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Energiewende

Was zu beachten und zu tun ist

Nachrichten aus der Chemie, September 2023, S. 32-35, DOI, PDF. Login für Volltextzugriff.

Von Wiley-VCH zur Verfügung gestellt

Die Chemie als Industrie und Wissenschaft braucht Energie und Kohlenstoffquellen, stößt Treibhausgase aus und bietet gleichzeitig Innovationen, Emissionen zu reduzieren. Sektoren wie Stromerzeugung, Produktion, Verkehr und Wärme müssen interdisziplinär zusammenarbeiten und Maßnahmen priorisieren, um CO2-Emissionen zu senken.

Die Energiewende als Umbau der Energieversorgung wurde in Deutschland mit dem Erneuerbare-Energien-Gesetz (EEG) und dem Atomausstieg politisch entschieden. Die Menge erneuerbarer Energie, die ins deutsche Stromnetz eingespeist wurde, ist von zirka 20 Mrd. kWh im Jahr 1990 auf mehr als 230 Mrd. kWh, also auf 46 Prozent des inländischen Stroms im Jahr 2022, gestiegen.1) Der Anteil regenerativer Energiequellen im Verkehrs- und Wärmesektor ist dabei mit 17 Prozent beziehungsweise 7 Prozent jeweils viel kleiner. Zudem betrug der Anteil an Strom aus Kohlekraftwerken ein Drittel der gesamtdeutschen ins Netz eingespeisten Elektrizität.2)

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Energieformen sind für eine nachhaltige Industrie zu vernetzen. Bildnachweis: desinko / Adobe Stock

In den Jahren 1990 bis 2022 sanken die Treibhausgasemissionen innerhalb Deutschlands dem Umweltbundesamt zufolge von 1250 Mio. Tonnen CO2-Äquivalenten auf 746 Mio. Tonnen.3) Weltweit stiegen sie im gleichen Zeitraum von zirka 30 Mrd. Tonnen CO2-Äquivalenten auf fast 50 Mrd. Tonnen.4) Das entspricht einer Steigerung um fast zwei Drittel.

Um das Mittelfristziel der Treibhausgas(THG)-Reduktion zu erreichen, muss innerhalb der nächsten Jahre der konsequente Einstieg in eine möglichst regionale klimaneutrale, effiziente und sektorenübergreifende Energieinfrastruktur erfolgen: beim Erzeugen, Verteilen und Speichern von Energie. Die EU gibt ein 55-Prozent-Reduktionsziel bis zum Jahr 2030 vor, das nur über einen Systemwechsel zu erreichen ist.

Energiewende in der Industrie

Bisher haben einzelne Interessengruppen wie Energiewirtschaft, Stahl-, Chemie- oder Autoindustrie die Energiewende der Industrie sektorbezogen betrachtet und optimiert. Krisenhafte Konflikte zeigen die energiepolitischen, wirtschaftspolitischen und ressourcenmäßigen weltweiten Abhängigkeiten von autoritären Mächten und Problemregionen. Beispiele sind der Krieg in der Ukraine und die gegenseitige daraus folgende Sanktionierung sowie die Rohstoffabhängigkeit von China bei Computerchips oder Rohstoffen wie Seltenerdmetallen und Cobalt für Batterien (im Zusammenhang mit dem China-Taiwan-Konflikt).

Bisherige Atomkraftwerke durch Kohle- und Gaskraftwerke zu ersetzen, widerspricht dem Ziel der dauerhaften klimaneutralen Energieversorgung. Gleiches gilt für das Ersetzen ausgefallener Gaslieferungen aus Russland durch Investitionen in verflüssigtes Erdgas (liquified natural gas, LNG). Mittelfristig könnten diese Techniken dennoch wichtig sein, um den Kohlenwasserstoffbedarf der chemischen Industrie zu decken. Erdgas ist nicht nur Energieträger, sondern auch Rohstoffquelle für Kohlenwasserstoffe, die für die Produktion organischer Chemieprodukte benötigt werden: etwa Kunststoffe wie Polyethylen und Polypropylen, Kraft- und Schmierstoffe, Düngemittel, Pharmazeutika und Kosmetika.

Mangelware erneuerbare Energie

Nur Wind- und Solarenergieanlagen auszubauen löst die Grundprobleme nicht: Außer Strom benötigt die Prozessindustrie als Ersatz für Naphtha große Mengen chemischer Rohstoffe sowie Industrie und Gebäude generell große Mengen Wärme und chemische Rohstoffe. Zudem gibt es bei regenerativer Energie eine zeitliche und örtliche Lücke zwischen Energieerzeugung und -bedarf, Stichwort Dunkelflaute. Dunkelflaute steht für die Kombination aus fehlendem Wind bei gleichzeitiger Dunkelheit, wodurch Strom weder aus Windenergie noch PV-Anlagen generiert werden kann.

