Gesellschaft Deutscher Chemiker

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Vom Interessanten zum Relevanten

Nachrichten aus der Chemie, September 2025, S. 18-20, DOI, PDF. Login für Volltextzugriff.

Von Wiley-VCH zur Verfügung gestellt

Wissenschaft ist Leidenschaft. Doch der absolute Fokus auf das eigene Forschungsthema, die eigene Perspektive verschiebt sich, wenn sich der Blick für das Außen öffnet.

An einem Sommerabend im Jahr 2013 saß ich in Shanghai bei einem Konferenzdinner. Ich war Nachwuchswissenschaftler, und mit mir speisten acht weitere Chemiker aus aller Welt. Wir sprachen über Wissenschaft, unseren Forschungsalltag, welche Konferenzen wir als nächstes besuchen wollten.

An diesem Abend wurde mir klar, wie unfassbar schön es als Wissenschaftler ist – und wie privilegiert: an spannenden Dingen arbeiten, interessante Orte sehen, dort auf Gleichgesinnte treffen. Wie dankbar können wir sein, dass uns Gesellschaften das ermöglichen. Zumal die meisten Menschen weder verstehen noch größeres Interesse daran haben, was wir eigentlich treiben. Man vertraut uns einfach. Billigt uns zu, dass wir schon irgendwie Gutes für die Menschheit tun wollen. Für unser aller Wohlstand. Unser Wohlbefinden. Und unser Wohlsein.

Was mich zur Chemie brachte

Warum bin ich Wissenschaftler geworden? Es kam einfach dazu. Ich fühle Ehrfurcht und Neugier gegenüber der Natur, und Moleküle faszinieren mich – umso mehr, je größer sie sind. Die imposantesten baut das Leben: Naturstoffe, Strukturbausteine, Biopolymere. All das fand und finde ich spannend. Wie etwa der Zusammenhalt der Moleküle zustande kommt. Wie sie miteinander wechselwirken. Und wie sie zu Größerem führen; sich zu Verbänden und komplexeren Einheiten zusammenfinden … und in höchster Eleganz dann weiter zu Zellen, zu Organen, zu Organismen, zu Leben. Und im Kern all dessen steht die Chemie.

Den Traum leben

Wie Caspar David Friedrichs Wanderer über dem Nebelmeer (Abbildung) ließ ich mich treiben. In meiner Doktorarbeit untersuchte ich, wie sich große Kettenmoleküle bewegen. Ich nutzte optische Methoden und Fluoreszenzlicht, um ihnen dabei zuzuschauen. Während dieser Jahre wurde mir klar, dass ich nie wieder etwas anderes machen wollte. Im Jahr 2015 erfüllte sich schließlich mein Lebenswunsch: Ich erhielt einen Ruf auf eine Universitätsprofessur. Ein Leben wie im Traum schien vor mir zu liegen. Forschen. Lehren. Ohne Sorge. Einfach so. Aus purer Faszination.

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Der Wanderer über dem Nebelmeer (ca. 1818) von Caspar David Friedrich. Autor Seiffert nutzt dieses Gemälde als Sinnbild für seine Forschung. Seiner Meinung nach illustriert dieses Gemälde akademische Wissenschaft am besten: „Ein erhabenes Fortschreiten ohne Zielmarken und Zeitvorgaben. Einfach selbst getrieben. Aus Tatendrang. Um Einblicke in den Nebel zu erhalten. Vereinzelt gibt die Natur ihre Geheimnisse preis. Und der Wanderer gibt sich dem hin. Einfach, weil es ihm genügt, Teil davon sein zu dürfen. Teil eines Wunders, das vielleicht nur ein Gemälde greifbar machen kann.“

Doch es kam anders.

Scientists for Future

Manche Schlüsseltage beginnen unscheinbar. So war es auch am Dienstag, den 5. November 2019. Ich hätte mir am Morgen dieses Tages nie träumen lassen, welche Auswirkungen er auf mein Leben haben sollte.

