Bildung + Gesellschaft

<p>Kurioses, Erstaunliches, &Uuml;berraschendes &mdash; was vor 50 Jahren in den &bdquo;Nachrichten aus der Chemie&ldquo; stand, die damals noch &bdquo;Nachrichten aus Chemie und Technik&ldquo; hie&szlig;en.</p>

Vor 50 Jahren

<h2>Im Jahr des Terrors</h2><p>„… von der sinnlosen Ermordung dieses einzigartigen Menschen tief betroffen“ zeigten sich die Teilnehmer des deutsch-israelischen Membranworkshops in der zweiten Juniausgabe der Nachrichten aus Chemie und Technik. Aharon Katzir-Katchalsky, dem der Nachruf im Tagungsbericht gilt, hatte auf dem Workshop in Göttingen den öffentlichen Vortrag gehalten. Bei seiner Ankunft am Flughafen in Tel Aviv am 30. Mai 1972 fiel der Physikochemiker dem Anschlag der Japanischen Roten Armee zum Opfer, der als das erste Selbstmordattentat des modernen Terrorismus in die Geschichte einging. Den überlebenden Attentäter versuchten palästinensische Terroristen im selben Jahr während der olympischen Spiele in München freizupressen und ermordeten dabei elf israelische Sportler.</p><div><img src="https://media.graphassets.com/bbofaJ7DTMete4UFWl5e">

</div><p></p><p>Weitere (bessere) Nachrichten von damals stehen in der GDCh-App: <ext-link ext-link-type="uri"><a href="https://gdch.app/category/vor-50-jahren" target="_blank">gdch.app/category/vor-50-jahren</a></ext-link></p>

Vor 50 Jahren in den Blauen Blättern

Im Jahr des Terrors

Im Jahr des Terrors„… von der sinnlosen Ermordung dieses einzigartigen Menschen tief betroffen“ zeigten sich die Teilnehmer des deutsch-israelischen Membranworkshops in der zweiten Juniausgabe der Nachrichten aus Chemie und Technik. Aharon Katzir-Katchalsky, dem der Nachruf im Tagungsbericht gilt...

