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Trendbericht Analytische Chemie 2024
Von Wiley-VCH zur Verfügung gestellt
Mehrdimensionale Trenntechniken sowie Kopplungstechniken verbessern weiter die Auflösung in der Analytik. In der Elementanalytik beeindrucken neue Entwicklungen der Massenspektrometrie mit induktiv gekoppeltem Plasma, in der Archäometrie zerstörungsfreie In-situ-Analysen. Der 3-D-Druck treibt die elektroanalytische Forschung voran, und die Prozessanalytik setzt auf Lab-on-a-Chip und vermeldet Neues bei der Raman-Spektroskopie mit Flüssigkernlichtleitern.
Trenntechniken
Bei den analytischen Trenntechniken streben Weiterentwicklungen vor allem nach höherem Probendurchsatz oder nach mehr Auflösungsvermögen. Ersteres wird beispielsweise durch schnellere und maßgeschneiderte Trennungen adressiert; bei komplexen Proben verfolgen mehrdimensionale Trenntechniken und Kopplungstechniken das Ziel des gesteigerten Auflösungsvermögens, insbesondere Kopplungen mit der hochauflösenden Massenspektrometrie (HRMS). Diese instrumentellen Weiterentwicklungen erschließen auch neue Anwendungsfelder.
Überkritische Fluidchromatographie
Die überkritische Fluidchromatographie (supercritical fluid chromatography, SFC) hat in letzter Zeit wegen ihrer hohen Effizienz und besseren Umweltverträglichkeit viel Aufmerksamkeit erregt. Überkritische Fluide wie CO2 substituieren dabei nicht nur organische Lösemittel, sondern verkürzen auch Analysen- und Equilibrierzeiten. Die geringe Viskosität von reinem CO2 und von CO2-Lösungsmittel-Mischungen ermöglicht höhere Flussraten bei kleinen Partikeln und damit eine Effizienzsteigerung.
Der zur Ultrahochleistungsflüssigchromatographie (ultra high performance liquid chromatography, UHPLC) analoge Trend existiert auch in der SFC: Wegweisende Arbeiten mit der UHPSFC führte die Gruppe um Holćapek in der Lipidforschung durch. Mit Gradientenelution in Verbindung mit einer polaren stationären Phase mit sphärischen 1,7-µm-Partikeln detektierte und quantifizierte sie mit UHPSFC-MS gleichzeitig unpolare (zum Beispiel Triglyceride) und polare Lipidklassen (zum Beispiel Phospholipide) in weniger als sechs Minuten, was den Einsatz in der klinischen Forschung möglich macht.1)
CO2 in der mobilen Phase hat zudem den Vorteil, dass sich der Polaritätsbereich der zu trennenden Analyten deutlich erweitern lässt.
Diese Flexibilität wurde kürzlich ausgenutzt, um ein Konzept für eine generische Dual-Gradient-Unified-Chromatography-Methode zu entwickeln. Durch die automatisierte dynamische Modulation der mobilen Phase mit CO2, organischen Zusätzen und wässrigen Puffern trennten die Autoren simultan sowohl kleine als auch große Moleküle über einen weiten Polaritätsbereich, darunter synthetische Zwischenstufen, Nukleoside, cyclische und lineare Peptide, Proteine sowie Antikörper-Wirkstoff-Konjugate, und wiesen die Verbindungen photometrisch sowie massenspektrometrisch nach.2)
Mehrdimensionale chromatographische Trenntechniken
Bei der Analyse sehr komplexer und heterogener Proben kommt die eindimensionale Chromatographie oftmals an ihre Grenzen. Folglich besteht hier der Trend, zu mehrdimensionalen Techniken überzugehen. Die Auflösung wird maximiert, indem man zwei Trennmodi mit maximalen Selektivitätsunterschieden kombiniert. Zudem soll möglichst nicht nur ein Teil des Eluats der ersten auf die zweite Dimension überführt werden (Heart-cut-Ansatz), sondern das gesamte Chromatogramm (Comprehensive-Ansätze).
In der Dünnfilm-Gaschromatographie, deren Trennleistung inhärent sehr hoch ist, lassen sich sogar mehrere hundert Komponenten basisliniengetrennt analysieren, wenn zwei orthogonale Trennsäulen kombiniert werden. Die Gruppe um Zimmermann zeigte kürzlich das große Potenzial der GCxGC-Technik bei der chemischen Charakterisierung komplexer Arzneimittel.3) Die Autoren detektierten dabei zusätzlich mit hochauflösender MS (GC×GC-HRMS) und demonstrierten am Beispiel von Natrium-Bituminosulfonat, wie leistungsfähig diese Methodik ist. Das komplexe Wirkstoffgemisch, das zum Großteil aus sulfonierten Thiophenderivaten besteht und zur Behandlung von Hautkrankheiten eingesetzt wird, ließ sich im Detail untersuchen; mehr als 500 Peaks wurden nicht nur den Substanzklassen zugeordnet, sondern auch nach ihrer elementaren Zusammensetzung klassifiziert. Es wurde folglich ein umfassendes Profil des Wirkstoffs erstellt.
Bei nicht unzersetzt verdampfbaren Verbindungen kommt die HPLC ins Spiel. Auch hier lässt sich ein Trend zu Comprehensive-Ansätzen beobachten (LC×LC). Die Methodenentwicklung ist hier jedoch wesentlich komplexer, da unter anderem sicherzustellen ist, dass die mobilen Phasen beim Übertrag von der ersten auf die zweite Dimension kompatibel sind. Schleifenmodulatoren mit aktiver Lösungsmittelmodulation erweitern hier die Kombinationsmöglichkeiten.4)
Diesen Ansatz führte kürzlich die Gruppe um Schmitz konsequent weiter: Sie führte die Multi-2-D-LC×LC ein und steigerte die Orthogonalität und Peakkapazität bei hochkomplexen Proben nochmals.5) Der Ansatz beruht auf der HPLC-Trennung an einer Pentafluorphenyl-modifizierten stationären Phase (Abbildung 1). Nach Lösungsmittelanpassung und Sammeln im Schleifenmodulator wird das Eluat der ersten Dimension zunächst mit hydrophiler Interaktionschromatographie (HILIC) und danach mit Umkehrphasen-LC auf einer C18-Säule analysiert – somit wird die Probe umfassend chemisch charakterisiert, ohne dass im Vorhinein eine aufwendige Methodenentwicklung nötig ist.
