekunden) stabil sein, sodass er nicht während des Katalyeszyklus zerfällt. Was passiert aber, wenn die Ladungstrennung deutlich länger stabilisiert wird – Minuten bis Tage? Dann lassen sich die stabilisierten Elektronen auch ohne Direktbestrahlung für elektrochemische oder katalytische Reaktionen nutzen.1) Diese „dunkle Photokatalyse“ spiegelt in gewisser Weise die Dunkelreaktion der Photosynthese wider.14) In der dunklen Photokatalyse agiert das lichtgeladene Material als Katalysator, als Reduktionsmittel oder beides.Bei allen genannten Materialien sind die lichtgeladenen Zustände katalytisch aktiv, benötigen jedoch oft einen Cokatalysator. Lichtgeladenes TiO2 etwa spaltet im Dunklen Wasser, wenn es mit Pt- oder Ag-Nanopartikeln versehen ist.15) Gleiches gilt für K-PHI-Systeme16) und Ti-MOFs mit Pt-Nanopartikeln11) als Cokatalysator.<h2 type="main">Die Solarbatterie</h2>In den genannten Systemen setzt Lichtbestrahlung Elektronen frei. Das ähnelt dem elektrischen Aufladen einer Batterie – auch dort werden Elektronen in das Material eingetragen. Wird dieser Mechanismus in eine photoelektrochemische Zelle eingebaut, lässt er sich für eine Solarbatterie nutzen – Solarzelle und Batterie in einem Bauteil.17) Diese setzt sich zusammen aus dem lichtaktiven Material, einer transparenten Photoelektrode, einem Elektrolyten und einer elektrochemischen Elektrode.18) Ist beispielsweise K-PHI das Aktivmaterial, kommt eine Schicht mit Lochleitern zum Einsatz. Die Lichtreaktion wird hauptsächlich durch Rekombination ineffizient. Die Lochleiter sorgen dafür, dass die Elektronen schnell von den Löchern getrennt werden, und Elektronen sowie Löcher werden getrennt stabilisiert.19) So ein Zelltyp lässt sich selbst in wässrigen Elektrolytsystemen betreiben.18) Die Kaliumionen in Elektrolyt und Elektrode, die zum Ladungsausgleich nötig sind, müssen mobil sein. Li-dotiertes TiO2 folgt dem gleichen Solarbatteriekonzept wie K-PHI.20) Insgesamt ist die Lichtabsorption der Solarbatterie weniger effizient verglichen mit Photovoltaik-Zellen, und die Geräte speichern weniger Strom als herkömmliche Batterien.<h2 type="main">Weniger effizient, also weniger gut?</h2>Warum also nicht einfach eine Photovoltaikzelle über Kabel an eine Li-Ionen-Batterie stecken? Der Vorteil der Solarbatterie liegt darin, flexibel Energie zu speichern und in einer einzigen Zelle zu transformieren (<link href="#nadc20244142066-fig-0004">Abbildung 4): Sie kann bei Sonnenbestrahlung sowohl als Solarzelle Geräte antreiben und ohne Nutzer als Batterie fungieren. Im Dunklen lässt sich die Zelle elektrisch entladen oder laden. Somit agiert eine Solarbatterie je nach Bedarf als Energieproduzent, Speichermedium oder eben beides gleichzeitig, und das in einem relativ kompakten und simplen Zellaufbau.21)<figure xml:id="nadc20244142066-fig-0004"><figure><img alt="image" src="https://media.graphassets.com/3hd3otmVQiGs813KEcK1"><figcaption><label>Abb.4: </label>Aufbau einer photo-elektrochemischen Zelle, die als Solarzelle, als Solarbatterie oder als elektrochemische Batterie fungieren kann. Als lichtdurchlässige Elektroden dienen Glassubstrate mit indiumdotierter Zinnoxidschicht, als Aktivmaterial ein Carbonitrid (K-PHI) und als Lochspeicher Poly(3,4-ethylendioxythiophen)polystyrolsulfonat (PEDOT:PSS). Inspiriert von Lit. 21.</figcaption></figure></figure><h2 type="main">Dunkel ins Licht bringen</h2>Die aufgeführten und andere Materialien gehören zwar zu verschiedenen Stoffgruppen und werden unterschiedlich hergestellt, ihre Mechanismen bei Lichtbestrahlung ähneln sich jedoch.21) Wie die Mechanismen genau ablaufen, ist Teil der aktuellen Grundlagenforschung. Besonders die Rolle von Strukturdefekten in Halbleitern und die Stabilisierung aktiver Moleküle in Gerüstverbindugen bieten noch viele offene Fragen. Fraglich ist zum Beispiel, wie dort Lichtanregung und Ladungstransport zusammenspielen, und wo die Ladungen im Material wie vorliegen. Die genannten Konzepte der dunklen Photokatalyse und Solarbatterie zeigen einen interessanten Ansatz, diese Effekte zu nutzen.22) Bis heute sind die neuen Materialien weniger effizient als die etablierten. Das ließe sich aber angehen, wenn Defekte im Kristallgitter und auf der Oberfläche kontrolliert würden, wenn in Gerüstverbindungen molekulare Bausteine verbessert würden, vor allem aber wenn die Mechanismen besser verstanden würden. Wenn Forschende ihre Materialien zum Sonnetanken nach draußen legen, kriegen diese dann ja vielleicht auch ein bisschen Farbe.