Industrie + Technik

Köln, Messe, Halle 10.1: Feuerlöscher, Brandmelder, Flammschutzmittel. Wir erkunden die Brandschutztage des Unternehmens VdS Schadensverhütung – eine chemische Spielwiese. Heiß her geht es nicht nur bei der Brandbekämpfung, sondern auch im Regulierungsfeuer.<p>Es gibt Warnlichter, Löschwasservorratsbehälter, Infrarotkameras, die beginnende <link href="#nadc20254148095-fig-0001">Brände bemerken. An vielen Ständen werden maßgeschneiderte Feuerlöschanlagen feilgeboten, ein Anbieter langweilt sich zwischen seinen feuerfesten Stahlschränken. 4600 Besucher aus dem In- und Ausland bestaunen Sirenen und Gewebeproben für Schutzanzüge; betrachten hochsichere Depots, in denen Feuerwehrleute fündig werden, wenn sie in die Lagerhalle müssen und der Hausmeister mit dem Schlüsselbund zuhause eingeschlafen ist. Wer möchte, kann zum 150. Jubiläum des Sprinklers einen Wandhydranten mit Hochdruck-Spritzpistole ausprobieren. Wechselkleidung ist angeraten.</p><figure xml:id="nadc20254148095-fig-0001"><figure><img alt="image" src="https://eu-central-1.graphassets.com/Aype6X9u2QGewIgZKbFflz/cmbamqq015oqq07uui6v68if6"><figcaption><label>Abb.1: </label>Illustation: pongpakorn Photogarp / Adobe Stock</figcaption></figure></figure><p>Insgesamt hat es über 150 Aussteller nach Köln verschlagen. Die meisten präsentieren Techniklastiges, Blech dominiert. Chemie scheint auf den ersten Blick höchstens in roten Lacken zu stecken. Auf den zweiten allerdings nicht – manchmal muss man eben suchen.</p><h2 type="main">Additive im Sprinkler</h2><p>Chemie steckt Marco Dölfel von der Firma Fogtec Fire Protection zufolge in Sprinkleranlagen: „Die speisen wir mit Trinkwasser: umweltfreundlich, geringe Wartungskosten“, erklärt er. Installiert werden die Anlagen etwa in Klimakammern: Hier fahren zum Beispiel Motorenhersteller ihre Aggregate ans Limit, da schlagen schnell mal Flammen hoch. Und wo steckt die Chemie nun? Dölfel weist auf Akkubrände bei E-Autos hin. Die seien nicht nur wegen der Hitze ein Problem, sondern weil sie sich mit Wasser schlecht löschen lassen. „Aber Wasser kühlt und wäscht Gase aus“, erklärt Dölfel. Welche Gase? „Ganz einfach: Wenn der thermal runway startet, sich der Akku also erhitzt und die Werkstoffe sich zu zersetzen beginnen, entsteht beispielsweise Wasserstoff.“ Und zwar noch vor dem Brand. Darum sei es wichtig, diese Gase zu detektieren und über Ventilationssysteme aus der Kammer zu leiten, bevor es zu Explosionen kommt.</p><p>Der Chemiker Thomas <link href="#nadc20254148095-fig-0002">Porada leitet die Forschungs- und Entwicklungsabteilung der Gräfelfinger Firma Aqua Concept (Foto oben). Er schlägt beim Thema „keine Additive in die Sprinkleranlage“ die Hände über dem Kopf zusammen. Sprinklerdüsen verteilen unter einem Druck von rund 100 bar Wassertröpfchen mit 10 bis 50 Mikrometern Durchmesser über dem Brandherd. „Die Düsen dürfen natürlich auf keinen Fall verstopfen“, betont Porada. Daher gelte es, Rost in den Leitungen um jeden Preis zu verhindern, also die Metalloberflächen vor Sauerstoff zu schützen. Dabei helfen Anti-Korrosionsmittel als Additive.