Ende Mai erhaschten Interessierte weltweit einen Blick in den Elfenbeinturm: In 27 Ländern gleichzeitig fand das Pint-of-Science-Festival statt, bei dem Forschende in Kneipen und Cafés ihre Erkenntnisse präsentieren. Dazu gehö...
Artikel
Vom Gedanken zur Geschichte
Von Wiley-VCH zur Verfügung gestellt
Wie kommt eigentlich ein wissenschaftsjournalistischer Beitrag zustande? Wahrscheinlich gibt es so viele Vorgehensweisen wie Autor:innen. Wie das bei unserem Multirubrikenautor Michael Groß funktioniert – der für diesen Heftteil sonst die Blickpunkte Biowissenschaft schreibt –, erläutert er hier.
Zunächst einmal muss ich ein Thema haben, über das ich schreiben kann. Um das zu finden, filtriere ich jede Menge Informationen aus den Medien, vor allem aber die wissenschaftlichen Pressemitteilungen von EurekAlert. Diese Website wird von der AAAS (American Association for the Advancement of Science) betrieben, der US-Organisation, die auch das Journal Science herausgibt.
Dadurch sind natürlich die Forschungsarbeiten benachteiligt, die nicht per Pressemitteilung beworben werden. Aber die Menge der wissenschaftlichen Journale und der darin erschienenen Arbeiten ist heutzutage einfach nicht mehr handhabbar. Selbst wenn ich wie vor 30 Jahren in der Bibliothek sitzen und die Inhaltsverzeichnisse der Zeitschriften durchstöbern würde, wäre es immer noch eine willkürlich entstandene Stichprobe der aktuellen Forschung, die ich zu sehen bekäme.
Social Media durchstöbern
Zudem versorgen mich die sozialen Medien mit Rohmaterial zum Filtrieren. Bis vor wenigen Jahren war Twitter nahezu unentbehrlich auch für die Wissenschaftskommunikation. Aufgrund der neueren Entwicklungen und der Konversion in X filtriere ich aber inzwischen bei Mastodon, mit einer Brücke zu Bluesky.
Das Thema, das ich jetzt gerade bearbeite, entdeckte ich auch auf Mastodon, wo ich unter anderem einigen Althistoriker:innen folge. Dort fand ich einen Verweis auf einen journalistischen Beitrag von Andrew Curry in Science: “Most Phoenicians did not come from the land of Canaan, challenging historical assumptions. Culture with biblical roots spread across the ancient world, but its people did not.”
Das hörte sich schon mal interessant an – denn zum einen ist es immer spannend, wenn die Sequenzierung alter DNA unser Verständnis der Geschichte und Vorgeschichte überprüft oder verändert. Zum anderen ist die Sache mit der kulturellen Identität, die nicht unbedingt mit der genetischen Identität übereinstimmt, ja wieder hoch aktuell. Insbesondere auch im Zusammenhang mit Menschen, die über das Mittelmeer schippern.
Nun ist die Sache mit der genetisch nicht nachweisbaren Identität zwar spannend, aber nicht besonders überraschend, denn ähnliche Befunde gibt es auch etwa für die Kelten und die Franken. Also brauche ich ein übergreifendes Thema, für das die alten Phönizier einen Aufhänger darstellen können.
Migration wäre ein solches Thema, konkret: das Mittelmeer als Drehscheibe der Migration in der Vor- und Frühgeschichte. Das ist für uns Heutige auch relevant, weil ja manche so tun, als wäre es völlig unnatürlich, dass Menschen migrieren.
Also habe ich mal nachgeschaut, was EurekAlert unter dem Stichwort “Mediterranean” in letzter Zeit an entsprechenden Forschungsnachrichten verbreitet hat. In den letzten zwölf Monaten finden sich acht passende Pressemitteilungen. Mit den Überschriften und Links habe ich dann meinen Themenvorschlag ausstaffiert, den ich an den Chefredakteur von Current Biology schickte. Dies ist der alles entscheidende Schritt – der richtige Vorschlag für das richtige Journal, der dann ohne Beanstandung durchgeht.
Was entscheidend ist
Hier entscheidet sich die Richtung der wissenschaftsjournalistischen Laufbahn. Bei New Scientist hatte ich zum Beispiel Features vorgeschlagen, nachdem ich einige andere Formate in der Zeitschrift hatte, und kam nicht zum Zug. Bei Chemistry World hatte ich einige Features zusätzlich zu regelmäßigen Kurzbeiträgen, aber nach einem Personalwechsel in der Redaktion war’s mit dem Glück vorbei.