<p>Lukas Guggolz f&auml;llt auf: Nicht nur, weil er im Rollstuhl sitzt und Arme und Beine kaum bewegen kann. Sondern vor allem, weil er trotzdem ein Chemiestudium und die Promotion durchgezogen hat. Wie er das gemacht hat und warum ausgerechnet im bergigen Marburg, beschreibt er in diesem Beitrag.</p>
<p>Kann man mit einer schweren k&ouml;rperlichen Behinderung Chemie studieren? Muss das wirklich sein?</p>
<p>Ja. Warum auch nicht? Das Leben im Rollstuhl ist h&auml;ufig vor allem ein logistisches Problem &ndash; und logistische Probleme sind prinzipiell <xref rid="nadc20224126463-fig-0001" ref-type="fig">l&ouml;sbar</xref>. So auch in meinem Fall. Im Fr&uuml;hjahr 2019 habe ich meine Doktorarbeit verteidigt. Meinen Lebensweg bis hierhin zu beschreiben tr&auml;gt hoffentlich dazu bei, M&ouml;glichkeiten zu zeigen, wo es bisher keine zu geben schien.</p>
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<figcaption><label>Abb. 1: </label>Mit dem Rollstuhl im Labor muss kein Problem sein &ndash; nicht einmal dann, wenn man sich kaum bewegen kann. Foto: pressmaster / Adobe Stock</figcaption>
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<h2>Selbst entwickelte Hilfsmittel</h2>
<p>Das f&uuml;r Au&szlig;enstehende zun&auml;chst Spezielle an meiner Situation ist meine angeborene Gelenksteife (Arthrogryposis multiplex congenita, AMC). Ich habe fast keine Muskulatur in den Extremit&auml;ten, und Ellenbogen sowie Knie sind in etwa einem 90&deg;-Winkel versteift. Deshalb bin ich auf diverse technische Hilfsmittel angewiesen. Dazu geh&ouml;ren selbstentwickelte Mundschreibhilfen zum Schreiben und zum Tippen am Computer sowie ein Elektrorollstuhl mit ebenfalls selbstentwickelter Spezialsteuerung. Hiermit und mit der Unterst&uuml;tzung Zivildienstleistender konnte ich das regul&auml;re Schulsystem durchlaufen und im Jahr 2005 das Abitur ablegen.</p>
<p>Wegen des h&ouml;heren logistischen Aufwands im Leben eines Rollifahrers stellte sich schon fr&uuml;h w&auml;hrend meiner Schulzeit die Frage nach dem richtigen Studiengang. Zur Verwunderung meiner Eltern, die mich wohl eher als Geistes- oder Sprachwissenschaftler sahen, war f&uuml;r mich schnell klar: Ich will Chemie studieren. Ein verkorkster erster Test in der Schule weckte meinen Ehrgeiz und lie&szlig; mich die Sch&ouml;nheit und Vielseitigkeit dieses Fachs erkennen. Ich begann also bereits zu Beginn der elften Klasse zu recherchieren, welche Universit&auml;t und welcher Studienort f&uuml;r mich in Frage k&auml;men. Dabei galt es zum einen, eine barrierefreie Wohnung zu finden. Zum anderen hatte ich noch keine Vorstellung davon, ob und wie ein so praktisch ausgelegtes Studium mit meinen Einschr&auml;nkungen zu meistern w&auml;re.</p>
<h2>Marburg? K&ouml;nnte klappen</h2>
<p>Die Wohnsituation kl&auml;rte sich &uuml;berraschend schnell. Ausgerechnet im h&uuml;geligen Marburg &ndash; das gef&uuml;hlt zu drei Vierteln aus Kopfsteinpflaster besteht &ndash; wurde ich f&uuml;ndig. Einer meiner Lehrer hatte mich auf das dortige Konrad-Biesalski-Haus (KBH) aufmerksam gemacht.</p>
<p>Das KBH ist ein inklusives Wohnheim des Marburger Studentenwerks, in dem fast achtzig behinderte und nichtbehinderte Studierende gemeinsam leben. Ein Team aus Pflegern und studentischen Hilfskr&auml;ften sowie ein integrierter Fahrservice erm&ouml;glichen individuelle Assistenzleistungen. So kann jede:r seinen Alltag nach den pers&ouml;nlichen W&uuml;nschen und Vorstellungen gestalten, und die Bewohner:innen, die die unterschiedlichsten k&ouml;rperlichen Behinderungen haben, bringen Studium und Privatleben problemlos unter einen Hut.</p>
<p>F&uuml;r mich bedeutete das KBH, trotz der gro&szlig;en Entfernung zu meiner s&uuml;dbadischen Heimat unabh&auml;ngig von meiner Familie studieren und leben zu k&ouml;nnen. Einen Freundes- und Bekanntenkreis aufzubauen f&auml;llt deutlich leichter, wenn die (pflegerischen) Grundbed&uuml;rfnisse organisiert sind und man nicht den Gro&szlig;teil seiner Freizeit mit dem &Uuml;berleben besch&auml;ftigt ist.</p>
<p>Das KBH geht auf die Initiative des Marburger Orthop&auml;den Gerhard Exner zur&uuml;ck und feierte im Jahr 2019 sein 50-j&auml;hriges Bestehen. Leider ist es nach wie vor einzigartig in Deutschland.</p>
<h2>Ort? Passt. Aber Chemie studieren im Rollstuhl?</h2>