</p><figure xml:id="nadc20254148095-fig-0002"><figure><img alt="image" src="https://eu-central-1.graphassets.com/Aype6X9u2QGewIgZKbFflz/cmbamqs545oti07uujzqqd1mg"><figcaption><label>Abb.2: </label>Thomas Porada ist Leiter der Forschung und Entwicklung beim Unternehmen Aqua Concept und verbannte mit seinem neuen Anti-Rost-Produkt gesundheits- und umweltschädliche Triazole aus Sprinkleranlagen. Fotos: Stefan Albus</figcaption></figure></figure><p>Buntmetalle wie Kupfer, aber auch Aluminium ließen sich etwa durch Triazole vor dem Rosten bewahren. Eine Konzentration von 0,2 Prozent im Wasser reiche dabei schon. Allerdings sage man Triazolen eine endokrine Wirkung nach, zudem seien sie umweltschädlich, sagt Porada. „Erlaubt sind sie noch, aber es gibt Kunden, die reagieren da sensibel.“</p><p>Rund drei Jahre lang hat Porada daher ein triazolfreies Produkt entwickelt. Jetzt steht es auf dem Messetresen – das Rezept bleibt allerdings geheim.</p><h2 type="main">Roter Asbest-Ersatz</h2><p>Auch Polymere finden sich im Brandschutzsektor, zum Beispiel bei der Firma Zapp-Zimmermann aus Köln. Hier gibt es <link href="#nadc20254148095-fig-0003">Abschottungs-Massen, die Brände daran hindern, durch Kabel- und Rohrdurchführungen zu kriechen – überall da, wo Fluchtwege nötig sind, etwa in Bahnen, Tunneln, Chemiewerken, Raffinerien oder Tiefgaragen (Foto links). Früher hat man Asbest in die Lücken gestopft – aber das geht heute natürlich nicht mehr.</p><figure xml:id="nadc20254148095-fig-0003"><figure><img alt="image" src="https://eu-central-1.graphassets.com/Aype6X9u2QGewIgZKbFflz/cmbamqu425qte07t6llptf5af"><figcaption><label>Abb.3: </label>Schaumstoff statt Asbest: Das rote Polymermaterial zur Brandabschottung der Firma Zapp-Zimmermann quillt im Brandfall auf – da kommt nichts mehr durch, auch kein Sauerstoff.</figcaption></figure></figure><p>Die Zapp-Zimmermann-Produkte haben ein charakteristisches Rot. Manche erinnern an Bauschaum, andere an Ziegel, mit denen sich Wandöffnungen schnell zumauern lassen. Woher die Farbe kommt, verrät Martin Bröker nicht. Er erklärt, was das Zapp-Zimmermann-Material so besonders macht: Es quelle auf das Vier- bis Fünffache seines Volumens auf – Intumeszenz heiße das. Dann sei der Durchlass dicht; Sauerstoff könne nicht durchkommen.</p><p>Intumeszenz ist auch wichtig bei Brandschutzschränken: Bei Feuer schäumt die Innenbeschichtung auf und verhindert Schlimmeres.</p><h2 type="main">Feuerfest beschichten</h2><p>Ein paar Meter weiter finden wir noch ein Polymer – diesmal für Dächer, die <link href="#nadc20254148095-fig-0004">Fotovoltaikanlagen tragen sollen. Dabei kommt es Volker Kramer und Roman Arnold vom Gollhofener Unternehmen Franken Systems zufolge immer wieder mal zu Bränden, „ausgelöst zum Beispiel durch Lichtbögen oder defekte Steckverbindungen“ (Foto rechts). Ein Problem, wenn das Dach mit brennbaren Polyurethanen oder Polystyrol-Schaumstoffen gedämmt oder mit Bitumenbahnen abgedichtet ist. Denn dann greift ein Brand schnell auf das ganze Dach über. Selten sei das nicht, „elektrische Anlagen sind die häufigste Brandursache in Gebäuden“, weiß Arnold.</p><figure xml:id="nadc20254148095-fig-0004"><figure><img alt="image" src="https://eu-central-1.graphassets.com/Aype6X9u2QGewIgZKbFflz/cmbamqwk25oyb07uuqbcy8g3y"><figcaption><label>Abb.4: </label>Roman Arnold (links), Produktmanager bei der Firma Franken Systems, und Volker Kramer, Techniker beim selben Unternehmen, schützen Dächer vor Bränden, die etwa durch Kurzschlüsse in Solaranlagen entstehen.