<h2 type="main">AUF EINEN BLICK</h2>Werden bestimmte Materialien mit Licht bestrahlt, trennen sich die Ladungen und können bis zu tagelang getrennt bleiben.Dazu gehören TiO2 und Carbonitride, und neuerdings verbessern Gerüstverbindungen die Lichtabsorption und Ladungstrennung.Die Technik nutzen Solarbatterien und manche Photokatalysatoren, die beispielsweise Wasser spalten.Die Beiträge zur Serie Blickpunkt Anorganik verfassen seit Juni 2024 im Wechsel Christina Birkel und Simon Krause.<h2 type="main">Der Autor</h2>Diesen Beitrag hat Simon Krause verfasst. Er ist seit November 2021 unabhängiger Gruppenleiter am Max-Planck-Institut für Festkörperforschung in Stuttgart und forscht an lichtresponsiven porösen Materialien und Molekülen. Im Sommer bevorzugt er kühlen Schatten mit ein bisschen Sonne, aber ohne TiO2 im Hautschutz.<img alt="image" src="https://media.graphassets.com/O9ErqVo6RdyEyTl6vfJe"><ul class="references" cited="no" style="numbered" xml:id="nadc20244142066-bibl-0001"><li xml:id="nadc20244142066-bib-0001">1 A. Rogolino, O. Savateev, Adv. Funct. Mater. 2023, 33, 2305028</li><li xml:id="nadc20244142066-bib-0002">2 G. Y. Kim, A. Senocrate,; T.-Y. Yang, G. Gregori, M. Grätzel, J. Maier, Nat. Mater. 2018, 17, 445</li><li xml:id="nadc20244142066-bib-0003">3 A. Senocrate, E. Kotomin, J. Maier, Helv. Chim. Acta 2020, 103</li><li xml:id="nadc20244142066-bib-0004">4 A. Fujishima, K. Honda, Nature, 1972, 238, 37</li><li xml:id="nadc20244142066-bib-0005">5 J. Schneider,M. Matsuoka, M. Takeuchi et al., Chem. Rev. 2014, 114, 9919</li><li xml:id="nadc20244142066-bib-0006">6 X. Chen, L. Liu, P. Y. Yu, S. S. Mao, Science 2011, 331, 746</li><li xml:id="nadc20244142066-bib-0007">7 B. O’Regan, M. Grätzel, Nature 1991, 353, 737</li><li xml:id="nadc20244142066-bib-0008">8 Y. Takahashi, T. Tatsuma, Electrochem. Commun. 2008, 10, 1404</li><li xml:id="nadc20244142066-bib-0009">9 C. M. Pelicano, M. Antonietti, Angew. Chem. Int. Ed. 2024, 63, e202406290</li><li xml:id="nadc20244142066-bib-0010">10 Z. Chen, A. Savateev, S. Pronkin et al., Adv. Mater. 2017, 29, 1700555</li><li xml:id="nadc20244142066-bib-0011">11 Y. Pan, J. Wang, S. Chen et al., Chem. Sci. 2022, 13, 6696</li><li xml:id="nadc20244142066-bib-0012">12 P. M. Stanley, F. Sixt, J. Warnan, Adv. Mater. 2022, 35, 2207280</li><li xml:id="nadc20244142066-bib-0013">13 S. Wu, P. M. Stanley, S. N. Deger, M. Z. Hussain, A. Jentys, J. Warnan, Angew. Chem. Int. Ed. 2024, e202406385</li><li xml:id="nadc20244142066-bib-0014">14 V. W. Lau, D. Klose, H. Kasap, et al., Angew. Chem. Int. Ed. 2016, 56, 510</li><li xml:id="nadc20244142066-bib-0015">15 H. H. Mohamed, R. Dillert, D. W. Bahnemann, J. Phys. Chem. C 2011, 115, 12163</li><li xml:id="nadc20244142066-bib-0016">16 H. Schlomberg, J. Kröger, G. Savasci, Chem. Mat. 2019, 31, 7478</li><li xml:id="nadc20244142066-bib-0017">17 Q. Zeng, Y.; Lai, L. Jiang et al., Adv. Energy Mater. 2020, 10, 1903930</li><li xml:id="nadc20244142066-bib-0018">18 F. Podjaski, J. Kröger, B. V. Lotsch, Adv. Mater. 2018, 30, 1705477</li><li xml:id="nadc20244142066-bib-0019">19 A. Gouder, L. Yao, Y. Wang, Adv. Energy Mater. 2023, 13, 2300245</li><li xml:id="nadc20244142066-bib-0020">20 C. Andriamiadamanana, I. Sagaidak, G. Bouteau, C. Davoisne, C. Laberty-Robert, F. Sauvage, Adv. Sustain. Syst. 2018, 2, 1700166</li><li xml:id="nadc20244142066-bib-0021">21 A. Gouder, F. Podjaski, A. Jiménez-Solano, J.Kröger; Y. Wang, B. V. Lotsch, Energy Environ. Sci. 2023, 16, 1520</li><li xml:id="nadc20244142066-bib-0022">22 F. Podjaski, B. V. Lotsch, Adv. Energy Mater. 2021, 11, 2003049</li></ul>

Materialien, die Sonne tanken

