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„Mut wie einen Muskel trainieren“
Von Wiley-VCH zur Verfügung gestellt
Seit 28 Jahren arbeitet Uta Holzenkamp beim Unternehmen BASF, mehr als 20 davon in einer Führungsposition. Sie erzählt, wie sie die Chancengleichheit in der chemischen Industrie einschätzt, selbst erlebt hat und fördert.
Nachrichten aus der Chemie: Wie stand es bei Ihrem Berufseinstieg um die Chancengleichheit der Geschlechter in der chemischen Industrie?
Uta Holzenkamp: Während meiner ersten Jahre bei der BASF gab es nur eine einzige weibliche obere Führungskraft. Weibliche Rollenvorbilder waren rar. Wir wenigen Frauen haben uns gegenseitig bestärkt – auch in der Überzeugung, dass Kinderwunsch und berufliche Verantwortung sich nicht gegenseitig ausschließen. Meine erste Bürokollegin in der Forschung hatte vor mir Kinder und hat mir Mut gemacht: „Trau dich einfach, du schaffst das“, hat sie zu mir gesagt. „Es ist nicht immer einfach. Aber du wirst Lösungen finden und daran wachsen.“
Hatten Sie Rollenvorbilder außerhalb Ihres Arbeitsplatzes?
Marie Curie beeindruckt mich sehr. Sie hat in einer männlich dominierten Zeit geforscht und Nobelpreise errungen. Ihre naturwissenschaftliche und persönliche Leistung trotz mancher Widerstände motiviert mich und andere Forscherinnen bis heute. Meine Mutter ist mir auch ein Vorbild. Sie hat meine positive und optimistische Einstellung zum Leben geprägt. Frei nach dem Motto meiner Großmutter: Durch Jammern wird nichts besser.
Sie haben auch zwei Kinder. Wie ist es Ihnen gelungen, Karriere und Familie gleichzeitig zu managen?
Das geht mit dem richtigen Partner. Mein Mann und ich haben beide in Teilzeit gearbeitet, als die Kinder klein waren. Das war Anfang der 2000er Jahre. Es ist bis heute selbstverständlich für uns, dass alle in der Familie mithelfen und sich gegenseitig unterstützen. Zudem hatte ich damals bei der BASF tolle Vorgesetzte, die mir Flexibilität ermöglicht und Vertrauen entgegengebracht haben. So konnte ich zum Beispiel mit einem Laptop auch von zu Hause arbeiten. Das war damals in der Forschung noch nicht üblich.
Sie haben auch im Ausland gearbeitet. Haben Sie die Sicht auf Chancengleichheit in anderen Ländern anders wahrgenommen?
Ja. In Belgien habe ich erlebt, dass es normal ist, acht Wochen nach der Geburt wieder in Vollzeit zu arbeiten. Es gibt dort genügend Betreuungsmöglichkeiten für kleine Kinder, und das ist auch gesellschaftlich akzeptiert. In den USA hat eine Arbeitskreiskollegin mit vier Kindern promoviert und sich anschließend erfolgreich beruflich entwickelt. Das hat mir gezeigt, dass es wichtig ist, flexible Lösungen zu finden, die zu individuellen Bedürfnissen passen.
In den letzten 25 Jahren gab es auch hier in Deutschland Veränderungen, um die Vereinbarkeit von Familie und Beruf für Frauen zu fördern, etwa das Recht auf Elternzeit für Väter. Hat sich die Sicht auf die Rollenverteilung Ihrer Meinung nach dadurch geändert?
Ich erlebe schon, dass auch heute noch viele Frauen die Care-Arbeit zu Hause machen – vor allem während der Corona-Pandemie war das häufig so. Ich sehe aber auch viele junge Familien, für die es selbstverständlich ist, dass Männer und Frauen sowohl in der Familie als auch in einem verantwortungsvollen Job arbeiten.
Also findet dieses Umdenken eher in jüngeren Generationen statt?