</figcaption></figure></figure><p>Das Mittel dagegen: eine wenige Millimeter dünne Brandschutzbeschichtung aus einem Zwei-Komponenten-Flüssigkunststoff. Brände sollen hierauf selbstständig verlöschen – und die Dachkonstruktion wird thermisch kaum belastet, sodass keine Sprinkleranlage versehentlich losgeht. Außerdem sei ihre Lösung fünf- bis fünfzigmal leichter als Kies oder ein Plattenbelag. Worum es sich handelt? Will man nicht verraten.</p><h2 type="main">Strittige Schäume</h2><p>Bisher war das alles eher heiße Asche verglichen mit den Großbränden, die anderswo bei den Brandschutztagen darauf warten, gelöscht zu werden: Die Diskussionen um fluorhaltige Chemikalien sind auch in der Brandschutz-Branche angekommen. Im Fokus: Fluortenside in Aqueous-Film-Forming-Foams (AFFFs). Sie gehören zu den in Ungnade gefallenen per- und polyfluorierten Alkylsubstanzen (PFAS).</p><p>Seit Mitte der 1960er Jahre sind die fluorierten Tenside in Schaummitteln enthalten, die einen Wasserfilm auf brennbaren unpolaren Medien wie Kerosin bilden. Das verhindert den Kontakt des Mediums mit Sauerstoff und das Ausgasen brennbarer Stoffe. Gegenüber fluorfreien Tensiden sei der Löscherfolg Herstellern zufolge weniger von der Schaumqualität abhängig.</p><p>Allerdings ist jetzt für die Europäische Union (EU) Schluss mit Diskussionen: In absehbarer Zeit müssen alle Löschmittel verschwinden, die auf bestimmte Fluortenside setzen.</p><p>Bei manchen Bränden ist das ein Problem, zum Beispiel an Flughäfen, in Chemiefabriken oder Raffinerien. Da zählt jede Sekunde, um das Ausbreiten eines Feuers zu stoppen. Bisher waren Fluortenside Mittel der Wahl.</p><p>„Deren Leistung müssen wir jetzt mit anderen Chemikalien erzielen“, erklären Sebastian Kunze und Mariana Michalk von der Firma Incendin. Es gibt Stellschrauben, an denen man drehen kann, darunter der Schäumprozess und die Art, das Wasser auf den Brandherd zu bringen. Incendins Lösung heißt Burnguard. Fluortenside verwende sein Arbeitgeber seit dem Jahr 2024 nicht mehr, sagt Kunze.</p><h2 type="main">Fluortensidfrei</h2><p>Am Stand der Gesellschaft für fluorfreie Technologie (GFFT) aus Brühl sprechen wir mit dem geschäftsführenden Gesellschafter Christian Trahan. Die einschlägige EU-Verordnung sei mittlerweile einige Jahre alt, meint er. Und nun liefen die Übergangsfristen allmählich aus – zurück bleibe ein Regulierungsdickicht, das für Laien kaum zu durchblicken sei. Das EU-Recht sei verschachtelt, es dauere daher Monate, die nötigen Unterlagen zusammenzutragen: Fast jeden Tag gebe es neue Veröffentlichungen zum Thema. Tatsächlich: Wer nur wenig gräbt, findet schnell heraus, dass die Fluor-Schaummittel nicht als Gruppe am Pranger stehen. Für einzelne Stoffe in den Schäum-Chemikalien gibt es jeweils eigene Grenzwerte und Übergangsfristen.</p><p>So dürfen AFFF-Tenside weiterhin verwendet werden, wenn sie Grenzwerte einhalten. Darum war bei den Brandschutztagen kein Datum zu erfahren, an dem etwa Fluortenside in Feuerlöschern verboten werden – das sind nämlich andere, kurzkettigere als die, mit denen brennende Flieger gelöscht werden. Und die für die Feuerlöscher sind noch nicht bewertet. Wer nachbohrt, hört Jahreszahlen mit einem „wahrscheinlich“ davor. Allerdings geht es irgendwann wohl allen an den Kragen.