Bereits heute werden in Deutschland Wind- und Solaranlagen zur Stromnetzstabilisierung abgeregelt, also vom Stromnetz genommen.5) Im Jahr 2021 waren das 5,82 Mrd. kWh, im Jahr 2010 nur 127 Mio. kWh; also ist die Menge um fast 5000 Prozent gestiegen. Zudem stammen mehr als 10 Prozent der Regelleistung in Deutschland aus treibhausgasintensiven Kraftwerkstypen.6) Die Regelleistung ist die elektrische Leistung, die ein Netzbetreiber benötigt, um unvorhergesehene Leistungsschwankungen in seinem Stromnetz auszugleichen. Energiespeicher sind ein wichtiger Baustein, um diesen Ausgleich der Leistungsschwankungen sinnvoll zu nutzen.

Energiespeicher

Bei Speichertechniken sind die Form der Eingangsenergie und die Nutzform zu unterscheiden: Mechanisch, elektrisch oder elektrochemisch gespeicherter Strom lässt sich zur Stromerzeugung nutzen. Chemisch gespeicherter Strom ermöglicht zusätzlich die Nutzung als Kraftstoff oder chemischem Rohstoff (Grafik S. 34).

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Einteilung von Energiespeichertechniken.8)

Dabei zeigt sich, dass sich besonders stoffliche Energiespeicher (in der Grafik: chemische Speicher) wie Wasserstoff oder Methanol dazu eignen, Sektoren zu koppeln. So lassen sich mit gespeicherter Energie beispielsweise Wärme oder Strom erzeugen, Fahrzeuge antreiben oder Rohstoffe für Synthesen erhalten. Allerdings ist bei stofflicher Energiespeicherung der Umwandlungsverlust viel größer als bei der elektrochemischen, elektrischen oder mechanischen Energiespeicherung.

Situation der Chemieindustrie

Wärme ist die zurzeit in Deutschland am meisten benötigte Energieform. Etwa zwei Drittel des Endenergieverbrauchs der Industrie und der Privathaushalte erzeugt Wärme.7) Allerdings sind die anderen Energie- und Nutzungsformen meist wertvoller. Beispielsweise kostet eine Kilowattstunde Wärme weniger als eine Kilowattstunde Strom oder die äquivalente Menge Wasserstoff.

Die Rolle der Chemie ist hierbei ambivalent: Die Chemie ist einerseits als Industrie nach der Eisen- und Stahlindustrie zweitgrößter Energieverbraucher und drittgrößter Treibhausgasemittent. Die Umstellung der Chemie auf CO2 als Rohstoff würde den Energiebedarf der Chemie verzehnfachen.9)

Andererseits lässt sich mit chemischen Produkten wie LED oder Isoliermaterialien Energie sparen. Chemiebasierte Werkstoffe wie Verbundwerkstoffe für Windradflügel, Solarzellen, Materialien für Akkumulatoren und Elektrolysezellen ermöglichen zudem erst die Energiewende. Zur Produktion all dieser wichtigen Produkte benötigt die Chemie teils kritische Rohstoffe, darunter Cobalt und Lithium für leistungsstarke Akkumulatoren.

Fossile Kohlenstoffquellen als Chemierohstoffe durch Abfallströme, Biomasse oder CO2 zu ersetzen erhöht den durchschnittlichen Energiebedarf der Verfahren um ein Vielfaches. In der aktuellen Phase des Übergangs werden Strom aus regenerativen Quellen und biobasierte Chemieprodukte erst nach und nach verfügbar. Dies sind also Engpassressourcen. In dieser Zeit gilt es, den Energiebedarf zu minimieren und damit die CO2-Produktion so klein wie möglich zu halten. Die Maßnahmen sowohl hinsichtlich der knappen investiven Mittel als auch der CO2-Einspareffekte müssen deshalb priorisiert werden. Wie und durch wen dies geschehen kann, soll in einem Folgebeitrag konkreter herausgearbeitet werden.

Lösungsansätze

Zu den technischen Problemen beim Projekt- und Portfoliomanagement bei der Energiewende gehören

der im Vergleich zur Verfügbarkeit regenerativer Energiequellen höhere Energieverbrauch, besonders bei Wärme und Mobilität,die unstetige Stromproduktion aus regenerativen Quellen und saisonale Effekte, besonders der höhere Wärmebedarf im Winter,die Stabilisierung der Stromnetze im Hinblick auf ihre Verknüpfung undder steigende Energiebedarf beim Umbau der chemischen Rohstoffversorgung aus nichtfossilen Quellen.