Im Vergleich zu diesem eher generischen Ansatz lässt sich die LC×LC auch maßschneidern, beispielsweise um Enantiomere zu bestimmen. Die Gruppe um Lämmerhofer beschrieb kürzlich einen Ansatz basierend auf der Kombination einer Umkehrphase mit einer chiralen Säule, wodurch eine enantioselektive Analyse von Aminosäuren aus dem Peptidhormon Octreotid möglich wurde. Dieser 2-D-Ansatz umgeht den Nachteil der geringen Chemoselektivität chiraler Phasen und der damit einhergehenden Koelutionen, insbesondere bei komplexen Proben.6)
Ionenmobilitätsspektrometrie- Massenspektrometrie
Das Auflösungsvermögen enorm steigern lässt sich auch mit Ionenmobilitätsspektrometrie (IMS). Die IMS hat den Vorteil, dass die Trennung in wenigen Millisekunden abgeschlossen und somit zeitlich kompatibel mit der Flugzeit-MS-Detektion ist. Die IMS-MS-Kopplung hat sich technisch in den letzten Jahren enorm weiterentwickelt, sodass neue Anwendungsfelder entstehen. Beispielsweise lassen sich komplexe biologische Proben im Detail mit der Trapped-ionMobilitätsspektrometrie (TIMS) in der mobilitätsaufgelösten MS/MS-Analyse aufklären. Rudt et al. zeigten kürzlich, wie vorteilhaft die Technik ist, um Lipidextrakte mit HILIC-IMS-MS/MS zu charakterisieren.7)
Die Gruppe um Neusüß demonstrierte eindrucksvoll die Leistungsfähigkeit der Kopplung von Kapillarelektrophorese-IMS und MS bei der Analyse eines tryptischen Proteinhydrolysats. Die hohe Orthogonalität beider Trenntechniken offenbart auch in weiteren Anwendungsfeldern großes Potenzial.8)
Diese ausgewählten Beispiele zeigen, wie dynamisch sich die Trenntechniken entwickeln, insbesondere beim Analysieren hochkomplexer Gemische. Die Ansätze basieren auf neuen Selektivitäten und effizienteren Trennungen (zum Beispiel mit überkritischen Fluiden), umfassender Chromatographie (GCxGC, LCxLC) und nicht zuletzt auf der Kopplung mit der IMS-MS (zum Beispiel HPLC-IMS-MS oder CE-IMS-MS); damit wird eine bislang unerreichte Informationstiefe erreicht.
Heiko Hayen,
Universität Münster
Elementanalytik
Neue Entwicklungen in der Elementanalytik beeinflussen mehrere zentrale wissenschaftliche Disziplinen. Besonders beeindruckt die Entwicklung und Vielseitigkeit der Massenspektrometrie mit induktiv gekoppeltem Plasma (ICP-MS). Seit ihrer kommerziellen Einführung vor etwa 40 Jahren entstanden – angetrieben durch Kopplungstechniken und neue Technologien – Verfahren, die die Speziationsanalytik, die Bildgebung mit Laserablation (LA-ICP-MS) und die Einzelpartikelanalytik (single particle(SP)-ICP-MS) deutlich vorangetrieben haben.
In den letzten Jahren gewann besonders die Flugzeitmassenspektrometrie (time-of-flight, TOF) für die ICP-MS an Relevanz und bietet Chancen, die Grenzen zu verschieben, insbesondere in der LA- und SP-ICP-MS (Abbildung 2). Letzteres lässt sich auf die Detektion einzelner Zellen übertragen, was vor allem in den medizinischen Wissenschaften rasant an Bedeutung gewinnt. Das Verfahren ist dort in Verbindung mit metallmarkierten Antikörpern als Massenzytometrie bekannt.
Partikelcharakterisierung
Die Einzelpartikelanalytik verwendet zunehmend den TOF-Massenanalysator, da dieser die schnelle Aufnahme (>10 kHz) ganzer Massenspektren erlaubt. Mit der ICP-TOF-MS lässt sich die elementare Zusammensetzung einzelner Partikel bestimmen. Dies eröffnet neue Perspektiven, um beispielsweise verschiedene Arten von Nanomaterialien zu unterscheiden und diese anschließend separat zu erforschen. Oft kategorisiert als natürlich oder anthropogen, unterscheiden sich die Klassen von Partikeln oft in ihrem Elementfingerabdruck. In Verbindung mit einer gezielten statistischen Auswertung lässt sich beispielsweise entschlüsseln, wie und wo Partikel entstanden sind.9,10)
Neben der kompositorischen und gezielten Erforschung einzelner Partikel erlaubt es die TOF-Technik auch, unbekannte Proben in Non-Target-Screenings zu untersuchen.11) Es ist daher zu erwarten, dass die ICP-TOF-MS bei Umwelt- und Biomonitoringstudien interessant werden wird. Bei der ICP-Quadrupol-MS setzt sich der Trend der letzten Jahre fort: Die Zeitauflösung der SP-ICP-MS verbessert sich stetig (von Millisekunden zu Mikrosekunden), und erste Konzepte mit Nanosekunden-Zeitauflösung wurden publiziert.12)
Ein häufig genannter Nachteil der Einzelpartikelanalytik mit TOF ist ihre Sensitivität, die im Vergleich zu Quadrupol-basierten Instrumenten bisher niedriger ist. Das macht es schwierig, kleine Partikel und kleine Elementmassenanteile in Partikeln zu erfassen und zu charakterisieren. Allerdings bietet die simultane Messanalytik Möglichkeiten, die Performance zu steigern. Etwa lassen sich Isotopensignale polyisotopischer Elemente akkumulieren; auch kann der Massenbereich gezielt eingeschränkt werden, um den Duty Cycle zu erhöhen.13)
SP-ICP-MS erschloss in den letzten Jahren eine überraschende Partikelklasse: Bolea Fernandez et al. detektierten und charakterisierten mit einer Quadrupol-basierten Methode Mikroplastikpartikel über den enthaltenen Kohlenstoff.14) Bisher reichen die Nachweisgrenzen nicht aus, um auch Nanoplastik zu erfassen. Hier kann das gezielte Markieren der Mikroplastikpartikel mit Metallen die Partikelnachweisgrenzen verbessern.15)
Ein Bild sagt mehr als tausend Worte
Auch in der bildgebenden Massenspektrometrie mit LA-ICP-MS gewinnt der TOF-Massenanalysator an Bedeutung. Hier wurden zuletzt neue Ablationskammern entwickelt, die das Aerosol der Laserpulse in weniger als einer Millisekunde in das Plasma transportieren. Damit erhöhen sich das Signal-zu-Rausch-Verhältnis und der Probendurchsatz substanziell.16)
Da Quadrupole auf einer Zeitskala im unteren ms-Bereich operieren, sind diese zunehmend limitiert, das Signal einzelner Ablationsevents für mehrere Elemente zu analysieren. Diese Limitierung trifft TOF-basierte Instrumente nicht, da sich der gesamte Massenbereich mit einer Pixelaufnahmerate im kHz-Bereich aufnehmen lässt. Für viele Anwendungen überwiegen daher die Vorteile eines LA-ICP-TOF-MS-Systems. So ließ sich in hochreinen antarktischen Eisbohrkernen die Verteilung von Spurenstoffen mit LA-ICP-TOF-MS in vergleichbarer Qualität zu LA-ICP-QMS abbilden (Abbildung 3).17)
Auch wenn sich mit ICP-MS die meisten Elemente des Periodensystems bestimmen lassen, gibt es Vertreter, die der Methode unzugänglich sind. Ein prominentes Beispiel war bis vor kurzem Fluor – das Element wurde jetzt allerdings mithilfe eines Modifiers detektierbar. Aufbauend auf Techniken, die in den letzten Jahren für die Speziations- und Einzelpartikelanalytik entwickelt wurden, ermöglichte es das Zuleiten eines feuchten Ba2+(aq)-Aerosols zwischen Laserablation und ICP-MS, dass sich BaF+ bildete, was sich dann für die Bildgebung von F in biologischen und geologischen Proben nutzen lässt.18)
Ein alternatives bildgebendes Verfahren ist die laserinduzierte Plasmaspektroskopie (LIBS), die neben F-basierten Clustern andere Elemente nachweist, welche die ICP-MS traditionell nicht berücksichtigt (zum Beispiel H, C, N, O). Die Kopplung von LIBS und LA-ICP-MS erfährt zunehmende Aufmerksamkeit, da sie insbesondere in Verbindung mit einem TOF-Massenanalysator eine facettenreiche Analytik ermöglicht.