</p><p>Wie also lässt sich eine Löschanlage rechtssicher konzipieren? Mit der Antwort auf diese Frage verdient die GFFT ihr Geld: Proben nehmen und auf fluorfreie Techniken umstellen. „Das geht bis zur lückenlos dokumentierten Entleerung der bestehenden Anlagen“, erzählt Trahan. Schließlich könne man die Löschmittel nicht einfach in die Toilette schütten. Fluorhaltige Schäume in Löschanlagen zu ersetzen sei alles andere als einfach.</p><h2 type="main">Nach dem Brand</h2><p>Gerade weil Fluortenside so oberflächenaktiv seien, reiche es nicht, die Tanks mit klarem Wasser zu spülen: Die Substanzen blieben auf den Wänden sitzen und bluteten in den neuen Schaum ein. Und schon hebe ein Kontrolleur den Zeigefinger. Schon zehn Nanogramm pro Liter seien nachweisbar, manche Labors schafften sogar weniger. „Daher sind Altlasten ein riesiges Problem“, sagt Trahan.</p><p>Auch dafür gibt es Kümmerer, etwa die Firma Cornelsen aus Essen. Verena Stenert, promovierte Chemikerin und bei ihrem Arbeitgeber für Forschung und Entwicklung zuständig, weiß, wie sich fluorierte Löschmittel nach einem Brand aus dem Boden ziehen lassen. Geht das mit Aktivkohle? „Ja, im Prinzip schon. Aber davon bräuchten Sie dann eine ziemlich große Menge.“</p><p>Sie empfiehlt eine Substanz, die Cornelsen entwickelt hat, PerfluorAd getauft. Sie lasse die fluorhaltigen Stoffe ausflocken. „Damit eliminieren wir 98 bis 99 Prozent“, sagt sie. Die Flocken lassen sich bei über 1200 °C vollständig verbrennen – Problem gelöst.</p><p>Wie ihr Anti-Fluor-Wunder im Detail funktioniert, möchte sie nicht sagen. Und so genau weiß man das bei Cornelsen offenbar auch gar nicht. Vermutet wird eine elektrostatische Wechselwirkung zwischen dem Agens und dem Löschmittel – sogar selektiv, andere Anionen störten nicht. Kurzkettige fluorierte Moleküle blieben allerdings nicht ganz so gerne hängen – Gegenstand der Forschung. Diese spielten in der Praxis allerdings auch kaum eine Rolle, höchstens als Abbauprodukte oder Produktionsrückstände, erklärt Stenert. Die Probleme lägen woanders. „Erst einmal müssen wir oft schauen: Wo ist das Löschwasser eigentlich hin?“ Denn wenn die Kanalisation durch den Brand zerstört oder verstopft ist, läuft das Wasser sonstwohin – samt der fluorierten Löschmittel.</p><h2 type="main">AUF EINEN BLICK</h2><p>Additive im Wasser bewahren Sprinkleranlagen vor dem Rosten. Firmen erforschen Alternativen zu den bisher genutzten umwelt- und gesundheitsschädlichen Triazolen.</p><p>Polymere, die bei Feuer aufquellen, ersetzen Asbest als Abschottungsmasse.</p><p>Wegen der geplanten Regulierung per- und polyfluorierter Alkylsubstanzen (PFAS) entwickeln Unternehmen fluortensidfreie Löschmittel sowie Adsorber, die fluorierte Substanzen nach dem Löschen binden.</p><h2 type="main">Der Autor</h2><p>Der promovierte Chemiker Stefan Albus arbeitet seit dem Jahr 1997 als Wissenschafts- und Fachjournalist für große und kleine Unternehmen der Kunststoffbranche sowie etliche Fachmedien. Zudem ist er als Künstler tätig. Für die Nachrichten aus der Chemie besuchte er im Dezember 2024 die Kölner Brandschutztage, eine Fachmesse organisiert vom Unternehmen VdS Schadenverhütung, Tochter des Gesamtverbands der Deutschen Versicherungswirtschaft.</p>

Artikel

Wenn die Funken fliegen

Köln, Messe, Halle 10.1: Feuerlöscher, Brandmelder, Flammschutzmittel. Wir erkunden die Brandschutztage des Unternehmens VdS Schadensverhütung – eine chemische Spielwiese. Heiß her geht es nicht nur bei der Brandbekämpfung, sondern auch im Regulierungsfeuer.Es gibt Warnlichter, Löschwasservorrats...

