Die Stiftung Bucerius, die zum Magazin Zeit gehört, hat eine Studie zu Zensurkultur und akademischer Redefreiheit an Universitäten in Deutschland finanziert. Dazu befragte das Deutsche Zentrum für Hochschul- und Wissenschaftsforschung 54 69...
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Mit Nase, Fingern und Ohren sehen
Von Wiley-VCH zur Verfügung gestellt
Messungen und Schlussfolgerungen in der Chemie sind stark von optischen Eindrücken abhängig. Doch es gibt auch für blinde Menschen Möglichkeiten, sich mit Chemie zu beschäftigen und Experimente nachzuvollziehen.
Bei einer Titration wechselt der Indikator am Äquivalenzpunkt die Farbe. Volumina werden mit Spritze oder Bürette abgemessen. Und Messergebnisse werten die meisten am Computer aus.
Für fast alle Prozesse, mit denen Chemiker:innen im Studium oder während der Promotion zu tun haben, sind funktionierende Augen nötig. Könnte man meinen. Aber was ist, wenn ein Mensch nichts sehen kann? Ist ihm der Zugang zur Chemie versperrt? Und: Ist diese Frage nicht eigentlich schon früher entscheidend? Denn wie lässt sich blinden Kindern das Periodensystem der Elemente begreiflich machen? Wie kann ein nicht sehender Mensch das Prinzip der Chromatographie begreifen? Was lässt ihn erfassen, wo der Äquivalenzpunkt beim Titrieren ist?
Über all dies haben sich die Initiator:innen des britischen Projekts Chembam Gedanken gemacht. Und sie haben Antworten gefunden.
Das Projekt Chembam
Chembam bietet Experimente, Videos und Artikel, die kostenlos genutzt werden dürfen. Dabei verknüpft das Projekt den nationalen Lehrplan des Vereinigten Königreichs mit der Forschung in der Industrie und an Universitäten. Ins Leben gerufen hat das Projekt Zoe Schnepp. Sie ist Associate Professor für Materialchemie an der School of Chemistry, die zur Universität Birmingham gehört.
Schnepp hat Chembam im Jahr 2017 als allgemeine Ressource ins Leben gerufen, um Chemie für alle Schüler:innen interessanter zu machen. Daher eignen sich die Versuche auf Chembam.com für Kinder von unter 5 bis 18 Jahre. Und dabei sind auch Menschen mit eingeschränkter Sehfähigkeit eingeschlossen. „Mein Interesse an Sehbehinderungen wurde geweckt, als ich auf Twitter auf einen Doktoranden der theoretischen Physik stieß“, erzählte Schnepp im Rahmen des Global Women‘s Breakfast 2024. „Er twitterte viel darüber, wie es ist, Mint-Forscher mit Sehbehinderung zu sein. Und er hat ein Projekt entwickelt, bei dem Menschen Audiobeschreibungen wissenschaftlicher Abbildungen hochladen können.“ Vielleicht ein Zeichen – auf jeden Fall ein Anreiz.
Was gibts?
Auf der Chembam-Website gibt es Experimente für Kinder unterschiedlicher Altersstufen: unter 5; 5 bis 7; 7 bis 11; 11 bis 14; 14 bis 16 und 16 bis 18. Dabei ist jeweils angegeben, wie die Lehrende den Versuch vorzubereiten hat und wie er sich variieren lässt.
Soll mit Menschen experimentiert werden, die nur eingeschränkt sehen können, gibt es auf Chembam einige Tipps: etwa zu Etikettierung, Volumen- und Massenmessung, Farbe, Sicherheit und Logistik. Da findet sich zum Beispiel ein Periodensystem, das aus einer Art Legosteinen besteht. Die Säulen der einzelnen Gruppen und Perioden sind unterschiedlich hoch – und zudem farbig.
Statt geschriebener Etiketten oder Skalen lassen sich beispielsweise selbstklebende Gummipunkte nutzen, die es in verschiedenen Formen und Größen gibt. Da könnte der kleinere Punkt ein 5-mL-Schritt auf einer Bürette sein und der größere alle 10 mL markieren. Diese Variante eignet sich auch für diejenigen, die keine Braille-Schrift „lesen“ können.
Während solche Kennzeichnungen noch vergleichsweise einfach erscheinen, wird es bei Chromatographie schwieriger. Doch dazu liefert Chembam gleich zwei Ideen. Die erste ist eine taktile Variante. Benötigt werden ein Acrylrohr, selbstklebendes Klettband, Wollfilzkugeln und Plastikmurmeln. Das Klettband wird in Streifen geschnitten und im Rohr angebracht. Dann werden die Kugeln von oben eingefüllt. Befinden sich ausreichend Klettstreifen an genügend Stellen, sollten die Kunststoffkugeln gerade durchfallen, während die Filzkugeln stecken bleiben. Dies lässt sich ertasten.
Eine zweite Chromatographie-Variante funktioniert mit der Nase: Hier dient die Zwiebel als multisensorischer Indikator, denn Zwiebelsaft verändert sowohl Geruch als auch Farbe am Endpunkt der Titration. Der Umschlagpunkt entspricht dabei nahezu dem von Phenolphthalein. Knoblauch liegt noch näher an dessen Verlaufskurve.