Sind Festkörper einer Mikrowellenstrahlung ausgesetzt, passiert nichts bis sehr viel – abhängig von Form und Eigenschaften der Substanz. Festkörper, die sich effizient erwärmen, sind für die anorganische Chemie besonders spannend. Was geschieht beim Bestrahlen, wo liegen die Schwierigkeiten und wofür lassen sich die Prozesse nutzen?Dass elektromagnetische Strahlung Lebensmittel erwärmt, wurde durch Zufall während des zweiten Weltkriegs entdeckt. Ein Schokoriegel schmolz in der Hosentasche eines Ingenieurs der Firma Raytheon, der an einer Radaranlage arbeitete. Daraufhin patentierte die Firma die Technik und brachte den ersten Mikrowellenreaktor auf den Markt – ein menschhoher Koloss, der eine Dritteltonne wog. 20 Jahre später waren die ersten Haushaltsmikrowellenöfen mit ähnlichem Design wie heute verfügbar; Ende der 1960er noch zu einem Preis, der heute 4000 US-Dollar entspricht.Auch in organisch-chemischen Syntheselaboren sind Mikrowellenreaktoren verbreitet. Sie beschleunigen zum Beispiel organische Reaktionen wie C-C-Kupplungsreaktionen und dienen dazu, Nanopartikel in Lösung herzustellen.1–5) Diese Prozesse funktionieren, weil die Mikrowellenstrahlung mit Lösungsmitteln koppelt, die ein Dipolmoment besitzen – im einfachsten Fall Wasser in Lebensmitteln – und sie dadurch erwärmt.Die Frequenz der Mikrowellenstrahlung liegt zwischen 1 und 100 GHz (300 – 3 mm Wellenlänge). Die meisten Mikrowellenreaktoren arbeiten bei 2,45 GHz (12,2 cm) und übertragen nicht genug Energie, um chemische Bindungen zu brechen.Die elektromagnetische Strahlung besteht aus einem elektrischen und einem magnetischen Teil. Typischerweise ist allerdings nur das elektrische Feld wichtig zum Heizen: An diesem richten sich die Dipole und Ionen der Probe aus. Da das Feld oszilliert, wechseln die Dipole und Ionen immer wieder ihre Orientierung. Das führt zu Molekularreibung und Dielektrizitätsverlust. Dabei wird Energie in Form von Wärme frei.Der dielektrische Verlustfaktor tan d gibt die Fähigkeit an, Mikrowellenstrahlung in Wärme umzuwandeln. Je höher der Verlustfaktor, desto effizienter ist der Heizeffekt der entsprechenden Substanz.3) Für Lösungsmittel gibt es Tabellen mit diesem Wert.<h2 type="main">Festkörper mit Mikrowellen bestrahlen</h2>Was genau geschieht im Festkörper?6) Generell wechselwirken sie mit Mikrowellen(MW)strahlung auf eine von drei Arten (<link href="#nadc20244142064-fig-0001">Abbildung 1): MW-transparente Stoffe sind durchlässig und heizen wenig bis gar nicht auf, beispielsweise Silika; MW-reflektierende Stoffe wie CDs sind undurchlässig, hier kommt es häufig zu Funken oder Plasmaeffekten; MW-absorbierende Stoffe wie Graphit koppeln stark mit der MW-Strahlung und erwärmen sich effizient.<figure xml:id="nadc20244142064-fig-0001"><figure><img alt="image" src="https://media.graphassets.com/Hu86P5jS3uoLQRo3bM3V"><figcaption><label>Abb.1: </label>Wie Mikrowellenstrahlung mit Festkörpern wechselwirkt: Absorbierende Stoffe erhitzen sich, transparente heizen sich höchstens leicht auf, reflektierende erzeugen Funken oder Plasma.</figcaption></figure></figure>Ausgehend von den drei Klassen an Festkörpern werden die Vorgänge allerdings komplexer: Unterschiedliche Prozesse dominieren den Verlustfaktor tan d. Zum Beispiel hängt dieser davon ab, ob der Stoff ein elektronischer oder ionischer Leiter ist oder ein Isolator. Ob die Probe in Stücken, als Granulat oder feines Pulver vorliegt, beeinflusst tan d ebenfalls.Außerdem ist der Verlustfaktor temperaturabhängig: Manche Festkörper absorbieren MW-Strahlung erst bei hohen Temperaturen, wodurch ihre Temperatur plötzlich sprunghaft steigen kann. Verschiedene Oxide können sich daher radikal unterschiedlich verhalten: SiO2 erwärmt sich kaum, wenn es Mikrowellenstrahlung ausgesetzt ist. NiO und Cr2O3 erwärmen sich stärker – die Temperatur von Cr2O3 steigt plötzlich stark, da mit höherer Temperatur auch sein dielektrischer Verlustfaktor steigt.7)<h2 type="main">Metalle im Mikrowellenofen</h2>Metallgegenstände sollten nicht der Mikrowellenstrahlung ausgesetzt werden, da sie die Strahlung reflektieren und Funken entstehen können. Das liegt