Vereinte Kräfte: Kombination von SP- und LA-ICP-MS
In den letzten Jahren untersuchten Forschungsgruppen vermehrt die Ablation und Analytik intakter Partikel mit einer Kombination aus SP- und LA-ICP-MS. Diese Herangehensweise macht es nicht nur möglich, die quantitative Elementverteilung räumlich aufzulösen, sondern auch partikuläre Spezies zu unterscheiden.
Herausfordernd ist die Bestimmung von Transporteffizienzen, die Herstellung von Standards, der experimentelle Aufbau, die Optimierung sowie die akkurate Datenanalyse – dennoch verspricht die Kombination der beiden Methoden neue Möglichkeiten, um Partikel genauer zu untersuchen und etwa die Aufnahme, Verteilung und Eliminierung in Geweben zu erforschen.19)
David Clases, Universität Graz Pascal Bohleber, Alfred-Wegener-Institut, Bremerhaven Carsten Engelhard, Bundesanstalt für Materialforschung und -prüfung (BAM), Berlin, und Universität Siegen
Archäometrie
Archäologische und historische Objekte zu untersuchen stellt hohe Ansprüche an die Analytik: Die Objekte sind ganz unterschiedlich beschaffen und bestehen zumeist aus hochkomplexen Gemischen; die Zielstrukturen liegen häufig nur als Spuren vor. Eine Probennahme ist bei diesen Objekten jedoch nur in sehr begrenztem Umfang möglich. Folglich wird in der Regel eine minimal-invasive Analysestrategie angestrebt.
Massenspektrometrie wird seit einigen Jahrzehnten an kulturhistorisch bedeutenden Objekten eingesetzt und ist insbesondere ein unverzichtbares Werkzeug, um organische Materialien zu charakterisieren. Der Schwerpunkt der Forschung hat sich in den letzten Jahren auf Methoden verschoben, die zerstörungsfreie In-situ-Analysen ermöglichen. In diesem Zuge kommen vermehrt ambiente MS-Techniken zum Einsatz, beispielsweise DESI (desorption electrospray ionization), (droplet-)LMJ-SSP (liquid microjunction surface sampling probe) oder DART (direct analysis in real time).20–23) Sie ermöglichen eine schnelle, minimal-invasive und zum Teil ortsaufgelöste Analyse von Verbindungen direkt von der Oberfläche der historischen Objekte, wobei die Untersuchungen wenig oder keine Probenvorbereitung benötigen und unter Atmosphärendruck erfolgen können. So lassen sich etwa historische Textilproben mit DESI-MS weitestgehend zerstörungsfrei und ohne vorhergehende Offline-Extraktion auf organische Farbstoffe analysieren (Abbildung 4).20)
Ein Ansatz sind auch Polymerfolien, die mit Ionenaustauschern und C8/C18-Harzen beladen sind, oder Hydrogele mit Enzymen: Diese werden auf die Objekte aufgebracht, anschließend rückstandslos entfernt und extrahiert; die Extrakte werden mit MALDI-, GC- oder LC-MS analysiert.24–26) Righetti sowie Pittalà et al. weisen mit dieser zerstörungsfreien Technik niedermolekulare Verbindungen und Proteinspuren auf historischen Manuskripten nach. So entdeckten sie etwa Morphinspuren und Biomarker, welche auf eine Nierenerkrankung hindeuten, auf Schriften des Schriftstellers Michail Bulgakov, der an Nephrosklerose erkrankt war.25)
Auch die SIFT-MS (selected ion flow tube) macht es möglich, organische Rückstände bei archäologischen oder historischen Objekten auf molekularer Ebene zu charakterisieren (Abbildung 5).27,28) Diese minimal-invasive Technik erfasst auch Spuren volatiler organischer Verbindungen (VOCs) wie Monoterpene, welche für pflanzliche Harze charakteristisch sind. Des Weiteren haben La Nasa et al. bei Alterungsprozessen emittierte VOCs mit SIFT-MS quantifiziert.29) Transportable SIFT-MS-Geräte sind kommerziell erhältlich und ermöglichen perspektivisch eine Vor-Ort-Analytik in Depots oder Sammlungen.
Annemarie E. Kramell,
Universität Halle-Wittenberg
Nukleare Forensik
Aus isotopischer Sicht ist die Erde erstaunlich homogen aufgebaut: Kaum ein Element weist in seiner isotopischen Zusammensetzung signifikante Fluktuationen auf. Wenn bei einem Element Abweichungen vom isotopischen Normalbereich auftreten, lassen sich fast immer Erkenntnisse über Umwelt- oder Stoffwechselprozesse gewinnen oder darüber, wie der Mensch die Umwelt beeinflusst. Eine besonders spektakuläre isotopische Fraktionierung geriet vor einigen Jahren ins Scheinwerferlicht: die Fraktionierung von Zinkisotopen durch extrem hohe Temperaturen.
Zink ist ein mittelflüchtiges Element, sein Schmelzpunkt liegt bei 420 °C, sein Siedepunkt bei nur 907 °C, was für Metalle niedrig ist. Bei extremen Temperaturen kommt es zur Fraktionierung der fünf stabilen Zinkisotope 64Zn, 66Zn, 67Zn, 68Zn und 70Zn, wobei sich die leichteren Isotope etwas früher und stärker verflüchtigen als die schwereren.