Ein Umdenken findet sowohl bei Jüngeren als auch bei Älteren statt, bei Männern und Frauen. Und zwar durch echtes Interesse und Zuhören. Sich in die Situation anderer hineinzuversetzen ist manchmal gar nicht so einfach. Für Frauen ist es normal, „the only one in the room“ zu sein, besonders in Führungsrollen. Das kennen viele Männer so nicht. Über solche Themen im Alltag offen miteinander zu sprechen, erhöht das Verständnis füreinander und die Wahrscheinlichkeit, gute Lösungen zu finden.
Wie ermutigen Sie Ihre Mitarbeiterinnen dazu?
Ich starte jeden Tag mit den Satz von Brené Brown: „Today I choose courage over comfort.“ Wenn man sich immer wieder traut, kann man so den eigenen Mut wie einen Muskel trainieren. Was ich gerne mache, sind Courage-Sessions – dabei verbinden wir Frauen und Männer aus verschiedenen Kulturen, um offen über unsere Mutmomente zu sprechen. Und die sind kulturübergreifend ganz ähnlich: die eigene Perspektive offen teilen, Feedback geben und annehmen, den Status quo hinterfragen, etwas komplett Neues probieren.
Gibt es auch strukturelle Maßnahmen, mit denen Sie Gleichstellung und Diversität fördern?
Wir haben die Kultur, die wir bei BASF Coatings jeden Tag leben wollen, in acht Sätzen formuliert. Zum Beispiel: We value diverse opinions in an inclusive environment and appreciate open feedback. Ausgedruckt finden Sie unsere Culture Cards überall in der Welt. Das ermutigt dazu, das eigene Verhalten weiterzuentwickeln, Verantwortung zu übernehmen und im Alltag zu handeln. Wir möchten eine Kultur des Respekts und der Offenheit fördern, in der jede Perspektive zählt und wertgeschätzt wird.
Messen Sie auch, ob Sie damit Erfolg haben?
Wir machen jedes Jahr eine Zufriedenheitsbefragung, und die Rückmeldungen nehmen wir sehr ernst. Mitarbeitende können Angaben dazu machen, ob bei der Arbeit ihre Meinung zählt oder sie ihr Potenzial im Unternehmen entwickeln können. Nach Vertrauen und Respekt fragen wir auch.
Sehen Sie Unterschiede zwischen den Geschlechtern?
Ja, Frauen beurteilen die Atmosphäre für offenes Feedback oft etwas schlechter als Männer, genauso wie die Unterstützungsangebote in schwierigen Situationen. Aber der Unterschied wird immer kleiner. Das zeigt, dass wir auf dem richtigen Weg sind.
Wie hat sich der Frauenanteil in Ihrem Unternehmen in den letzten 25 Jahren entwickelt?
Heute haben wir bei BASF Coatings 24 Prozent weibliche Mitarbeitende, auch in Führungspositionen liegt der Frauenanteil bei 24 Prozent. Wir sind damit noch nicht zufrieden, aber auf einem guten Weg.
Und wo wollen Sie hin?
Unser Ziel sind 30 Prozent Frauen in Führungspositionen bis zum Jahr 2030.
Was halten Sie von solchen Frauenquoten?
Früher war ich kein Fan davon. Aber heute erlebe ich, dass sie wichtig sind, um den Prozess zu beschleunigen. Schlussendlich sind Quoten auch kein Frauenthema, sondern ein Wettbewerbsvorteil. Denn diverse Teams sind kreativer und damit ein Mehrwert für jedes Unternehmen.
Wie können Unternehmen Frauen gezielt fördern?
Wir sollten Frauen Mut machen und früher Verantwortung zutrauen. Besonders, wenn sie selber vielleicht noch nicht so weit sind, das klar auszusprechen. Flexibilität und Zuhören sind entscheidend, um individuelle Lösungen und Unterstützungsangebote zu finden. Die Flexibilität, auch von zu Hause zu arbeiten, hängt natürlich von der Aufgabe ab, ist aber heute fast schon selbstverständlich. Entwicklungspläne über die aktuelle Situation hinaus geben eine Perspektive für die eigene Weiterentwicklung.
Und was muss die Politik Ihrer Meinung nach noch für die Chancengleichheit tun?