daran, dass die Strahlung kaum in das Material eindringt. Das führt zu großen Feldgradienten und daraufhin zu elektrischen Entladungen, die als Funken sichtbar sind.Diese Effekte sind für Metallpulver unerheblich. Wie vor mehr als 30 Jahren festgestellt wurde, absorbieren Metallpulver Mikrowellenstrahlung und erhitzen sich in Minuten auf mehr als 1000 °C.8) Das liegt hauptsächlich am dielektrischen Heizen aufgrund der freien Ladungsträger.Auch andere Substanzen erwärmen sich stark durch Mikrowellenstrahlung: In ionischen Verbindungen, etwa Ionenleitern, tragen Ionenströme zum Erwärmen bei; die Strahlung regt schwache sekundäre Bindungen in Festkörpern wie Graphit an und heizt die Substanz so auf. Oft werden Reaktionsmischungen deshalb in Graphit eingebettet. Sie erwärmen sich dann von innen, wenn die Edukte mit der MW-Strahlung koppeln, und von außen durch das Suszeptormaterial Graphit.<h2 type="main">Synthese im Mikrowellenofen</h2>Unter den Produkten von Festkörperreaktionen sind Oxide, Chalkogenide, intermetallische Verbindungen sowie Carbide und Nitride. Protokolle und -vorschriften zur Synthese anorganischer Festkörper im Mikrowellenofen fasst Literatur 9 zusammen.Nachdem die Produkte im Mikrowellenofen reagiert haben, werden sie danach oft noch einmal Stunden bis Tage in einem Ofen erhitzt, damit sie möglichst optimal geordnet oder kristallin werden. Das ist besonders oft dann nötig, wenn leichte Fehlordnungen oder amorphe Bestandteile die Eigenschaften verschlechtern.<link href="#nadc20244142064-fig-0002">Abbildung2 zeigt die komplette Synthese. Zunächst werden die Edukte vermischt, entweder manuell mit einem Mörser oder automatisiert mit einer Kugelmühle, in der die Edukte bereits reagieren können. Das Mischen bringt die festen Reaktionspartner dazu, untereinander zu diffundieren. Die Ausgangsstoffe wandern dann entweder in einen Aluminatiegel oder für Reaktionen unter Inertbedingungen in eine unter Vakuum verschlossene Ampulle aus Quarzglas, das Mikrowellenstrahlen nicht absorbiert. Diese wird entweder direkt in den Mikrowellenofen hineingestellt oder davor in ein Suszeptormaterial eingebettet. Werden Reaktionstemperaturen weit über 500 °C erwartet, sitzt der Versuchsaufbau in einem temperaturstabilen Gehäuse, um die Innenwand des Mikrowellenofens vor zu großer Hitze zu schützen.<figure xml:id="nadc20244142064-fig-0002"><figure><img alt="image" src="https://media.graphassets.com/DmfoRXcqRDuocjQFjBOD"><figcaption><label>Abb.2: </label>Synthese im Mikrowellenofen: 1) Die Ausgangsstoffe werden miteinander vermahlen. 2) Das Reaktionsgemisch wird zu einem Pressling verdichtet. 3) Der Pressling wird in einen Tiegel oder eine evakuierte Ampulle überführt und in ein thermisch isoliertes Gehäuse gesetzt. 4) Im Mikrowellenofen läuft die Reaktion ab.</figcaption></figure></figure>Mit Haushaltsmikrowellenöfen wurden schon Festkörper hergestellt, allerdings sind sie weder feuer- noch explosionssicher. Labormikrowellenöfen sind sicherer, haben einen größeren Innenraum und Leistung bis 1800 W. Nach der gewünschten Reaktionszeit wird das Produkt entweder langsam im Ofen abgekühlt oder abgeschreckt. Ein optisches Pyrometer zeichnet die Temperatur während der Reaktion auf. Dabei soll die Temperatur des Suszeptors gemessen werden, da dessen Emissionskoeffizient bekannt ist und in das Pyrometer eingegeben wird. Wird die Temperatur des Reaktionsgemischs direkt gemessen, ist die Messung mit einem größeren Fehler behaftet, da der Emissionskoeffizient eines sich ändernden Gemischs sich nur abschätzen lässt. Wird ein Suszeptor wie Graphit-Granulat verwendet, variieren Heizrate und finale Temperatur abhängig von der Mikrowellenleistung. Je höher die Leistung, desto höher Heizrate und Reaktionstemperatur – der Suszeptor erreicht Temperaturen über 1000 °C.