Erstmals geriet diese Volatilisierung von Zink ins Rampenlicht, als man Mondgestein untersuchte.30–32) Es zeigte sich nicht nur, dass Mondgestein verglichen mit dem Gestein auf der Erde an Zink abgereichert ist; im Mond hatte auch eine Hochtemperaturfraktionierung der Zinkisotope stattgefunden, wobei sich die leichten Isotope abgereichert hatten. Das befeuerte im wahrsten Sinne des Wortes die Hypothese einer gewaltsamen Entstehung des Systems Erde–Mond durch die Kollision zweier großer Himmelskörper.
Kürzlich wurde die Fraktionierung von Zn-Isotopen bei extremen Temperaturen auch für Anwendungen in der nuklearen Forensik entdeckt. Man untersuchte und beobachtete das Phänomen in Proben aus dem aufgeschmolzenem Glas von Kernwaffentestgelände.32,33)
Bei der Explosion des Gadgets – des ersten nuklearen Sprengkopfs – am 16. Juli 1945 am Trinity Test Site in New Mexico, USA, entstanden enorme Temperaturen (8730 K) und Drücke (> 8 GPa), wobei sich bis zu 350 m vom Ground Zero entfernt Trinitit bildete, ein grünes, glasartiges Gestein (Abbildung 6, S. 57). Die Zinkisotopie mit Multicollector-ICP-MS zeigte deutlich messbare Abweichungen der Trinititproben vom terrestrischen Normbereich, die Messwerte waren dabei deutlich abhängig davon, wie weit weg die Probe vom Ground Zero war.32)
Das Los Alamos National Laboratory in den USA untersuchte neben Trinitit Gesteinsproben von unterirdischen Tests.33) Tatsächlich bestätigte sich für die Trinititproben eine Zinkisotopenfraktionierung; die Proben aus unterirdischen Tests wichen aber bestenfalls minimal von der terrestrischen Zinksignatur ab. Offensichtlich unterbindet der Luftabschluss bei einem unterirdischen Test das selektive Abdampfen der leichteren Zinkisotope; es braucht augenscheinlich ein offenes System, damit dieser Fraktionierungseffekt stattfinden kann.
Die Fraktionierung von Zinkisotopen kann – zumindest bei überirdischen nuklearen Explosionen – also nicht nur als isotopisches Thermometer dienen, sondern auch als isotopisches Maßband für die Distanz zum Ground Zero. Allerdings bleibt zu hoffen, dass im Zusammenhang mit Kernwaffen weitere Anwendungsbeispiele für diese ungewöhnliche Analytik rein hypothetischer oder historischer Natur bleiben.
Georg Steinhauser,
Institut für Angewandte Synthesechemie und TRIGA Center Atominstitut, TU Wien
Elektroanalytik
In der elektroanalytischen Forschung kommt immer häufiger der 3-D-Druck zum Einsatz, auch additive Fertigung genannt, um maßgeschneiderte Elektroden herzustellen. Die Geometrie lässt sich der Anwendung anpassen, und die Materialbreite reicht von kohlenstoffbasierten Materialien über Metalle bis hin zu implementierten Nanomaterialien. Die technischen Fortschritte des Druckprozesses ermöglichen es, elektrochemische Mikrosensoren präzise zu fertigen. Ein Beispiel sind 3-D-gedruckte Aptamer-basierte Mikronadelsensorarrays für pharmakokinetische Untersuchungen in der interstitiellen Flüssigkeit von Versuchstieren.34)
Während vor einigen Jahren überwiegend singuläre Elektroden durch 3-D-Druck entstanden, sind gegenwärtig immer komplexere Messanordnungen bis hin zu kompletten elektrochemischen Zellkonfigurationen durch additive Fertigung zugänglich. Craig Banks und Mitarbeitende stellten eine 3-D-gedruckte elektroanalytische Sensorplattform vor, die alle Komponenten einer voltammetrischen Zelle umfasst, einschließlich Arbeits-, Referenz- und Gegenelektrode.35) Als alternatives Konzept fertigte die Gruppe von Eduardo Richter mit 3-D-Druck eine komplette elektrochemische Messzelle, die aber die Option zulässt, konventionelle Elektroden zu verwenden, und somit zusätzliche Freiheitsgrade für die Konzeption voltammetrischer Messprotokolle eröffnet (Abbildung 7).36)
Neue Entwicklungen befassen sich damit, biologische Komponenten in den 3-D-Druckprozess zu implementieren oder gedruckte Sensorkomponenten zu modifizieren. So wurden elektrochemische Immunosensoren additiv gefertigt, um das PARK7/DJ-1-Protein in Blutserum und in cerebrospinaler Flüssigkeit zu detektieren und darüber die Parkinson-Krankheit zu diagnostizieren.37) Martin Pumera und Mitarbeitende stellten 3-D-gedruckte Nanokohlenstoffelektroden her und nutzen sie für die elektrochemische Detektion der DNA-Hybridisierung.38) Dabei modifizierten sie die 3-D-gedruckte Oberfläche mit Target-DNA; die enzymatische Umwandlung einer elekroinaktiven Substanz in einen elektroaktiven Indikator detektierte die Hybridisierung mit einer komplementären biotinylierten DNA-Sonde.
Frank-Michael Matysik,
Universität Regensburg
Prozessanalytik
Lab-on-a-chip gewinnt angesichts steigender Nachhaltigkeitsanforderungen auch in der Prozessanalytik an Wichtigkeit. Spektroskopische Methoden wie Raman-, Nahinfrarot(NIR)- und Mittleres-Infrarot(MIR)-Spektroskopie bleiben tragende Säulen im Monitoring, wobei Flüssigkernlichtleiter die Raman-Spektroskopie zu bereichern versprechen. Integrierende Konzepte bestimmen zunehmend die Entwicklung von Schnittstellen zum Datentransfer und werden in Zukunft helfen, Prozesse in Bezug auf Produktleistung, Produktionseffizienz und ökologischen Fußabdruck zu optimieren.