Man muss außerdem abwägen, wie viel man in ein Thema investieren will, bevor man weiß, ob überhaupt etwas daraus wird. Der Vorteil einer langjährigen Zusammenarbeit mit einem Medium ist der, dass die Kolleg:innen dort auch aus einem mageren Vorschlag schon erkennen können, was wahrscheinlich daraus werden wird. Das spart mir somit den Aufwand, vorab alle Texte vollständig zu lesen und Ideen zu formulieren.
Wirklich an die Arbeit geht es also dann, wenn das Thema angenommen ist. Um etwas Ordnung in den Wust zu bringen, habe ich die acht Artikel erst einmal chronologisch nach der Zeit geordnet, von der die Befunde handeln. Der Zeitrahmen reicht von 50 000 Jahren – hier erleichterten unsere Steinzeit-Vorfahren bestimmten Adlern, sich im Mittelmeerraum anzusiedeln – bis hin zu Ausgrabungen im Nordwesten Marokkos, die eine Besiedlung bis 600 vor unserer Zeitrechnung belegen.
Wo anfangen?
Die alten Phönizier-Genome decken einen Zeitrahmen von 600 bis 200 v. Chr. ab. Also denke ich mir, ich fange mit diesem aktuellen Thema an, und arbeite mich anschließend tiefer in die Vergangenheit vor. Als einführenden Vorspann habe ich einige Absätze über das Mittelmeer als Raum der Geschichte, Kultur und Migration verfasst, ehe es dann ganz auf die Reise in die Vergangenheit geht.
Aus dem Phönizier-Paper “Punic people were genetically diverse with almost no Levantine ancestors” kann ich leicht eine Geschichte destillieren, die auch für heutige Gegebenheiten relevant ist, etwa die Diskussionen über Migration und Identität. Obwohl ich für Biolog:innen schreibe, gehe ich nicht detailliert auf die Methoden der Genomforschung ein. Die Biologie ist ja ein weites Feld, und für Manche aus Teilgebieten wie Ökologie oder Psychologie ist die Genetik oder Genomforschung so fremd wie etwa für das Lai:innenpublikum einer Tageszeitung. Ich beschränke mich also darauf, zu vermitteln, was uns die alte DNA über die Menschen der Antike verrät.
Wie und wann genau sich die Phönizier über das westliche Mittelmeer verbreiteten, wird aus den DNA-Untersuchungen nicht klar, weil Verstorbene in den phönizischen Kolonien bis 600 v. Chr. verbrannt wurden. Doch das Ergebnis ist klar: Die phönizische Kultur in Karthago und im gesamten westlichen Mittelmeerraum wird von Menschen getragen, die fast keine phönizische DNA tragen. Eine offene Kultur also, die aus dem Umland der jeweiligen Kolonien Einheimische aufnahm und integrierte. Mit dieser Geschichte habe ich schon knapp ein Drittel der geplanten Länge ausgefüllt (600 von 1900 Wörtern).
Der Artikel wächst
Weiter geht’s tiefer in die Vergangenheit und vorzugsweise etwas knapper, um noch mehrere der anderen Arbeiten unterbringen zu können. Ich konzentriere mich jetzt auf die Publikationen, die die Erstbesiedlung von Inseln im Mittelmeer behandeln. Dies ist nicht nur für die menschliche Geschichte relevant, sondern auch für die Ökologie und Naturgeschichte: Denn die Ankunft von jagenden und/oder Landwirtschaft betreibenden Menschen hat meist die Natur der Inseln stark gestört und etliche Arten ins Aussterben getrieben.
Nächste Station auf der Reise in die Vergangenheit ist Mallorca. Obwohl heute die Lieblingsinsel deutscher und anderer Tourist:innen, zählte Mallorca zu den letzten Inseln, die von Menschen besiedelt wurden, und zwar erst vor wenigen tausend Jahren. Sicher wissen wir, dass vor 4400 Jahren Menschen dort lebten, nicht zuletzt weil sie das örtliche Großwild, die Höhlenziege Myotragus balearicus, ausrotteten und durch Schafe ersetzten. In der Chronologie der Knochenfunde gibt es nur eine kleine Lücke zwischen den ältesten Schafknochen und den jüngsten Knochen der Höhlenziege.
Eine neue Arbeit verschiebt die Zeitgrenze um mehr als tausend Jahre und verkündet das schon im Titel mit vorbildlicher Klarheit: “Submerged bridge constructed at least 5600 years ago indicates early human arrival in Mallorca, Spain.” Zu dieser Erkenntnis führte eine Untersuchung von Kalkablagerungen auf einer Steinbrücke, die sich in einer Höhle befindet, die seit 5600 Jahren unter dem Meeresspiegel liegt. Ein interessanter Indizienbeweis, der sich mehr auf Chemie stützt als die meisten anderen archäologischen Untersuchungen.