<h2 type="main">Dem Mikrowelleneffekt auf der Spur</h2>Seit Jahrzehnten wird diskutiert, ob es einen „Mikrowelleneffekt“ gibt – bewirkt die elektromagnetische Strahlung Effekte, die über das Heizen hinausgehen?Experimente dazu sind schwierig: Es ist schwer, den Heizeffekt von einem möglichen Mikrowelleneffekt zu trennen, da beides simultan abläuft. Außerdem sind Methoden rar, die in die Reaktionen und Abläufe während der Interaktion der Substanzen mit der Mikrowellenstrahlung blicken.Ein im Jahr 2023 entwickelter Aufbau verspricht nun Einblicke:16)Ein Ramanspektrometer sammelt sekündlich spektroskopische Daten während des Heizens unter Mikrowellenbedingungen. So werden chemische Prozesse mit präziser Zeitauflösung verfolgt. Ein zweiter Ofen, der in den Strahlengang des Ramanspektrometers eingesetzt werden kann, liefert die entsprechenden Daten unter Heizbedingungen ohne Mikrowellenstrahlung.Dadurch lässt sich zum Beispiel vergleichen, bei welchen Temperaturen die chemischen Reaktionen auftreten oder welche Zwischenprodukte sich bilden. Ramanspektroskopie eignet sich auch für amorphe Spezies. Damit lassen sich auch Reaktionen untersuchen, die wegen niedriger Reaktionstemperaturen keine kristallinen Verbindungen liefern.<h2 type="main">Phasenumwandlung von TiO2 als Modellsystem</h2>Mit Ramanspektroskopie wurde die Strukturänderung des Titandioxids Anatas zu Rutil aufgezeichnet (<link href="#nadc20244142064-fig-0003">Abbildung 3): links im normalen Ofen, rechts im Mikrowellenofen. Beide Fälle zeigen, wann sich die Struktur ändert. Das starke Signal bei 150 cm–1 (Anatas) verschwindet, wenn die Temperatur der Phasenumwandlung erreicht ist. Stattdessen sieht man zwei neue Signale bei etwa 400 cm–1 und 600 cm–1 (Rutil).<figure xml:id="nadc20244142064-fig-0003"><figure><img alt="image" src="https://media.graphassets.com/94aDwTbbSVOayt8DCIvg"><figcaption><label>Abb.3: </label>In-situ-Ramanspektren der TiO2-Phasenumwandlung von Anatas (A) zu Rutil (R). a) Änderung der Absorption bei Erwärmung. Ofenheizen links, Mikrowellenheizen rechts. b) Vergrößerung der Ramanspektren nahe der Phasenumwandlungstemperatur.</figcaption></figure></figure>Der Prozess im Mikrowellenofen läuft demnach schneller als unter konventionellen Ofenbedingungen. Die blaue Kurve in Abbildung 3a zeigt den Temperaturverlauf, allerdings wird die Temperatur nur bei Durchführung mit dem Ofen mit einem Thermoelement gemessen. Im Mikrowellenofen lässt sich die Temperaturmessung mit diesem Aufbau nicht messen. Jedoch lässt sich die Temperatur auch durch Änderung von Signalposition, -breite oder beidem aus den Daten ermitteln – daran arbeitet die Gruppe aktuell.Prinzipiell ermöglicht der Aufbau, diverse Festkörper zu untersuchen, während sie entstehen oder sich umwandeln, sofern sie ramanaktiv sind. Um ein möglichst umfassendes Bild zu erhalten, sollten auch Ex-situ-Charakterisierungsmethoden eingesetzt werden, auch wenn diese nur schnappschussartige Einblicke erlauben: Beispielsweise liefert Röntgendiffraktion Informationen zu Zusammensetzung und Struktur und Elektronenmikroskopie zu Morphologie sowie chemischer Zusammensetzung.In-situ-Ramanspektroskopie wird dafür sorgen, dass jede ramanaktive Spezies während des Heizens untersucht und identifiziert wird – mit Mikrowellen und konventionell.<h2 type="main">AUF EINEN BLICK</h2>Bestrahlung mit Mikrowellen lässt manche Festkörper kalt, andere erhitzen sich und ändern dabei ihre Phase oder reagieren mit anderen Reaktionspartnern.Das ist nicht neu, aber jetzt lässt sich sekundengenau klären, was dabei passiert.Damit ließe sich einem Mikrowelleneffekt auf die Spur kommen, der über das bloße Heizen hinausgeht.Die Beiträge zur Serie Blickpunkt Anorganik verfassen seit Juni 2024 im Wechsel Christina Birkel und Simon Krause.<h2 type="main">Die Autoren</h2>Christina Birkel ist Professorin an der Arizona State University, USA, und Kooperationsprofessorin an der TU Darmstadt, wo sie das Gebiet der anorganischen Festkörper- und Materialchemie vertritt. Niels Kubitza hat im Jahr 2023 bei Birkel in Darmstadt promoviert und arbeitet seit Anfang es Jahres als Postdoktorand in einem Sonderforschungsbereich zu magnetischen Materialien, an dem Birkel beteiligt ist.