Lab-on-a-Chip und 3-D-Druck
Lab-on-a-Chip-Konzepte erfüllen die Anforderungen der Grünen Chemie: Sie benötigen wenig Platz, weniger Lösungsmittel sowie Probenvolumen und ermöglichen einen hohen Durchsatz. Mesoporöse Strukturen als stationäre Phase in miniaturisierten flüssigkeitschromatographischen Systemen gehen von Photolacken aus, die gezielt funktionalisiert wurden, und zugesetzten Porogenen, also Porenbildnern. Dabei erfolgt eine additive Fertigung von Polymermonolithen mit Direct Laser Writing oder 2-Photonen-Lithographie: Es werden regelmäßige Strukturen im μm-Maßstab spezifisch designt und dann fluiddynamisch optimiert.39,40)
Raman, NIR, MIR
Kompakte opto-elektromechanische Spektrometer auf Basis von Nano- oder mikro-elektro-mechanischen Systemen (N/MEMS) weisen trotz ihres geringen Platzbedarfs eine hohe Auflösung und Abstimmbarkeit auf; gleichzeitig verbrauchen ihre Aktoren wenig Strom. Diese Systeme sind somit mit modernen Sensoren und photonisch integrierten Schaltungen (PICs) vergleichbar.41)
Die Einsatzgebiete von N/MEMS nehmen stetig zu: Sie ermöglichen eine kontinuierliche Wareneingangskontrolle, zudem lassen sich chemische, biotechnologische und lebensmitteltechnologische Prozesse in Echtzeit überwachen und so auch regeln.42) Ramanspektroskopische Analysen in wässrigen Lösungen werden durch Flüssigkernlichtleiter in Glaskapillaren verstärkt, die innenseitig mit hydrophobem Silikataerogel beschichtet sind (Abbildung 8).43) Die Auflösung steigt dadurch abhängig von der Länge der Lichtleiter um mehr als eine Größenordnung. Zudem sinkt die Anfälligkeit für Verstopfung, Fouling und Skalierung. Herstellungsverfahren werden derzeit auf Kosten und Einfachheit optimiert.
Integrierende Ansätze: Fingerprint-2-Footprint und Module Type Packaging
Integrierte spektroskopische Fingerprint-Daten lassen sich chemometrisch behandeln und messen und verbessern so das Prozessmonitoring und -verständnis in puncto Produktqualität, -sicherheit, -kosten, Lieferketten, Wartung und besonders ökologischer Fußabdruck (Abbildung 9, S. 60). Die prozessanalytischen Daten werden auf gewohntem Wege gewonnen. Nachhaltigkeitsangaben sind in Zukunft nach der Corporate Sustainability Reporting Directive (CSRD) der EU transparent zu machen. Die oftmals divergierenden Faktoren eröffnen neue Wege, Prozesswertigkeit zu kontrollieren und zu optimieren.44)
Um Prozesse in modularen Anlagen zu steuern und zu überwachen, sind die Einzelmodule zu einem effizienten System zu orchestrieren, zum Beispiel dem Prozessleitsystem. Als Standardschnittstelle etabliert sich hier zunehmend das Module Type Package (MTP).45) Dieses Konzept definiert die Schnittstellen und Funktionen der Automatisierungstechnik der einzelnen Module und ermöglicht es, sie in eine Prozessführungsebene zu integrieren, den Process Orchestration Layer (POL). Bisher beschreibt das MTP/POL-Konzept aber noch nicht, wie kognitive Sensoren steuerungstechnisch inklusive Verarbeitung und Archivierung der Daten zu nutzen sind.
Martin Jäger, Hochschule Niederrhein
Robin Legner, KWS Saat
Matthias Rädle, Hochschule Mannheim
Chemometrie
Im heutigen digitalen Zeitalter sind Daten von zentraler Bedeutung – sie werden sogar als wertvollste Ressource des 21. Jahrhunderts oder „das neue Öl” bezeichnet.46) Grund für die große Bedeutung ist, dass Daten zunehmend in allen Lebensbereichen generiert werden und ein umfassendes Verständnis komplexer Sachverhalte ermöglichen – und damit wissenschaftlichen und wirtschaftlichen Fortschritt. Aktuell werden Daten allerdings noch nicht umfassend genutzt, weshalb man in diesem Zusammenhang von einem nicht gehobenen Schatz sprechen kann.
Die Nutzung großer Datenmengen, das heißt Datenmanagement, -strukturierung und -auswertung, birgt eine Reihe von Herausforderungen, die Harald Martens, einer der Väter der Chemometrie, passend auf den Punkt gebracht hat: „Alle Wissenschaften stehen heute vor denselben zwei Problemen: Wie kann die Datenflut (Big Data) der Zukunft von einer Last in einen Segen verwandelt und Theorie und Praxis miteinander verbunden werden?“47) Zusätzlich stellt sich häufig die Frage, wer für diese zunehmend wichtige Aufgabe verantwortlich ist und wo Unternehmen entsprechend geschultes Personal rekrutieren können.
In der Chemie ist es sinnvoll, diese Ausbildung in der Chemometrie zu verorten. Aktuell gibt es allerdings an deutschen Universitäten – vor allem im Vergleich mit anderen europäischen Ländern – nur eine begrenzte Zahl von Lehrstühlen der Chemometrie, also solchen, die sich hauptsächlich mit der Datenanalyse befassen. Dies bedeutet eine Gefahr für den Wirtschaftsstandort Deutschland, da Unternehmen aufgrund fehlender Fachkräfte und damit mangelnder Nutzung der Ressource des 21. Jahrhunderts womöglich von der internationalen Konkurrenz abgehängt werden.
Doch was sollten Fachkräfte mitbringen, um diese Lücke zu schließen? Hier braucht es vor allem die Kombination von Expertenwissen aus der Chemie mit spezialisierten Fähigkeiten aus einem neuen interdisziplinären Wissenschaftsbereich, den Datenwissenschaften (Data Science). Diese Fähigkeiten umfassen sowohl grundlegende methodische Kenntnisse, beispielsweise aus der Statistik, als auch praktische Fähigkeiten, wie den Umgang mit spezifischer Software. Um große Datenmengen zu beherrschen und Algorithmen zu entwickeln, sind außerdem Programmierkenntnisse unabdingbar.
Bei der Vermittlung solcher Fähigkeiten in der Ausbildung sollte vor allem die praktische, auf relevante Fragen der Chemie bezogene Anwendung der Programmierkenntnisse im Vordergrund stehen. An der TU München lernen Studierende beispielsweise, Pipettier-, Sortier- und Transportierroboter zu entwerfen,48) und in Mannheim und Hamburg werden Programmierkenntnisse durch die Analyse konkreter Daten gelehrt. Diese Herangehensweise fördert das Interesse an diesem Thema, das unter Studierenden der Chemie und Lebensmittelchemie bereits vorhanden ist und vermutlich durch den aktuellen Hype der Künstlichen Intelligenz (KI) weiter befeuert wird. Auch hier stellt sich zwangsläufig die Frage, wie sich KI in das Curriculum integrieren lässt. Dass es sich dabei um ein hochrelevantes Thema handelt, ist auch anhand aktueller Publikationen ersichtlich.49,50)
Zusammenfassend ist in der Datenauswertung sehr viel in Bewegung. Allerdings besteht die begründete Befürchtung, dass in Deutschland zu träge auf die veränderten Anforderungen reagiert wird. Die Arbeitsgruppen der analytischen Chemie, insbesondere der Arbeitskreis Chemometrik und Qualitätssicherung, versuchen, dem durch Workshops und Seminare entgegenzuwirken.51)
Stephan Seifert,
Universität Hamburg
Marcel Dahms,
Light:Guard GmbH
Chemische Kristallographie
Auch wenn die Einkristallröntgenstrukturanalyse in den letzten Jahrzehnten zur Routinemethode geworden ist, gibt es doch immer wieder Problemstrukturen, für die es ein vertieftes Verständnis dieser Methode braucht. Das gilt selbst beim Independent Atom Model (IAM), das die Atome als sphärische Kugeln ohne Bindung betrachtet. Entsprechend wichtig ist eine kontinuierliche Ausbildung von Anwendern, beispielsweise bei Methodenworkshops wie dem Munich Crystallography Workshop, etabliert als zweijährliches Format auf Initiative des Arbeitskreises ChemKrist der Fachgruppe Analytische Chemie. Den Fachgesellschaften wie der Deutschen Gesellschaft für Kristallographie (DGK) und den entsprechenden Fachgruppen der GDCh fällt eine Schlüsselrolle zu, um Weiterbildungsangebote sicherzustellen, insbesondere wenn das tiefergehende Know-how nicht mehr flächendeckend über die universitäre Landschaft verbreitet ist.