Chemische Reinigungsmittel, Chemotherapeutika, Feinstaub – mit solchen Gefahrstoffen zu arbeiten, gefährdet nicht nur die körperliche, sondern auch die psychische Gesundheit. Unternehmen sind verpflichtet, ihre Arbeitnehmenden zu schützen. Dazu müssen sie bewerten, wie stark Beschäftigte mental belastet und welche Schutzmaßnahmen nötig sind.<p>Eine internationale Norm definiert die psychische Belastung am Arbeitsplatz als die Summe aller Einflüsse, die von außen auf den Menschen zukommen und auf ihn einwirken. Psychische Fehlbelastung erhöht das Risiko für verschiedene Erkrankungen von Depressionen über Herz-Kreislauf-Erkrankungen bis hin zum Burn-out. Wichtig ist es deshalb, nicht nur körperlichen, sondern auch psychischen Problemen am Arbeitsplatz vorzubeugen.</p><p>Seit dem Jahr 2013 verankert das Arbeitsschutzgesetz explizit die psychische Gesundheit im Arbeitsumfeld: Neben Gefährdungen der physischen Gesundheit sind auch solche der psychischen zu vermeiden. Seit einer Neuerung der Gefahrstoffverordnung im Jahr 2024 ist zudem die psychische Belastung beim Umgang mit Gefahrstoffen in der <link href="#nadc20254148244-fig-0001">Gefährdungsbeurteilung zu bewerten.</p><figure xml:id="nadc20254148244-fig-0001"><figure><img alt="image" src="https://eu-central-1.graphassets.com/Aype6X9u2QGewIgZKbFflz/cmbams6sk5sue07t64rg17ks0"><figcaption><label>Abb.1: </label>Bild: Nuthawut / Adobe Stock</figcaption></figure></figure><h2 type="main">Psychische Belastung messen</h2><p>Wenn ein Unternehmen mit Gefahrstoffen arbeitet, muss es ermitteln, ob und wie stark Beschäftigte diesen Stoffen ausgesetzt sind. Gesetzlich sind für die Gefahrstoffe klare Grenzwerte festgelegt, die spezifische Maßnahmen erfordern, sobald die Werte überschritten werden. Für die meisten Gefahrstoffe sind die Risiken für die körperliche Gesundheit bekannt und entsprechende Vorsichtsmaßnahmen erprobt, sodass sich die Gefährdung kontrollieren lässt.</p><p>Bei der psychischen Belastung ist die Gefährdungseinschätzung schwieriger. Auf Grenzwerte lässt sich meist nicht zurückgreifen. Über Befragungen und Workshops wird versucht, den abstrakten Begriff der psychischen Belastung bei der Arbeit zu beziffern. Den Kreis der Personen einzugrenzen, die durch den Umgang mit Gefahrstoffen einer psychischen Belastung ausgesetzt sind, ist zudem kompliziert. Denn das sind nicht nur Personen, die direkt mit den Gefahrstoffen arbeiten, sondern auch Beschäftigte anderer Bereiche, etwa der Verwaltung. Obwohl sie nicht selbst mit Gefahrstoffen arbeiten, wissen sie, dass in angrenzenden Gebäuden mit Substanzen umgegangen wird, die ihnen selbst und ihren Kolleg:innen schaden können.</p><h2 type="main">Gefährdung in allen Arbeitsbereichen</h2><p>Um die Gefährdung durch psychische Belastung bei der Arbeit mit Gefahrstoffen zu bewerten, lassen sich daher <link href="#nadc20254148244-fig-0002">Merkmalsbereiche heranziehen (Abbildung rechts), die sich aus den Tätigkeiten der Beschäftigten ergeben. Für jeden Bereich sind psychisch belastende Kriterien zu identifizieren:</p><figure xml:id="nadc20254148244-fig-0002"><figure><img alt="image" src="https://eu-central-1.graphassets.com/Aype6X9u2QGewIgZKbFflz/cmbamup2l5v1207uuzsy2ku9c"><figcaption><label>Abb.2: </label>Merkmalsbereiche, die bei der Arbeit auf Beschäftigte einwirken und für die psychisch belastende Kriterien zu identifizieren sind. Abbildung: Richard Bolek</figcaption></figure></figure><p>Die Arbeitsaufgabe bezieht sich auf die Inhalte der Tätigkeit. Eine psychische Belastung kann etwa entstehen, wenn Beschäftigte nicht ausreichend qualifiziert für den Umgang mit Gefahrstoffen sind oder unzureichend eingearbeitet wurden.