Die Insel Malta wiederum erzählt uns eine ganz andere Geschichte. Bisher galt es als sicher, dass sie erst mit dem Einzug der Landwirtschaft im Mittelmeerraum besiedelt werden konnte, also vor etwa 7500 Jahren. Eine neue Arbeit beschreibt hingegen eine Fundstelle mit unzähligen Belegen für die Anwesenheit von Jäger:innen und Sammler:innen vor rund 8500 Jahren: Aus den zahlreichen Überresten von Tier- und Pflanzenmaterial lässt sich eine komplette Speisekarte der maltesischen Urbevölkerung rekonstruieren.
Kerninhalte auf den Punkt bringen
Der Clou dieser Geschichte ist allerdings ein anderer. Das hebt auch der Titel der Publikation hervor: “Hunter-gatherer sea voyages extended to remotest Mediterranean islands.” Um die Insel Malta erst einmal zu erreichen, müssen diese Menschen in Kanus rund 100 Kilometer weit gepaddelt sein. Solche sportlichen Leistungen und die dafür erforderlichen Navigationsfähigkeiten kennen wir aus dem Südpazifik, aber bisher nicht im Mittelmeer. Dort wurden die Schiffbau-Techniken, die das Altertum auf dem Seeweg mobil machten, erst von den Phöniziern erfunden, mit Neuerungen wie der, Schiffsplanken wasserdicht zu verfugen.
Die an sich recht gewöhnliche Entdeckung von Kochgeschirr und Essensresten in einer Höhle hat also die Landkarte der Steinzeit verändert, da Seereisen offenbar möglich waren.
Zuvor hatten Steinzeitmenschen bereits die Insel Zypern besiedelt – die leichter zu erreichen ist als Malta und auch groß genug, um eine bescheidene Bevölkerung zu ernähren. Wie auf vielen anderen Inseln machte sich die Ankunft der Jagenden und Sammelnden in der Ausrottung der heimischen Großwildarten bemerkbar. Ein kleines Nilpferd (Phanourios minor) und der Zwergelefant (Palaeoloxodon cypriotes) fielen wahrscheinlich innerhalb eines Jahrtausends der Jagd zum Opfer, wie eine Modellstudie jetzt plausibel macht. Obwohl es sich nur um eine mathematische Bestätigung des prinzipiell Möglichen handelt, nimmt der Titel der Publikation kein Blatt vor den Mund: “Small populations of Palaeolithic humans in Cyprus hunted endemic megafauna to extinction.” Da muss ich als kritischer Reporter doch sehr viel deutlicher herausstellen, dass es lediglich so gewesen sein könnte.
Die vermutlich am frühesten besiedelte größere Insel ist Sizilien – und dabei ist sie erstaunlich spät dran, verglichen etwa mit der Ankunft der Menschen in Sibirien oder Australien. Unstrittige Belege gibt es erst vor 16 000 Jahren und alle an der Nordküste der Insel. Ein Forschungsprojekt, das sich im Anfangsstadium befindet, soll jetzt nach früheren Spuren an anderen, bisher vernachlässigten Orten suchen, unter anderem am Meeresboden. Ein erster Fortschrittsbericht erschien vor kurzem unter dem Titel: “Between land and sea: A multidisciplinary approach to understand the Early Occupation of Sicily (EOS).”
Die Dauer der Reise
So hat sich mit der Chronologie als rotem Faden und der urzeitlichen Seefahrt im Mittelalter als Leitmotiv eine Zeitreise ergeben, die nicht nur zu geografisch diversen Zielen führte, sondern auch verschiedene wissenschaftliche Methoden und Fragen einbinden konnte.
Das Aufschreiben der Reise hat mich etwa drei Arbeitstage gekostet – wobei der erste noch als Warmlaufen gilt, mit dem Ersinnen der Überschrift, des Vorspanns und der Einleitung. Die Einleitung gibt die Richtung für den Rest des Artikels vor, der dann an den beiden anderen Tagen vor dem Abgabetermin eher von selbst entsteht – obwohl ich natürlich immer mal wieder Details, Zahlenwerte, Namen und Institutionen nachschlagen muss. Das ist etwa so, als ob ich eine Geschichte weitererzähle, die mir jemand anders erzählt hat. Oder fünf Geschichten in diesem Fall. Die eigentliche Arbeit ist das Finden der Geschichten, die ich im Sinne meines Mottos “Only connect!” miteinander verbinden kann, und die zueinander, zum Medium und zum Publikum passen. Erzählen geht dann ganz von selbst.
Wer den Beitrag lesen möchte, dessen Entstehung Michael Groß hier beschreibt, findet ihn hier: Curr. Biol. 2025, 35(13), R639–R641
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