<img alt="image" src="https://media.graphassets.com/SDTKb2gURO29ytjM5EhD"><img alt="image" src="https://media.graphassets.com/Ni4mH0GnSKytPM56E3gR"><ul class="references" cited="no" style="numbered" xml:id="nadc20244142064-bibl-0001"><li xml:id="nadc20244142064-bib-0001">1 Gedye, R., Smith, F., Westaway, K., Ali, H., Baldisera, L., Laberge, L., Rousell, J., Tetrahedron Lett. 1986, 27, 279–282</li><li xml:id="nadc20244142064-bib-0002">2 Kappe, C. O., Angew. Chem. Int. Ed. 2004, 43, 6250–6284</li><li xml:id="nadc20244142064-bib-0003">3 Dallinger, D. Chem. Unserer Zeit 2013, 47, 356–366.</li><li xml:id="nadc20244142064-bib-0004">4 Martina, K., Cravotto, G., Varma, R. S., J. Org. Chem. 2021, 86, 13857–13872</li><li xml:id="nadc20244142064-bib-0005">5 Saloga, P. E. J., Kästner, C., Thünemann, A. F., Langmuir 2018, 34, 147–153.</li><li xml:id="nadc20244142064-bib-0006">6 Kitchen, H. J., Vallance, S. R., Kennedy, J. L., et al., Chem. Rev. 2014, 114, 1170–1206</li><li xml:id="nadc20244142064-bib-0007">7 Rao, K. J., Vaidhyanathan, B., Ganguli, M., and Ramakrishnan, P. A., Chem. Mater. 1999, 11, 882–895</li><li xml:id="nadc20244142064-bib-0008">8 El Khaled, D., Novas, N., Gazquez, J. A., Manzano-Agugliaro, F., Renew. Sustain. Energy Rev. 2018, 82, 2880–2892</li><li xml:id="nadc20244142064-bib-0009">9 Levin, E. E., Grebenkemper, J. H., Pollock, T. M., Seshadri, R., Chem. Mater. 2019, 31, 7151–7159.</li><li xml:id="nadc20244142064-bib-0010">10 Birkel, A., Darago, L. E., Morrison, et al., Solid State Sci. 2012, 14, 739–745.</li><li xml:id="nadc20244142064-bib-0011">11 Biswas, K., Muir, S., Subramanian, M. A., Matr. Res. Bull. 2011, 46, 2288–2290</li><li xml:id="nadc20244142064-bib-0012">12 Birkel, C., Zeier, W., Douglas, J. et al., Chem. Mater. 2012, 24, 2558–2565</li><li xml:id="nadc20244142064-bib-0013">13 Hamm, C. M., Diop, L. V. B., Zhang, H., Gutfleisch, O., Birkel, C. S. Phys. Status Solidi C 2017, 14, 1700027</li><li xml:id="nadc20244142064-bib-0014">14 Hamm, C. M., Schäfer, T., Zhang, H., Birkel, C. S., Z. Anorg. Allg. Chem. 2016, 642, 1397–1401</li><li xml:id="nadc20244142064-bib-0015">15 Kubitza, N., Beckmann, B., Jankovic et al., Chem. Mater. 2024, 36, 1375–1384</li><li xml:id="nadc20244142064-bib-0016">16 Jamboretz, J., Reitz, A., Birkel, C.S., J. Raman Spectrosc. 2023, 54, 296</li></ul>

Festkörpersynthese im Mikrowellenofen

Mit Bio-Nanotechnik lassen sich zellähnliche Gebilde herstellen, die eine oder mehrere Funktionen lebender Zellen erfüllen. Neue Methoden versprechen jetzt Fortschritte auf dem Weg zu Kunstzellen, die lebendigen mehr ähneln als je zuvor.Wie Pasteur mit <link href="#nadc20244144090-fig-0001">seinen berühmten Experimenten zeigte, entsteht Leben nicht einfach aus unbelebter Materie. Aber einmal, vor vielleicht vier Milliarden Jahren, hat es doch geklappt – und wir verstehen bis heute nicht, wie das passieren konnte. Die Anhänger:innen der RNA-Welt kommen der Rekonstruktion eines selbstreplizierenden und evolvierenden Moleküls immer näher.1) Die Forschenden, denen die Hülle wichtiger ist als das Erbmaterial, versuchen derweil, Zellen künstlich herzustellen. Hier konkurrieren mehrere Ansätze, die eine oder mehrere Funktionen der lebenden Zelle nachahmen. Aber eine lebende Mikrobe ist auch hier nicht entstanden.2)<figure xml:id="nadc20244144090-fig-0001"><figure><img alt="image" src="https://media.graphassets.com/tF9h5ZOwSpi1KzRXChos"><figcaption><label>Abb.1: </label>Zellartige Vesikel, gefüllt mit Myoglobin (oben) sowie Myoglobin und β-Galactosidase (unten).3)</figcaption></figure></figure>Jetzt soll eine neue Selbstassemblierungs-Methode helfen. Die haben Andrea Balluati und Nico Bruns an der TU Darmstadt zusammen mit Kollegen in der Schweiz und in Großbritannien entwickelt, um damit zellartige Vesikel zu erzeugen.3) Sie haben dazu mehrere Vorgehensweisen kombiniert, die seit einigen Jahren existieren. Die Polymerisations-induzierte Selbst-Assemblierung (Pisa) dient seit über zehn Jahren der Synthese von Vesikeln und Nanoreaktoren. Diese mikroskopisch kleinen Polymerkapseln setzen sich sich aus wasserlöslichen Bausteinen zusammen, wobei die wachsenden Polymere zunehmend hydrophob werden. Sie lassen sich in hoher Konzentration erzeugen – nicht trivial, da sie stattdessen auch zu einem unlöslichen Stoff aggregieren könnten –, und es ist einfach, andere Lösungsbestandteile dabei einzukapseln. Bei der gängigen ATRP-Methode (Atom Transfer Radical Polymerisation) sind allerdings die Anfangsbedingungen, etwa Temperaturen zwischen 50 und 100 °C, oft für empfindliche Biomoleküle ungeeignet.