Gegen Mittag checkte ich meine Mails und fand darin eine Nachricht, die über meinen damaligen Institutsverteiler kam. Sie stammte von den Scientists for Future und rief Hochschullehrende dazu auf, sich am Freitag, den 29. November 2019, an einer Aktion namens Lectures for Future zu beteiligen. Die damals sehr aktive Bewegung Fridays for Future hatte für diesen Tag einen globalen Klimastreik geplant, und die ihr nahestehenden Scientists for Future regten dazu an, reguläre curriculare Lehrveranstaltungen an diesem Tag durch Sonderstunden zum menschengemachten Klimawandel zu ersetzen – gern mit Bezug zum eigenen Fachthema. Ich fand die Aktion gut und beschloss mitzumachen. Wie jeden Freitag stand an diesem Tag ohnehin meine Grundvorlesung Physikalische Chemie auf dem Plan, und dort passt das Thema generell gut rein.

Ein unsanftes Aufwachen

Als ich mich ins Thema Klimawandel einarbeitete, machte es Klick. Zum ersten Mal wurde mir klar, dass sich das Erdklima in den letzten nur knapp 200 Jahren so stark erwärmt hatte wie zuvor in gut 11 000 Jahren nicht. Dass wir uns damit aus der wohligen Epoche des Holozäns herauskatapultieren, in der die Menschheit durch ein mildes und vor allem stabiles Klima erst in die Lage geriet, sesshaft und arbeitsteilig zu werden. Weil eben dies erst all das ermöglichte, was unsere Zivilisation ausmacht – inklusive Bildung, Universitäten, Wissenschaft und Forschung. Erst wenn die Frage „Wo gibt’s was zu essen?“ beantwortet ist, öffnet sich Raum für alles weitere.

Mir wurde klar, dass genau das jetzt auf dem Spiel steht. Dass es um nicht weniger geht als um die Frage, ob Landwirtschaft künftig noch funktionieren wird. Dass es Kippelemente im Erdsystem gibt, hauptsächlich in Form seiner Eiskörper, seiner Ökosysteme und seiner Strömungssysteme, die – einmal angestoßen – epochale Veränderungen hervorrufen. Und dass, um all dies abzuwenden, bereits fast alle Handlungsfenster geschlossen sind.

Was Schwellenwerte bedeuten

Mir wurde klar, was 1,5 Grad bedeuten. Ein Schwellenwert für die globale Erwärmung, den nicht zu überschreiten sich die Weltgemeinschaft im Dezember 2015 in Paris vorgenommen hatte. Der Wert soll desaströse Verluste in Ökosystemen und der planetaren Biodiversität zumindest einigermaßen begrenzen. Und das Risiko für besagte Kippszenarien vertretbar halten.

1,5 Grad sind ein Kompromiss. Physikalisch geboten wäre ein noch niedrigerer Wert; politisch möglich war maximal dieser. Erst jetzt wurde mir klar, dass selbst das für Teile der Welt schon das Ende dessen bedeutet, was wir kennen – und für einige sogar das Ende der Welt überhaupt. Dass diese niedrige mittlere Temperaturschwelle auch für uns in Deutschland völlig veränderte Zustände bedeutet. Und dass selbst das wohl nicht mehr erreichbar ist. Seit inzwischen genau zwei Jahren jedenfalls liegen wir bereits darüber. Der Gehalt an Treibhausgasen in der Atmosphäre ist so hoch wie seit schier unfassbaren Zeiten nicht. Es ist kein Budget mehr dafür übrig.

Diese Erkenntnis schockierte mich. Es dauerte Jahre, dies zu verarbeiten. Und einen neuen Kurs für mich zu finden.

Ich kann heute nicht mehr einfach nur aus Faszination vor mich hin forschen. Das wäre, wie in einem brennenden Haus in Ruhe eine Briefmarkensammlung anzuschauen. Albert Einstein soll gesagt haben: „Diejenigen, die das Privileg haben zu wissen, haben die Pflicht zu handeln.“ Ich würde dem an die Seite stellen: „Jedes Handeln bestimmt die Zukunft; auch jedes Nichthandeln.“ Und beides betrifft ganz besonders uns Akteure im Wissenschaftsbetrieb. Unser Privileg ist kaum in Worte zu fassen. Unser Wissen ist groß. Und unsere Handlungsmöglichkeiten sind es im Prinzip auch.

Verschiedene Perspektiven

Kürzlich habe ich auf Bluesky gepostet: „Die Zeiten, in denen Forschung zu jedem Thema erstmal spannend und legitim war, sind vorbei. Heute ist alles, was nicht hilft, den Kollaps von Klima, Biosphäre und Demokratien abzumildern, bloß nice to have.“ Ich erntete dafür viel Kritik. Was ich mir denn anmaßen würde, darüber entscheiden zu wollen, welche Forschung wichtig sei und welche nicht.