Diese Notwendigkeit verdeutlicht exemplarisch der kürzlich erschienene Artikel „Pathological crystal structures“, der aus fehlerhaften Strukturbestimmungen aus der Literatur Schlüsse zieht und Lehrsätze formuliert.52) Als Beispiel für eine nicht-triviale Strukturbestimmung zeigt der Artikel eine neue Phosphormodifikation, bei der die Daten eines sechsfach verzwillingten Kristalls gelöst und verfeinert wurden.53) Demnach sind die 29 P4-Tetraeder analog der Struktur von α-Mn angeordnet.54)
Während die Entwicklung im Independent Atom Model ziemlich abgeschlossen ist, gibt es aktive Forschung bei Bestimmungen mit asphärischen Atomformfaktoren. Auf Softwareseite wichtig ist dabei das Hirshfeld Atom Refinement (HAR). Ruth et al. beschreiben ein Programm zur HAR, das periodische Randbedingungen berücksichtigt.55) Hatcher et al. untersuchten mit diesen verbesserten Modellen die nicht-kovalenten Wechselwirkungen in Photoschaltern.56) Die anomale Dispersion wurde bisher immer mit auflösungsunabhängigen tabellierten Werten, die auf Berechnungen isolierter Atome basieren, in einer Verfeinerung berücksichtigt. Bodensteiner et al. zeigten mit Röntgenabsorptionsspektren, dass besonders bei Einkristallstrukturbestimmungen mit einer Wellenlänge nahe an der Absorptionskante von Metallatomen diese Werte deutlich von den tabellierten Werten abweichen, während sie durch eine Verfeinerung gut angenähert werden.57) Derartige Verfeinerungen sind inzwischen in Olex2 implementiert.58)
Auf Hardwareseite wurde ein Metaljet mit Indiumstrahlung eingesetzt.59,60) Mit Indiumstrahlung lässt sich eine höhere Auflösung erreichen, was für eine Multipolverfeinerung essenziell ist. Allerdings kann man den Metaljet nur mit einer Legierung aus Gallium und Indium betreiben. Daher brauchte es viel Entwicklungsarbeit bis zur ersten erfolgreichen Multipolverfeinerung mit Indiumstrahlung. Dabei hilfreich war besonders der Einsatz eines Eiger-CdTe-Detektors.
Zur Elektronenbeugung wurde beim European Crystallographic Meeting über eine TAAM-Verfeinerung mit dem dynamischen Ansatz gegen Elektronenbeugungsdaten berichtet.61) TAAM steht für „transferable aspherical atom model” und bedeutet eine Multipolverfeinerung, bei der die Besetzung des Multipols nicht verfeinert, sondern aus Datenbanken von Modellstrukturen übernommen wird. Durch Verfeinerung der dynamischen Beugung ist es mittlerweile ebenfalls zuverlässig und routinemäßig möglich, die Absolutstruktur und damit die Händigkeit chiraler Verbindungen durch 3-D-Elektronenbeugung (continuous rotation 3D ED) zu bestimmen.62) Im Unterschied zur Einkristallröntgenbeugung ist nun möglich, die Absolutstruktur aus kristallinen Pulvern zu ermitteln. Es ergeben sich außerdem unmittelbar bessere R-Werte durch die dynamische Verfeinerung des Kristallstrukturmodells der richtigen Händigkeit, sodass es nicht mehr nötig ist, zusätzliche Parameter zu bestimmen und auszuwerten, etwa Flack, Parsons oder Hooft. Von der Anwendung dieser Methode berichteten jüngst Karothu, Naumov et al., Simoncic, Williams et al. sowie Bach et al.63-65)
Regine Herbst-Irmer,
Universität Göttingen
Alexander Pöthig,
TU München
Michael Bodensteiner,
Universität Regensburg
Analytik in der chemischen Industrie
Die chemische Industrie Europas befindet sich in einer multidimensionalen Transformation, die historisch keine Vorbilder hat. Eingebettet in den europäischen Green Deal spielt der Wandel zu einer klimaneutralen Produktion eine zentrale Rolle und bedingt eine grundlegende Transformation der europäischen Energie- und Rohstoffversorgung. Dazu kommen Aspekte wie die Kreislaufwirtschaft und die EU-Chemikalienstrategie. Zusammen mit der rasch fortschreitenden Digitalisierung wirken diese Transformationsprozesse auf sämtliche Geschäfts- und Produktionsprozesse ein.66)
Um diese Entwicklungen zu steuern und umzusetzen, müssen hochqualitative Daten schnell verfügbar sein. Damit ist die analytische Chemie eine der treibenden Kräfte in dieser Transformation. Sie schafft Wissen und damit Verständnis aus analytischen Daten. Dieses Verständnis ist die Grundlage für Produkt- und Prozessinnovationen und für das kontinuierliche Optimieren von Produktionsprozessen. Dass sich die analytischen Möglichkeiten stetig weiterentwickeln, spiegelt sich auch in den regulatorischen Anforderungen wider. Um Stoffe und deren Verhalten in der Umwelt bewerten zu können, braucht es hochqualitative Daten, damit rückt die Analytik immer stärker in den regulatorischen Fokus. Folge ist die Einführung neuer wissenschaftlicher Standards und besserer Nachweisgrenzen – das beeinflusst die Ausrichtung von Innovationsstrategien.67)
Das jüngste Beispiel dafür, welche wichtige Rolle die chemische Analytik im regulatorischen Umfeld spielt, ist der europäische Restriktionsvorschlag für die Stoffgruppe der per- und polyfluorierten Alkylsubstanzen (PFAS). Die Restriktion sieht vor, den Einsatz dieser Verbindungen signifikant zu reduzieren, und ist an eine engmaschige Kontrolle gekoppelt. Die vielen verschiedenen PFAS-Verbindungen zu identifizieren und zu quantifizieren ist Kernkompetenz der analytischen Chemie. Nur durch passende Probenvorbereitung und stetige Weiterentwicklung der analytischen Methoden lassen sich Verunreinigungen vermeiden und die geforderten Nachweisgrenzen erreichen.68,69)