<p>Nachdem viel in Richtung Marburg deutete, lautete die n&auml;chste Frage, wie ein Chemiestudium f&uuml;r mich machbar w&auml;re. Die erste Anlaufstelle war Clemens Schwan, der Schwerbehindertenbeauftragte der Universit&auml;t. Er war von meinem Studienwunsch &uuml;berrascht, begann aber dennoch direkt mit der Recherche. Dabei kam recht schnell heraus: Ich hatte meinen Exotenstatus untersch&auml;tzt. Vor mir gab es in Deutschland weniger als eine Handvoll k&ouml;rperbehinderter Chemiestudierender, die aber zumeist eine gewisse (Rest-)Funktion in Armen und H&auml;nden hatten und damit in der Lage waren, Laborpraktika weitgehend selbst durchzuf&uuml;hren. Auch in anderen praktisch ausgerichteten F&auml;chern wie Physik oder Medizin sah es &ndash; zumindest zu meiner Studienzeit, aber vermutlich auch noch heute &ndash; mager aus, was den Anteil k&ouml;rperbehinderter Studierender angeht.</p>
<p>Mit relativ wenig in der Hand meldeten wir uns also beim damaligen Studiendekan des Fachbereichs Chemie, J&ouml;rg Sundermeyer, und dem Dekanatsreferenten Michael Schween. Gl&uuml;cklicherweise stie&szlig;en wir dort auf ein Ma&szlig; an Aufgeschlossenheit, das man sich als Rollifahrer in mehr Lebensbereichen w&uuml;nscht. Nach einem konstruktiven Austausch und einer Ortsbegehung war f&uuml;r beide Verantwortlichen klar, dass sich eine Pr&uuml;fungsordnung dem Gleichstellungsgedanken im Sinne des Grundgesetzes unterzuordnen habe.</p>
<p>Dem Beginn meines Chemiestudiums stand also von Seiten des Fachbereichs nichts im Wege.</p>
<h2>Einfacher als gedacht</h2>
<p>Kurz vor Semesterbeginn ging es daran, Details zu planen: konkret vor allem die Abl&auml;ufe von Pr&uuml;fungen und Praktika inklusive der Sicherheitsaspekte. Auch hier war es unkompliziert, L&ouml;sungen zu finden. Im Rahmen des Nachteilsausgleichs wurden Regelungen getroffen, wie ich sie schon aus meiner Schulzeit kannte: M&uuml;ndliche Pr&uuml;fungen waren kein Problem, f&uuml;r schriftliche Klausuren erhielt ich 25 Prozent mehr Zeit &ndash; v&ouml;llig ausreichend. Reichte die Zeit dennoch einmal nicht, lag das eher an mangelndem Lernaufwand als an meiner Behinderung.</p>
<p>Bei den Praktika war mehr Kreativit&auml;t n&ouml;tig. Nach reiflicher &Uuml;berlegung entschieden wir uns f&uuml;r ein Modell, das den poetischen Namen &bdquo;Zuguckikum&ldquo; erhielt. Im Grunde war ich also w&auml;hrend der Praktika mit im Labor und schaute einer Gruppe Kommilitonen dabei zu, wie sie ihre Experimente durchf&uuml;hrten. Die dazugeh&ouml;rigen theoretischen Leistungen wie Vorkolloquien, Protokolle schreiben und Auswertungen am Computer etwa f&uuml;r die physikalische Chemie f&uuml;hrte ich dann selbst durch.</p>
<p>Es kann harte Arbeit sein, einen ganzen Tag lang anderen bei der Laborarbeit zuzusehen. Man muss aufpassen, dass die Konzentration nicht (im wahrsten Sinne) aus dem Fenster entschwindet. Dennoch erwies sich das Zuguckikum als erfolgreich.</p>
<p>Die Gruppe, in der ich eingebunden war, hatte sich bereits in der Orientierungswoche vor dem ersten Semester herauskristallisiert und blieb die ersten beiden Semester bestehen. Danach hatte ich wechselnde Laborpartner, die mich und meine Situation aber jeweils kannten und wussten, worauf sie sich einlie&szlig;en.</p>
<h2>Sicherheit im Labor</h2>
<p>Sicherheitsbedenken im Labor lie&szlig;en sich ebenfalls zerstreuen. Die meisten modernen Elektrorollst&uuml;hle haben eine Hubfunktion, sodass man auch im Rollstuhl auf eine Kopfh&ouml;he von ungef&auml;hr 1,60 m kommt. Damit ist man weit genug von der Laborbank entfernt und bei geschlossener Abzugscheibe ausreichend gesch&uuml;tzt. Elektrorollst&uuml;hle lassen sich f&uuml;r den Explosionsschutz komplett ausschalten.</p>
<p>Meine Gruppe und ich waren au&szlig;erdem in den Praktikumss&auml;len zumeist in der gr&ouml;&szlig;ten Box und m&ouml;glichst nah am Ausgang untergebracht. So konnte ich mich bei einem Alarm in den meisten F&auml;llen selbst aus der Gefahrenzone begeben. Sollte ich einmal &uuml;ber eine Treppe evakuiert werden m&uuml;ssen, stand ein Tragetuch bereit, wie es die Feuerwehr nutzt.</p>
<p>Heute befindet sich ein Evakuierungsstuhl in der N&auml;he meines B&uuml;ros. Wie sicher die Situation in den Praktika war, zeigt vielleicht die Tatsache, dass mein allererster Laborkittel aus dem Grundstudium nach wie vor einsatztauglich ist.</p>