</p><p>Bei der Arbeitsorganisation geht es darum, wie Arbeitsabläufe geregelt sind. Psychisch belastend kann beispielsweise Zeitdruck im Umgang mit Gefahrstoffen sein. Dieser ist selbst gesundheitsschädlich und führt zudem zu Fehlern oder Unachtsamkeiten, die wiederum die physische Gesundheit gefährden – etwa wenn Laborgeräte nachlässig gereinigt oder Chemikaliengefäße nicht oder falsch beschriftet werden.</p><p>Zur Arbeitszeit gibt es gesetzliche Vorgaben, etwa was die Dauer einer Schicht oder die Erholungszeit betrifft. Werden diese nicht eingehalten, können Müdigkeit und Erschöpfung die psychische Gesundheit gefährden und ebenso wie Stress das Risiko für Fehler und somit die physische Gesundheit bei der Arbeit mit gefährlichen Stoffen erhöhen.</p><p>Mangelnde Unterstützung durch Führungskräfte als Quelle für Gefährdungen fällt in den Merkmalsbereich soziale Beziehungen. Auch dadurch können Unsicherheit und Fehler im Umgang mit Gefahrstoffen resultieren, etwa weil sich Beschäftigte nicht trauen, ihre Führungskraft um Hilfe zu bitten oder zu informieren, wenn es Probleme gibt.</p><p>Zu den Arbeitsmitteln gehören Geräte, Programme und Chemikalien sowie die persönliche Schutzausrüstung. Dass diese an- und abzulegen ist, bedeutet einen Mehraufwand – zu berücksichtigen beim Zeitmanagement, um psychische Belastung durch Zeitdruck zu verhindern.</p><p>Die Arbeitsumgebung beinhaltet Beleuchtung, Gerüche oder Lärm. Wenn Beschäftigte etwa den ausgeprägten Eigengeruch gefährlicher Stoffe wahrnehmen, fühlen sie sich möglicherweise unwohl, sind weniger motiviert oder können sich schlecht konzentrieren.</p><p>Einige Beispiele zeigen, welche psychischen Belastungen bei verschiedenen Tätigkeiten in den Merkmalsbereichen auftreten können und welche Gegenmaßnahmen helfen können.</p><h2 type="main">In der Gebäudereinigung</h2><p>Eine Reinigungskraft verdünnt täglich Konzentrate unterschiedlicher Reinigungsmittel, um damit etwa Böden oder Sanitäranlagen zu putzen. Beim Umgang mit den Konzentraten sind Handschuhe und Schutzbrille zu tragen.</p><p>Mögliche Gefährdungen durch psychische Belastung: Wenn die Reinigungskraft unzureichend eingearbeitet wird, ist sie möglicherweise unsicher, wie sie die unterschiedlichen Reiniger nutzen muss und wie gefährlich diese bei falscher Verwendung sind. Sie tauscht sich mit dem Kollegium darüber aus, es kommt zum Flurfunk und schließlich zur kollektiven Unsicherheit, welche Kurz- und Langzeitfolgen drohen, wenn die Reinigungsmittel falsch verwendet werden. Der Eigengeruch bestimmter Reiniger verstärkt die Verunsicherung, ebenso die Schutzausrüstung, die nötig ist, wenn die Konzentrate gehändelt werden. Welche Maßnahmen sind notwendig? Gemäß STOP(P)-Prinzip (STOPP steht für Substitution, technische Maßnahmen, organisatorische Maßnahmen, persönliche Schutzausrüstung und persönliches Verhalten) gilt es, Gefährdungen möglichst an der Quelle zu minimieren.</p><p>Einen Dosierautomaten zu Hilfe zu nehmen limitiert den Umgang mit Konzentraten. Sowohl um den Automaten zu bedienen als auch mit den Konzentraten zu arbeiten, ist die Reinigungskraft auf angemessenem Niveau einzuarbeiten und regelmäßig zu unterweisen. Dabei muss sie auch lernen, was im Fall eines Anwendungsfehlers zu tun ist, um niemanden zu gefährden. Mitarbeitende sollten jederzeit den Betriebsarzt aufsuchen können, der ihnen die gesundheitlichen Auswirkungen nach Exposition mit Gefahrstoffen erläutert und Fragen beantwortet. Zudem ist auf eine positive Fehlerkultur im Unternehmen zu achten, damit Fehler ohne Angst vor negativen Konsequenzen gemeldet werden und Beschäftigte daraus lernen.