Die Wechselwirkung von Regulatorik und Analytik ist auch beim Thema Mikroplastik evident. Der Null-Schadstoff-Aktionsplan der EU-Kommission sieht vor, die Umweltbelastung durch Mikroplastik bis 2030 um 30 Prozent zu reduzieren.70) Der Nachweis von Kunststoffpartikeln in Gewässern, Böden und Luft ist jedoch analytisch sehr anspruchsvoll. Neben qualifizierten Probennahmen und Probenvorbereitungen in Kombination mit mikroskopischen und spektroskopischen Methoden ist es auch notwendig, bestehende Standards anzupassen.71–74)
Die digitale Transformation hat das Potenzial, analytische Fragen, Arbeitsweisen und Labore grundlegend zu verändern. Labore haben die Chance, Analysenergebnisse präziser und gleichzeitig effizienter zu generieren und die Daten umfassender zu nutzen. Maschinelles Lernen (ML) spielt dabei eine wichtige Rolle. Statistische ML- bis hin zu Deep-Learning-Methoden erlauben es, Muster in großen Datensätzen zu erkennen und genaue Prognosen zu erstellen.75) Mit vertrauenswürdigen analytischen Daten und dazugehörigen Metadaten lassen sich neue Modelle entwickeln, die zu optimierten Prozessen oder neuen Stoffen mit besseren Eigenschaften führen.76) Die Prozessanalytik birgt hierbei ein enormes Entwicklungspotenzial. Besseres Prozessverständnis und Echtzeitinformationen können Prozesse effizienter machen und dadurch den Energieverbrauch senken und/oder die Stoffausbeute erhöhen. Die Prozessanalytik führt so zu mehr Nachhaltigkeit.
Um das Potenzial der Digitalisierung für die analytischen Labore voll auszuschöpfen, sind standardisierte Kommunikationsprotokolle und Datenformate entscheidend. Nur so lassen sich verschiedene Datensätze miteinander verknüpfen und die verfügbaren Daten bestmöglich nutzen. Die digitale Transformation der Labore ist daher auch eine Chance, Standards zu etablieren, die eine nahtlose Integration verschiedener Datensätze und deren Nutzung ermöglichen.77)
Der Wandel der chemischen Industrie verändert auch das Berufsbild der analytischen Chemie. Die fortschreitende Automatisierung und Robotik erleichtern einfache und repetitive Aufgaben wie Probenpräparationen, Standardmessungen und Auswertungen. Digitale Techniken und automatisierte Prozesse verändern den Arbeitsalltag und dadurch auch die Aus- und Weiterbildung. Die Zukunft erfordert eine noch stärker interdisziplinäre Ausbildung, die digitale Techniken, automatisierte Prozesse und Werkzeuge zur Datenanalyse einbezieht. Die chemische Industrie lässt sich erfolgreich nur mit gut ausgebildeten Analytiker:innen transformieren.
Kathrin Wolter, BASF Ludwigshafen
Markus Haider, Wacker Chemie
INFO: European Biosensor Symposium
Das 4. European Biosensor Symposium fand vom 27. bis 30. August 2023 an der Fachhochschule Aachen statt. Das Symposium hatte mit zirka 225 Teilnehmenden aus 18 Ländern einen starken internationalen Anstrich.
In seinem Plenarvortrag stellte Evgeny Katz (Clarkson University, USA) neue hybride Konzepte vor, bei denen elektrochemische Biosensoren an Aktuatoren gekoppelt werden, um Informationen auf chemischem Wege logisch zu verarbeiten (Logic Gates, Abbildung) und Medikamente im Körper zielgenau freizugeben.1,2)
Tatsuo Yoshinobu (Tohuku University, Japan) gab in seinem Plenarvortrag einen Überblick zu Sensoren, bei denen Lichtstrahlen bestimmte Gebiete auf einem Sensorchip aktivieren, nach dem Prinzip eines lichtadressierbaren, potenziometrischen Sensors mit hoher zeitlicher und räumlicher Auflösung.3) Hiermit lassen sich multiple Analyten simultan detektieren: Biochemische Prozesse werden in Echtzeit wie in einem Video visualisiert.
Im dritten Plenarvortrag berichtete Fabiana Arduini (University of Rome Tor Vergata, Italien) über „Lab-on-a-Chip“-Sensoren auf Papierbasis: In Kombination mit gedruckten Schaltkreisen zeigt sich dieses Material überraschend vielseitig. Mehrere Sensoren sind bereits nahe an der Marktreife, zum Beispiel ein Sensor, der Viren in Speichel detektiert, und ein Patch, das auf das Stresshormon Cortisol in Schweiß reagiert.4,5)
Ein Transducertyp, der sowohl bei den Vorträgen als auch bei den Postern erhebliche Beachtung fand, sind Feldeffekt-Transistoren (FETs), die empfindlich auf die elektrische Ladung von Analyten reagieren. Ein mögliches Basismaterial ist Graphen, und mit Aptameren oder Enzymen lassen sich zum Beispiel Biomarker für kardiovaskuläre Risiken und Erkrankungen selektiv erkennen. Derartige FET-Sensoren spielen bei Point-of-Care(Poc)-Analysen eine zunehmende Rolle, und in speziellen Fällen übertreffen sie inzwischen die Empfindlichkeit laboranalytischer Methoden.
Auch bei den optischen Biosensoren zeichnen sich vielversprechende Entwicklungen ab: Neben Fluoreszenz- und Lumineszenz-basierten Sensoren gibt es einen starken Trend zu Sensoren, die auf Raman-Streuung, Lichtleitern und Plasmonenresonanz beruhen. Unter anderem lassen sie sich einsetzen zum Nachweis zirkulierender Tumor-DNA im Blutplasma, von Entzündungsmarkern (zum Beispiel Interleukinen), von Arzneimittelrückständen und von Viren einschließlich Sars-CoV-2.
Neben den technisch orientierten Ansätzen sind Assays auf Basis Enzym-ähnlicher Aptamere (Aptazyme) in der Entwicklung, welche die Konzentration von Biotargets kontinuierlich bestimmen. Für Affinitätssensoren war dies lange eine ungelöste Herausforderung; in der Zukunft erscheint dieser Ansatz jedoch vielversprechend, um kontinuierlich die Wirksamkeit von Medikamenten zu evaluieren. Neben Beiträgen zu den etablierten Transducern gab es solche zu Sensoren, die als Detektionsprinzipien Magnetometrie an Nanoteilchen und Wärmeleitung einsetzen. Auch hier sind zahlreiche Anwendungen möglich, zum Beispiel, um Toxine in Nahrungsmitteln und Umweltproben nachzuweisen.