<p>Im Hauptstudium kamen in den Praktika dann Vertiefungen in den verschiedenen Fachgebieten und Arbeitsgruppen dazu. Naturgem&auml;&szlig; ist man hier eng im Forschungsbetrieb eingebunden und in der Regel mit viel Laborarbeit besch&auml;ftigt. Ich konnte das, wo n&ouml;tig, in Form von Ersatzleistungen kompensieren. So bestand meine Vertiefungsleistung im Organikpraktikum darin, die Totalsynthese eines Naturstoffs zu planen. Im Anorganikpraktikum sollte ich einen Teil eines Antrags auf Forschungsgelder schreiben. Diese Ersatzleistungen kamen vom Arbeitsaufwand und von der Bearbeitungsdauer an die klassischen Vertiefungen meiner Kommilitonen heran.</p>
<h2>Mehr Theorie</h2>
<p>Meine Arbeit wurde mit fortschreitender Ausbildung immer theorielastiger. Ab der Diplomarbeit war ich nur noch vom PC aus t&auml;tig. Hierf&uuml;r wechselte ich nicht nur die Stadt, sondern sogar das Fachgebiet, und versuchte mich in der Arbeitsgruppe von Frank Brenker (Universit&auml;t Frankfurt, Fachbereich Geologie) an der Berechnung von Phasendiagrammen.</p>
<p>Seit der Promotion habe ich meine wissenschaftliche Heimat in der Computerchemie und der Arbeitsgruppe von Stefanie Dehnen gefunden. Hier komme ich mit allen f&uuml;r die Arbeitsgruppe relevanten Forschungsthemen in Ber&uuml;hrung. Durch diese vielf&auml;ltigen Einblicke vermisse ich das Labor (fast) &uuml;berhaupt nicht.</p>
<h2>Mir fehlt nichts</h2>
<p>Im Rahmen einer Diskussionsveranstaltung zum Thema Inklusion und Chancengleichheit in der Chemie wurde ich gefragt: Hast du das Gef&uuml;hl, ein gleichwertiges Studium absolviert zu haben? Diese Frage kann ich nur bejahen. Ich habe nicht das Gef&uuml;hl, dass mir in Bezug auf die Beurteilung meiner studentischen oder wissenschaftlichen Leistungen etwas geschenkt wurde. Solche &bdquo;Geschenke&ldquo; sehe ich als absolut inakzeptabel und als B&auml;rendienst an der Inklusion K&ouml;rperbehinderter in Gesellschaft und Wissenschaft. Ich betrachte mich als vollwertigen Chemiker und bin davon &uuml;berzeugt, meinen Beitrag bis hierher geleistet zu haben.</p>
<p>In meinem Fall und in Anbetracht der Schwere meiner Behinderung war der Weg zu rein theoretischem Arbeiten hin absehbar. Das muss aber nicht f&uuml;r alle Chemiker:innen mit K&ouml;rperbehinderungen gelten. Gerade f&uuml;r Personen mit einer Querschnittl&auml;hmung oder &auml;hnlichem und mit ausreichend Beweglichkeit in Armen und Oberk&ouml;rper w&auml;ren auch andere Modelle denkbar. Alles, was es hier br&auml;uchte, w&auml;re ein unterfahrbarer Abzug in einem Labor im Erdgeschoss (h&ouml;henverstellbare Laborarbeitspl&auml;tze richtet beispielsweise die Universit&auml;t Gie&szlig;en derzeit ein). Auch f&uuml;r Seh- oder H&ouml;rbehinderte sind L&ouml;sungen denkbar.</p>
<h2>Mit Kreativit&auml;t</h2>
<p>Die Herausforderung f&uuml;r Menschen mit Behinderung und f&uuml;r die, mit denen sie arbeiten, besteht in der Individualit&auml;t jeder Behinderung. L&ouml;sungen, die f&uuml;r mich passten, k&ouml;nnen f&uuml;r den n&auml;chsten AMCler &uuml;bertrieben oder nicht weitreichend genug sein. Hier ist Kreativit&auml;t gefragt. Die sollte gerade bei Chemikern vorhanden sein.</p>
<p>F&uuml;r diese Kreativit&auml;t und die Aufgeschlossenheit, die mir in meiner Laufbahn bis hierhin entgegengebracht wurde, bin ich unendlich dankbar. Das Ganze ist aber nat&uuml;rlich keine Einbahnstra&szlig;e. Als Rollifahrer muss ich manchmal Kompromisse machen und brauche etwas &Uuml;bung im Um-die-Ecke-Denken. Die meisten lernen das mit der Zeit aber automatisch.</p>
<p>Unsere Wissenschaftsdisziplin wird durch mehr k&ouml;rperliche Diversit&auml;t nicht nur in Sachen Soft Skills oder neuer didaktischer Konzepte profitieren. Manche, die eigentlich die intellektuellen F&auml;higkeiten h&auml;tten, trauen sich aufgrund der scheinbar fehlenden k&ouml;rperlichen F&auml;higkeiten nicht, eine naturwissenschaftliche Laufbahn einzuschlagen. Das muss sich &auml;ndern. Wenn wir bereits Sch&uuml;ler:innen mit Behinderung abholen und zeigen, dass es gehen kann, wenn man will, wird uns das ganz neue Potenziale erschlie&szlig;en.</p>
<h2>Der Autor</h2>
<p>Lukas Guggolz, Jahrgang 1985, ist seit 2020 Postdoc am Fachbereich Chemie der Universit&auml;t Marburg. Dort besch&auml;ftigt er sich mit quantenchemischen Untersuchungen anorganischer Cluster. Zwischen seinem Diplom und seiner Doktorarbeit in Chemie an der gleichen Uni studierte er Philosophie und Betriebswirtschaftslehre in Frankfurt. Foto: Jochen Mogk</p>
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