Aus der Perspektive meines eigenen Selbst von vor zehn Jahren kann ich diese Kritik sogar gut nachvollziehen. Aus heutiger Sicht und Kenntnis allerdings komme ich zu genau dieser Aussage. Die Welt kollabiert. Essenzielle Teile des Erdsystems sind mitten in kritischen Übergängen. Es ist unübersehbar durch Fluktuationen im Kleinen und Großen. Gesellschaftliche Spannungen nehmen zu. Und all dies stellt die Basis jeder Forschung, ja von Forschung an sich infrage. Eine Welt im Klimachaos, im Kollaps ganzer Ökosysteme, im Verlust jeder Planbarkeit beim Anbau von Nahrungsmitteln und in politischen Wirren ist nicht wissenschaftsfreundlich. Es gibt darin keine relevante und irrelevante Forschung – sondern letztlich wohl schlicht gar keine mehr.

Natürlich ist jede Form von Forschung prinzipiell gut und wichtig. Ob sie mal einen Nutzen bringt, lässt sich anfangs oft nicht beurteilen. Und auch wenn nicht, so ist sie dennoch um ihrer selbst willen legitim. Allein schon, um die wissenschaftliche Arbeitsweise weiterzugeben. Doch es macht einen Unterschied, ob ich dies bei einem netten Konferenzdinner an einem lauschigen Sommerabend betrachte oder auf dem Deck der sinkenden Titanic. Forschung findet in einem Gesamtkontext statt. Und das ist nicht mehr das Idyll des Wanderers über dem Nebelmeer.

Eine neue Realität

Ich selbst habe mich in den vergangenen Jahren Stück für Stück von meinem früheren Forschungstraum verabschiedet. Noch immer faszinieren mich Makromoleküle. Aber jetzt für eine ganz konkrete Frage: Wie können sie uns helfen in der Welt, auf die wir zusteuern?

Ich habe für meine eigene Forschung dazu Wassertechnologien identifiziert. In einem zuletzt vom Forschungsministerium geförderten Projekt namens Hydrodesal, das ich in Mainz koordiniere, erarbeiten wir Hydrogel-basierte Lösungen, um Meerwasser zu entsalzen. Das soll zur Selbstversorgung einzelner Haushalte und Kleinsiedlungen in wirtschaftlich schwachen Regionen beitragen.

Der Prozess ist durch den regelmäßigen Tag-Nacht-Wechsel getrieben: Temperaturempfindliche Hydrogele quellen in Meerwasser bei Nacht und entsalzen es dabei, indem sie nur Wasser, aber nicht Salz aufnehmen. Bei Tag entquellen sie wieder und setzen das aufgenommene Frischwasser zur Nutzung frei.

Wir können damit nicht die Welt retten. Aber wir können Beiträge liefern. Nicht, weil die Forschung interessant ist. Sondern weil sie relevant ist. Und zwar schlicht, um Menschlichkeit zu erhalten. Es ist das vielleicht Beste, was ein Mensch tun kann.

Ich finde, dies sollte nun Aufgabe jeder Forschungsambition sein. Die Zeiten, in denen Forschung einfach nur interessant sein und Spaß machen durfte, sind vorbei. Natürlich wünsche ich mir das anders. Doch wir müssen realistisch sein. Viel von dem, was uns als menschliche Zivilisation ausmacht, wird gerade zerstört. Nun gilt es zu retten, was zu retten ist – allem voran die Menschlichkeit. Und die Zivilisiertheit.

Was immer dabei hilft, wird gebraucht. Alles andere fände ich … nicht wissenschaftlich.

Der Autor

Sebastian Seiffert, Jahrgang 1979, ist Professor für Physikalische Chemie an der Universität Mainz. Dort ist er Sprecher mehrerer Forschungsverbünde, unter anderem eines Sonderforschungsbereichs in den Materialwissenschaften. Seiffert ist Autor mehrerer Lehrbücher, und seine Arbeiten wurden mit Preisen etwa der GDCh, der ADUC und des Stifterverbands ausgezeichnet. Neben Forschung zu Polymer-Wassertechnologien engagiert er sich an der Schnittstelle von Wissenschaft und Gesellschaft und verbindet dies mit öffentlicher, teils sehr persönlicher Reflexion.https://eu-central-1.graphassets.com/Aype6X9u2QGewIgZKbFflz/cmewbe4p0h8wv07rvoxqhe861

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