Abhilfe können folgende allgemeine Maßnahmen schaffen:

Energieressourcenverbrauch auf das notwendige Maß reduzieren, ohne Industrie und Gesellschaft zu überfordern,Abwärme und Abfälle als Ressourcen verwenden, wobei stoffliche Nutzung wertvoller als energetische Nutzung ist,netzstabilisierende Maßnahmen wie angebotsoptimierter Energieverbrauch,Ausbau von Großstromspeicherkapazitäten vorhandener und im Pilotmaßstab erprobter Strom- und Energiespeichertechniken undNutzung der freien Netzkapazitäten außerhalb der Spitzenlastzeiten (load shifting).8,10)

Thinktank Energiewende: Drei Fragen an Koordinator Martin Vollmer

Was macht der GDCh-Thinktank Energiewende?

Er bearbeitet die Herausforderungen der Energiewende aus Sicht der Chemie als Wissenschaft und Industriezweig. Wir wollen mit unseren Expert:innen eine neue Perspektive bieten und die Energiewende von der Chemie her denken. Dabei spielt die systemtechnische Betrachtung eine entscheidende Rolle, um Empfehlungen für eine Reduktion von Treibhausgasen geben zu können.

Was ist dabei wichtig?

Die Energiewende ist eine multisektorielle und interdisziplinäre Herausforderung. Die Frage ist, ob die richtigen Prioritäten in puncto Investition und Innovation gesetzt sind, um ökologische und ökonomische Ziele in Einklang zu bringen. Hier wollen wir Impulse geben und laden Interessierte ein, mit uns zu arbeiten und einen Dialog zu fördern.

Planen Sie weitere Beiträge?

Ja, dem Thinktank bietet sich genügend Zündstoff, um die öffentliche Diskussion auf Basis wissenschaftlicher Fakten aus Sicht der Chemie zu begleiten. Nach Etablierung des Thinktank-Modells könnten wir uns gut vorstellen, weitere brisante Themen im Kontext Nachhaltigkeit und zirkulärer Wirtschaft aus systemtechnischer Sicht aufzugreifen. Man darf durchaus gespannt sein.

Martin Vollmer ist promovierter Chemiker und seit dem Jahr 2016 Mitglied des GDCh-Vorstands. Nach knapp 25 Jahren in der chemischen Industrie ist er in die Baustoffindustrie gewechselt und seit Juni 2022 Chief Research & Development Officer und Mitglied des Vorstands der BMI Group. Seine Mitstreiter im Thinktank sind Florian Budde, Klaus-Dieter Franz, Joachim von Heimburg, Wolfgang Hübinger, Gerhard Karger, Thomas Osterland und Emil Roduner.

Termin: Thinktank-Diskussionsforum

Sie wollen mit den Autoren des Beitrags „Was zu beachten und zu tun ist“ noch einmal über die Herausforderungen der Energiewende diskutieren?

Sie haben noch Fragen zu den damit zusammenhängenden komplexen Sachverhalten, die sich nicht einfach auf ein „entweder – oder“ reduzieren lassen?

Kein Problem. Der GDCh-Thinktank-Energiewende organisiert am 27. September von 18 bis 20 Uhr online ein Diskussionsforum mit den Autoren und weiteren Engagierten des Thinktanks, zu dem Sie herzlich eingeladen sind.

Zur kostenlosen Registrierung für das Zoom-Meeting gelangen Sie unter bit.ly/3OQDWr9.

Die Autoren

Den Beitrag verfasst haben Thomas Osterland (Foto), Wolfgang Huebinger, Klaus-Dieter Franz, Emil Roduner und Joachim von Heimburg. Osterland ist seit dem Jahr 2015 Professor für chemische Technologie an der Hochschule Augsburg in der Fakultät Maschinenbau und Verfahrenstechnik. Huebinger erarbeitet bei BASF in Ludwigshafen Langfriststrategien, abgeleitet aus Technologieentwicklung, Forschungssteuerung und Scouting. Franz ist Lehrbeauftragter an der TU Darmstadt und der Uni Frankfurt (Innovation und Aufbau neuer Geschäfte in Chemie und Pharma). Roduner ist Professor für physikalische Chemie an der Uni Stuttgart sowie außerordentlicher Professor der Uni von Pretoria (im Ruhestand). Der promovierte Physiker von Heimburg ist Innovationsarchitekt und Berater für industrielle Forschung und Entwicklung.https://media.graphassets.com/AeKi01BvQYWOMSmjCzQx

Foto: Valeska Schweizer

AUF EINEN BLICK

Die Energiewende in Deutschland hat trotz des Zubaus an regenerativer Energieerzeugung bisher nur zu einer mäßigen Treibhausgasreduktion geführt.

Die Chemie als Industrie und Wissenschaft ist gleichzeitig Großenergieverbraucher, Treibhausgasemittent und Lösungsanbieter durch Innovationen im Energiesektor. Chemische Produktion ist zudem auf Kohlenstoffquellen angewiesen.

Die Energiewende ist eine multisektorielle und interdisziplinäre Herausforderung. Sie braucht eine Maßnahmenpriorisierung, die Kosten gering hält und größtmögliche Einspareffekte bei Treibhausgasemissionen erreicht.

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