<h2 type="main">Enzymmethode mit Wasserstoffperoxid</h2>Die Arbeitsgruppen entwickelten deshalb eine neue enzymatisch gestartete Variante der Pisa-Methode, die sie bio-Pisa nennen. Andere Arbeiten hatten Meerrettich-Peroxidase als Startenzym verwendet, doch dieses benötigt Wasserstoffperoxid als Substrat, was wiederum manche Biomoleküle schädigt. Die Darmstädter Gruppe nutzt deshalb den Sauerstofftransporter Myoglobin. Dieses Proteinmonomer ist umfassend erforscht und wirkt beim biologischen pH-Wert von 7,4 als ATRPase, startet also die Radikalpolymerisation.Sie erzeugten mit dieser Methode sphärische Vesikel mit durchschnittlich 227 nm Durchmesser, also etwa der Größe von Bakterienzellen, und bezeichnen sie als Giant Unilamellar Vesicles (GUVs). Mit anderen Werten der Pisa-Parameter lassen sich auch wurmartige Mizellen herstellen, die unter bestimmten Umständen ein Gel bilden. Mit diesen Kapseln umhüllten die Forschenden biologische Moleküle, Partikel und Extrakte. Unter anderem bauten sie den kompletten Proteinbiosynthese-Apparat des Bakteriums Escherichia coli und Plasmide als genetisches Material ein. Auf diese Weise stellten sie in den künstlichen Vesikeln neue Proteine her, die deren Struktur oder Erscheinung nachweislich ändern: das fluoreszierende Protein mClover, das Strukturprotein Aktin zur Herstellung einer zytoskelettähnlichen Struktur und das Enzym Alkalische Phosphatase, das den Biomineralisierungsprozess in menschlichen Knochen nachahmt.Durch die Gene, die in den Kapseln abgelesen werden, wollen die Forscher das weitere Verhalten dieser Vesikel steuern. Sie planen derzeit, weitere Polymerisationsprozesse innerhalb der Vesikel zu starten, die dann die natürliche Zellteilung und damit die Vermehrung lebender Zellen imitieren könnten.Wichtig wäre zudem, Kanäle einzufügen, die bestimmte Moleküle selektiv aufnehmen – nämlich solche, die für diese Wachstumsprozesse nötig sind. Bisher enthalten die Vesikel nur die Stoffe, die bei ihrer Entstehung in der Lösung vorlagen und in die Kapsel eingeschlossen wurden oder in diese hineindiffundieren können.<h2 type="main">Tropfen in Bewegung</h2>Sich als Reaktion auf einen chemischen Reiz zu bewegen, ist ein wichtiges Merkmal von Lebensprozessen: vom intrazellulären Transport und Trennprozessen bis hin zur Chemotaxis von Mikroben und den koordinierten Bewegungen komplexer Organismen.Die Arbeitsgruppe von Paola Laurino am Okinawa Institute of Science and Technology in Onna, Japan, hat ein Modellsystem entwickelt, in dem enzymatisch aktive Tröpfchen sich chemotaktisch bewegen und damit zueinander finden.4) Die Tröpfchen enthalten vor allem das Protein Rinderserumalbumin, das als inert gilt und die Bedingungen im Zytoplasma einer lebenden Zelle simulieren soll. Der Motor der Tröpfchen ist das Enzym Urease, das Harnstoff abbaut und dabei Ammoniak erzeugt. Der aus dem Tröpfchen entweichende Ammoniak erzeugt einen pH-Gradienten und schwächt die Oberflächenspannung zwischen den flüssigen Phasen.Der Marangoni-Effekt führt zu Bewegung zwischen Bereichen verschiedener Oberflächenspannung, etwa bei einem mit Spülmittel angetriebenen Spielzeugboot. Der rund um die Tröpfchen frei werdende Ammoniak erhöht den pH-Wert und senkt die Oberflächenspannung auf allen Seiten gleichermaßen, also entsteht noch keine Bewegung. Sobald sich aber die alkalischen Umgebungen zweier Tröpfchen überlappen, spüren beide die Summe der Marangoni-Effekte und bewegen sich aufeinander zu. Da größere Tröpfchen mehr Ammoniak erzeugen, entsteht der Eindruck, dass sie die kleineren anziehen.Laurinos Gruppe zufolge könnten ähnliche chemotaktische Effekte bereits in der Ursuppe vor der Entstehung zellulären Lebens dazu beigetragen haben, dass chemisch aktive Tröpfchen zueinander fanden. Dadurch könnten sich sogar vor Entwicklung von Zellmembranen Stoffwechselnetzwerke räumlich organisiert haben, meinen die Forscher:innen.