Neue Ansätze gibt es auch bei der Entwicklung und Systemintegration biologischer und biomimetischer Rezeptoren: Hierzu gehört die Kopplung von Antikörpern an Liposome, die bei Erkennung der Targets Reportermoleküle freisetzen. Weitere Varianten sind Aptamere, die an molekulare Mikromotoren gekoppelt werden, und Pflanzenviren, die als Trägersysteme für Enzyme dienen. Für den Nachweis von Bakterien zeichnen sich photolithographisch strukturierte Polymerschichten als neues, flexibles Rezeptorkonzept ab.
Auch bei den molekular geprägten Polymeren (MIPs) gibt es erhebliche Fortschritte, insbesondere, um Proteine nachzuweisen: Protein-Imprinting galt lange Zeit als schwierig, jedoch eignen sich dazu vor allem „weiche“ Polymermaterialien, sodass sich mit MIP-Mikroteilchen selbst komplexe Elektrodenstrukturen reproduzierbar funktionalisieren lassen.
Michael J. Schöning, FH Aachen
Patrick Wagner, KU Leuven, Belgien
INFO: Analytische Chemie und die Analytica 2024
Dieser Trendbericht wurde möglich durch das Engagement des Vorstands der GDCh-Fachgruppe Analytische Chemie. Beteiligt waren die jeweiligen Arbeitskreise, den Trendbericht koordiniert hat Günter Gauglitz.
Der Trendbericht Analytische Chemie erscheint alle zwei Jahre parallel zur Analytica Conference, die alle Bereiche der chemischen und biochemischen Analytik abdeckt. In diesem Jahr findet die Konferenz vom 9. bis 11. April im ICM – International Congress Center München statt, parallel zur Messe Analytica. Das Messegelände liegt nur wenige Schritte vom ICM entfernt und präsentiert Neuentwicklungen bei Analysen- und Labortechnik.
- 1 D. Wolrab, O. Peterka, M. Chocholoušková, M. Holcapek, TrAC Trends Anal. Chem. 2022, 149, 116546
- 2 G. L. Losacco, R. Bennett, I. A. H. Ahmad et al., Angew. Chem. Int. Ed. 2022, 61, e202208854
- 3 L. Schwalb, O. Tiemann, U. Käfer et al., Anal. Bioanal. Chem. 2023, 415, 2471
- 4 L. Mondello, P. Dugo, P. Donato et al., Nat. Rev. Methods Primers 2023, 3, 86
- 5 L. Montero, J. F. Ayala-Cabrera, F. F. Bristy, O. J. Schmitz, Anal. Chem. 2023, 95, 3398
- 6 R. Karongo, J. Horak, M. Lämmerhofer, J. Sep. Sci. 2023, 46, 2300351
- 7 E. Rudt, M. Feldhaus, C. G. Margraf et al., Anal. Chem. 2023, 95, 9488
- 8 J. Schairer, F. Plathe, S. Hudelmaier et al. Electrophoresis 2023, doi: 10.1002/elps.202300210
- 9 H. Karkee, A. Gundlach-Graham, Environ. Sci. Technol. 2023, doi: 10.1021/acs.est.3c04473
- 10 M. Tharaud, L. Schlatt, P. Shaw, M. F. Benedetti, J. Anal. At. Spectrom. 2022, doi: 10.1039/D2JA00116K
- 11 R. Gonzalez de Vega, T. E. Lockwood, L. Paton, L. Schlatt, D. Clases, J. Anal. At. Spectrom. 2023, doi: 10.1039/D3JA00253E
- 12 A. Schardt, J. Schmitt, C. Engelhard, J. Anal. At. Spectrom. 2024, doi: 10.1039/D3JA00373F
- 13 T. E. Lockwood , R. Gonzalez de Vega, Z. Du et al., J. Anal. At. Spectrom. 2023, doi: 10.1039/D3JA00288H
- 14 E. Bolea-Fernandez, A. Rua-Ibarz, M. Velimirovic, K. Tirez, F. Vanhaecke, J. Anal. At. Spectrom. 2020, doi: 10.1039/C9JA00379G
- 15 D. M. Mitrano, A. Beltzung, S. Frehland et al., Nat. Nanotechnol. 2019, doi: 10.1038/s41565–018–0360–3
- 16 C. Neff, P. Becker, D. Günther, J. Anal. At. Spectrom. 2022, doi: 10.1039/D1JA00421B
- 17 P. Bohleber, N. Stoll, M. Rittner et al., Geochem. Geophy. Geosy. 2023, doi: 10.1029/2022GC010595
- 18 D. Clases, R. Gonzalez de Vega, J. Parnel, J. Feldmann, J. Anal. At. Spectrom. 2023, doi: 10.1039/D3JA00116D
- 19 S. B. Seiffert et al., Anal. Chem. 2023, doi: 10.1021/acs.analchem.3c00022
- 20 E. Sandström, C. Vettorazzo, C. L. Mackay, L. G. Troalen, A. N. Hulme, Anal. Chem. 2023, 95, 4846 – 4854
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- 22 J. Campos Ayala, S. Mahan, B. Wilson et al., Heritage 2021, 4, 1639 – 1659
- 23 A. E. Kramell, A. O. Brachmann, R. Kluge, J. Piel, R. Csuk, RSC Adv. 2017, 7, 12990 – 12997
- 24 C. D. Calvano, E. Rigante, R. A. Picca, T. R. I. Cataldi, L. Sabbatini, Talanta 2020, 215, 120882
- 25 P. G. Righetti, G. Zilberstein, S. Zilberstein, J. Proteomics 2021, 235, 104113
- 26 M. G. G. Pittalà, A. Di Francesco, A. Cucina et al., Anal. Chem. 2023, 95, 12732 – 12744
- 27 J. La Nasa, F. Nardella, F. Modugno et al., Talanta 2020, 207, 120323
- 28 C. Guerrini, F. Nardella, A. Morganti et al., J. Am. Soc. Mass Spectrom. 2022, 33, 1465–1473
- 29 J. La Nasa, M. Mattonai, F. Modugno, I. Degano, E. Ribechini, Polym. Degrad. Stab. 2019, 161, 39 – 49
- 30 R. C. Paniello, J. M. D. Day, F. Moynier, Nature 2012, 490, 376–379
- 31 C. Kato, F. Moynier, M. C. Valdes et al., Nat. Commun. 2015, 6, 7617
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