Bildung ist der Schlüssel. Wir müssen den Spaß an Naturwissenschaften fördern und das Bewusstsein stärken, dass Mint-Fächer auch etwas für Mädchen sind. Das beginnt in der Schule, funktioniert aber auch im häuslichen Umfeld ganz einfach. Gestern hat mir eine Kollegin erzählt, sie habe nur den Salzstreuer nachfüllen wollen, und schon habe ihre achtjährige Tochter den Experimentierkasten geholt, Salz gemahlen, in ein Reagenzglas gefüllt, mit Flüssigkeit gemischt, geschüttelt und beobachtet. Diese Neugierde fördere ich auch in meiner Familie, zum Beispiel schenke ich meiner Nichte gerne Experimentiersets zum Geburtstag.
Machen Ihnen die politischen Entwicklungen gegen die Förderung von Frauen und Minderheiten in den USA Sorgen?
Ja. Dass namhafte Firmen in den USA ihre Förderprogramme eingestellt haben, finde ich alarmierend. Aber wir werden weiter unser Engagement für Chancengleichheit hochhalten. Es ist wichtig, dass Unternehmen und Organisationen weltweit weiterhin für Vielfalt und Inklusion eintreten.
Haben Sie Tipps für junge Frauen, die eine Führungsrolle in der Chemieindustrie anstreben?
Ich empfehle Brené Browns Bücher und TED-Talks zu Mut und Verletzlichkeit. Rollenvorbilder und Mentorinnen oder Mentoren sind ebenfalls wichtig (Anm. d. Red.: Wie sich passende Mentor:innen finden lassen, lesen Sie auf S. 33). Es ist zudem gut investierte Zeit, sich selbst besser kennenzulernen und eigene Energiequellen zu finden.
Haben Sie auch Mentees?
Ja, viele. Oft junge Frauen, die ich über Jahre begleite. Ich lerne genauso viel von meinen Mentees wie sie von mir. Sich als erfahrene Führungskraft auf Augenhöhe von einer jüngeren Kollegin beraten zu lassen erweitert die Perspektive erheblich. Mut zu Offenheit und Selbstkorrektur ist entscheidend für die persönliche und berufliche Entwicklung.
Was macht Ihnen Hoffnung für eine langfristige Förderung und Sicherung der Chancengleichheit?
Die Zeit, in der wir jetzt leben. In der Generation Marie Curies oder sogar noch meiner Mutter war es nicht selbstverständlich, dass Frauen studieren. Heute haben wir Frauen in Deutschland die Freiheit, Bildung zu erhalten und Verantwortung zu übernehmen. Mit dieser Freiheit dürfen wir die Zukunft für viele Menschen in der Welt gestalten. Was für ein Privileg. Wenn immer mehr Menschen Mut statt persönlichen Komfort wählen, gibt mir das Hoffnung. Frauen und Männer dürfen so zusammen neue Wege gehen. Das macht mir Spaß und erfüllt mich mit Dankbarkeit.
Nachrichten-Redakteurin Katharina Käfer traf Uta Holzenkamp virtuell. Sie genoss auch über die Kamera die einladende Atmosphäre und farbenfrohe Gestaltung des BASF-Büros, die Holzenkamps Einsatz für Diversität und Chancengleichheit spiegeln.
Zur Person: Uta Holzenkamp
Uta Holzenkamp hat an der Universität Münster und der Ohio State University in den USA Chemie studiert und an der Universität Mainz in organischer Chemie promoviert. Seit 1997 arbeitet sie beim Chemiekonzern BASF, seit 2011 in Führungspositionen. Derzeit leitet sie den Unternehmensbereich BASF Coatings in Münster.
Chancengleichheit, Inklusion und Diversität fördert Holzenkamp unter ihren Mitarbeitenden, indem sie Raum schafft, über Schwierigkeiten im Alltag zu sprechen, sich auch mal verletzlich zu zeigen und offen Feedback zu geben. Mut zu machen findet sie dabei besonders wichtig.
Sie hat zwei Söhne, 22 und 24 Jahre alt. Familie und Karriere bis hin zu einer Führungsposition hat sie nach eigener Aussage vor allem deshalb gleichzeitig managen können, weil tolle Chefs und der weltbeste Ehemann sie unterstützt haben.
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