<h2 type="main">Protozellen</h2>Stephen Mann an der Universität Bristol, England, erforscht seit Jahren zellähnliche Gebilde, die er als Protozellen bezeichnet.5) Bei den neueren Arbeiten geht es oft um Steuerung und Kommunikation mit und zwischen solchen Protozellen, oft mit Blick auf mögliche Anwendungen in der Medizin oder Robotertechnik.In Angewandte Chemie berichtete Manns Arbeitsgruppe im Jahr 2023 über zwei separate Populationen von Protozellen und wie sie miteinander sowie mit der umgebenden Hydrogel-Matrix wechselwirken.6) Mit diesen Protozellen lässt sich teilweise nachahmen, wie sich Zellen in einem Organ oder Gewebe verhalten. Das könnte nützlich sein, um künstliche Organe zu entwickeln.In einem anderen Projekt war Mann ebenfalls beteiligt: Die Arbeitsgruppe von Molly Stevens am Imperial College London hat Lichtsignale benutzt, um Protozell-Populationen zu steuern. Außerdem verlieh sie ihnen ein oszillierendes Verhalten ähnlich dem zirkadianen Rhythmus bei Lebewesen,7) also ähnlich der Fähigkeit eines Organismus, physiologische Vorgänge auf eine Periodenlänge von etwa 24 Stunden zu synchronisieren. Die eine Sorte von Vesikeln wird durch grünes Licht aktiviert, das die Membran durchlässig macht. Dadurch kann das Substrat in die Vesikel eindiffundieren – es wird vom Enzym Esterase umgesetzt, was den pH-Wert senkt. Bei der anderen Sorte Protozellen aktiviert der niedrige pH-Wert das Enzym Urease (das ja Ammoniak produziert). Diese Vesikel wurden ebenfalls nach dem Pisa-Verfahren hergestellt. Die Ansäuerung aktiviert ein Pigment, das das grüne Licht absorbiert und damit der Aktivierung der Esterase-Protozellen in einer negativen Rückkopplung entgegenarbeitet. Denn in dem Maß, wie Ammoniak die Säure neutralisiert, wird die Membran wieder undurchlässig, und der Esterase geht das Substrat aus.Der gesamte Prozess wiederholt sich immer wieder; ein Zyklus ist 40 Minuten lang und wird gesteuert durch zehnminütiges Bestrahlen mit grünem Licht – ähnlich, wie unser zirkadianer Rhythmus mit dem Tageslicht synchronisiert ist.Nach Erwartung der Autor:innen werden solche mit Licht gesteuerten Nanoreaktoren künftig mit einem breiteren Spektrum von Enzymen entwickelt werden. Dies würde zu neuen Materialien mit lebensähnlichen Eigenschaften führen, die sich autonom assemblieren, bewegen und an die Umgebung anpassen.<h2 type="main">Der Autor</h2>Der promovierte Chemiker Michael Groß arbeitet als freier Wissenschaftsjournalist in Oxford, England. <a href="https://michaelgross.co.uk" target="_blank">michaelgross.co.uk</a><h2 type="main">AUF EINEN BLICK</h2>Mit Polymerisationsprozessen innerhalb künstlicher Vesikel sollen natürliche Zellteilung und damit die Vermehrung lebender Zellen nachgeahmt werden.Ein Modellsystem mit enzymatisch aktiven Tröpfchen gibt Hinweise darauf, wie sich Stoffwechselnetzwerke in der Ursuppe räumlich organisiert haben.Mit künstlichen Protozellen lässt sich nachahmen, wie sich Zellen in einem Organ oder Gewebe verhalten.<ul class="references" cited="no" style="numbered" xml:id="nadc20244144090-bibl-0001"><li xml:id="nadc20244144090-bib-0001">1 M. Groß, Chem. unserer Zeit 2021, 55, 153</li><li xml:id="nadc20244144090-bib-0002">2 M. Groß, Nachr. Chem. 2015, 63, 1002</li><li xml:id="nadc20244144090-bib-0003">3 A. Belluati, S. Jimaja, R. J. Chadwick et al., Nat. Chem. 2024, 16, 564</li><li xml:id="nadc20244144090-bib-0004">4 M. Dindo, A. Bevilacqua, G. Soligo et al., J. Am. Chem. Soc. 2024, doi: <accessionid ref="info:doi/10.1021/jacs.4c02823">10.1021/jacs.4c02823</accessionid></li><li xml:id="nadc20244144090-bib-0005">5 N. Gao, S. Mann, Acc. Chem. Res. 2023, 56, 297</li><li xml:id="nadc20244144090-bib-0006">6 H. Taylor, N. Gao, S. Mann, Angew. Chem. Int. Ed. 2023, 62, e202300932</li><li xml:id="nadc20244144090-bib-0007">7 O. Rifaie-Graham, J. Yeow, A. Najer et al., Nat. Chem. 2023, 15, 110</li></ul>

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