</p><h2 type="main">In der Apotheke</h2><p>Eine Person verdünnt konzentrierte Lösungen eines Zytostatikums zur Krebsbehandlung. Dieses hemmt die Zellteilung bei Krebszellen, greift allerdings auch gesunde Zellen an. Die Lösungen sind steril und kontaminationsfrei zu halten. Deswegen arbeitet die Person im gefilterten Luftstrom einer laminaren Flow-Box mit Handschuhen und Schutzbrille. Die Fehlertoleranz für die Lösungen ist gering, und aus wirtschaftlichen Gründen herrscht Zeitdruck.</p><p>Folgende Risiken für psychische Belastungen bestehen: Macht die Person Fehler beim Herstellen der Lösungen, kann das den Patient:innen schaden. Deren persönliche Schicksale führen zu einer hohen emotionalen Betroffenheit – ob durch die Krebserkrankung selbst oder durch fehlerhafte Medikation. Die Kombination aus geringer Fehlertoleranz und Zeitdruck führt zu hohem Leistungsdruck.</p><p>Um psychischer Fehlbelastung vorzubeugen, muss auch hier die Person, die mit dem Ansetzen der Lösungen des Zytostatikums betraut ist, sorgfältig eingearbeitet und regelmäßig geschult werden. Einzelne Arbeitsschritte engmaschig zu dokumentieren und kontrollieren gibt Handlungssicherheit und hilft, das Fehlerrisiko zu senken. Dafür ist ausreichend Zeit einzuplanen. Es ist sicherzustellen, dass die Aufgaben trotz Kostendrucks in der vorgegebenen Zeit erfüllbar sind. Kommen Patient:innen durch Fehler zu Schaden, helfen psychosoziale Beratungen den Mitarbeitenden, das zu verarbeiten. Über Employee-Assistance-Programme bekommen Beschäftigte beispielsweise schnell und anonym Hilfe.</p><h2 type="main">Im Abfüllprozess</h2><p>In der Produktion eines Chemieunternehmens füllen mehrere Beschäftigte pulverförmige Feststoffe im Tonnenmaßstab ab. Die Staubbelastung ist hoch. Als persönliche Schutzausrüstung stellt das Unternehmen Staubschutzmasken und Schutzanzüge; einzelne Personen lehnen diese jedoch ab. Dadurch verschleppen sie Staub in die Sozialräume.</p><p>Das führt zu Spannungen und Konflikten im Kollegium – eine Gefährdung durch psychische Belastung. Einige Beschäftigte sorgen sich darum, wie sich der verschleppte Staub auf ihre körperliche Gesundheit auswirken könnte.</p><p>Maßnahmen, die das Unternehmen gegen die Gefährdung ergreifen sollte: Vorgeben, wie die Schutzausrüstung zu verwenden ist, und erklären, welchen Zweck sie erfüllt. Für Mitarbeitende, die die Ausrüstung wiederholt weglassen oder falsch nutzen, sollten arbeitsrechtliche Konsequenzen folgen. Eine Mediation hilft zudem, Konflikte im Team zu lösen.</p><h2 type="main">Fazit</h2><p>Psychische und physische Gefährdung bei der Arbeit mit Gefahrstoffen hängen zusammen. Ziel der Schutzmaßnahmen sollte immer sein, beide Arten der Gefährdung so klein wie möglich zu halten. Beschäftigte dabei einzubeziehen hilft, die Akzeptanz der Maßnahmen zu erhöhen.</p><h2 type="main">Die Autor:innen</h2><p>Den Beitrag haben Richard Bolek und Kimjana Curtaz verfasst. Bolek ist promovierter Chemiker und arbeitet als Gefahrstoffreferent und Aufsichtsperson im Vorbereitungsdienst bei der Unfallkasse Nord. Davor war er Fachlehrer für Umwelttechnik bei der Polizei Hamburg. Curtaz hat Psychologie studiert und ist Arbeitspsychologin bei der Unfallkasse Nord. Zuvor war sie bei der Fortbildungsakademie der Wirtschaft zum Thema betriebliches Eingliederungsmanagement (BEM) tätig.<img alt="image" src="https://eu-central-1.graphassets.com/Aype6X9u2QGewIgZKbFflz/cmbamurav624x07tel452citv"><img alt="image" src="https://eu-central-1.graphassets.com/Aype6X9u2QGewIgZKbFflz/cmbamutdw629207te7k5ut537"></p><p>Fotos: Judith Drummer (Bolek), Studioline Hamburg (Curtaz)</p>

Artikel

Wenn die Funken fliegen

Überprüfung Ihres Anmeldestatus ...