Wer sich wundert, warum ein Farbumschlag auch für Seheingeschränkte wichtig sein könnte: Für Titrationen sind Apps entwickelt worden. Ein Beispiel ist die Software Titration Colorcam, die sich kostenlos auf das Smartphone laden lässt. Sie benachrichtigt akustisch oder über Vibration, wenn die Titration den Äquivalenzpunkt erreicht.
Chemie studieren mit Sehbeeinträchtigung
Stark sehbehindert oder blind sein muss auch im Chemiestudium kein unüberwindbares Hindernis sein. Das haben sich zumindest die Verantwortlichen an der Universität Marburg gedacht: Hier gibt es seit Juli 2023 einen Tactonom-Reader und einen Schwellkopierer. Der Reader ist ein interaktives Grafiklesegerät, mit dem sich auf tastbare Grafiken zugreifen lässt.
Wo kommen diese Grafiken her? Dazu braucht es beschichtetes Papier, das auf der einen Seite glatter ist als auf der anderen. Diese Seite lässt sich mit einem normalen Drucker bedrucken. Anschließend kommt das bedruckte Papier in einen Schwellkopierer, der alles, was auf dem Papier schwarz war, tastbar macht. Nötig ist auch ein QR-Code auf dem Papier, den die Kamera des Tactonom-Readers als Bezugspunkt nutzt.
„Auf dem Papier sind mehr Informationen als die, die man sehen kann“, erklärt Sofia Raible. Die Masterstudentin ist studentische Hilfskraft im Projekt Math4VIP und erstellt in dessen Rahmen taktile Grafiken. „Beispielsweise liegen auch Informationen hinter unsichtbaren Feldern.“ Das System hilft Sehbeeinträchtigten, den Inhalt einer Grafik zu verstehen, indem es Elemente erklärt, die der Finger ertastet. Dazu erkennt eine Kamera die Position des Fingers, und das System liest die für diese Stelle auf der Website hinterlegten Zusatzerklärungen punktgenau aus.
Diese Zusatzerklärungen erstellen Doktorand:innen oder studentische Hilfskräfte und hinterlegen sie in einem Onlineportal, mit dem der Reader verknüpft ist. So kann der Nutzer ohne fremde Hilfe in eigener Geschwindigkeit und interaktiv auf Informationen zugreifen, sie verstehen, mit ihnen lernen und arbeiten. Das Portal ist so gestaltet, dass selbst bei copyrightgeschützten Inhalten blinde Nutzer:innen noch darauf zugreifen, sie herunterladen und nutzen dürfen.
Als Basis der Grafik dienen beispielsweise mit Chemdraw erstellte Schemata. „Grundsätzlich lässt sich auch Handgezeichnetes übertragen“, sagt Gina-Marie Eichhoff. „Das muss dann aber schön sein.“ Eichhoff ist die erste blinde Studentin am Fachbereich Chemie der Universität Marburg und absolviert im Wintersemester 2024/25 das sechste Fachsemester des Bachelorstudiengangs. Manchmal bekomme man auch im Vorfeld die Folien der Dozent:innen, sagt sie, aber das hänge eben vom Lehrenden ab.
Laut dem ebenfalls blinden Kai Kortus, wissenschaftlicher Mitarbeiter im Projekt Math4VIP, ist es damit aber meist nicht getan. Denn wir haben in unseren Fingern viel weniger Sensorik und können viel weniger erfassen, als wir mit der Netzhaut sehen können: „Wenn ich 80 verschiedene Punkte habe, die ich als Sehender sehe, ist es sinnvoll, diese 80 Punkte auf fünf bis acht zu reduzieren, mit denen sich das Prinzip genauso erkennen lässt, die sich aber ertasten lassen.“ Daher gebe es kein vollautomatisiertes Verfahren, das Skripte in Grafiken übersetzt. „Man muss eben noch methodisch und didaktisch mit ein bisschen Sachverstand darangehen – einfach ausdrucken reicht nicht.“
Dennoch ist ein tastbares Periodensystem, wie es am Marburger Arbeitsplatz hängt, hilfreich (Foto).
Grundlegende Bedürfnisse
Kortus sagt, Studierende mit Blindheit und Sehbehinderung seien in Mint-Fächern deutlich unterrepräsentiert – bundesweit seien es vielleicht zwei Hände voll. „Ich glaube, dass es nicht an Begabung mangelt, sondern dass die Förderung, die Mittel und die Möglichkeiten dafür fehlen.“ Den Tactonom-Reader etwa gibt es erst seit dem Jahr 2023, aber der habe eher eine Sonderstellung. „Man bräuchte eigentlich Echtzeit-Braille-Displays, die zweidimensionales Arbeiten in hoher Geschwindigkeit ermöglichen“, sagt Kortus, „also solche, die mindestens A4 groß sind und wo ich die Punkte schnell verändern kann.“ Die bisherigen bräuchten bis zu acht Sekunden, bis sich etwas verändert – „da kann ich praktisch nicht so schnell arbeiten, wie das am Bildschirm geht.“ Die Echtzeit-Braille-Displays wären ideal, um Konzepte und Sachen darauf zu laden, die zusätzlich mit einer akustischen Datenbank verknüpft sind. Die, die es jetzt gibt, seien nicht nur langsam, sondern auch fehleranfällig und zu teuer – sie kosten zwischen 40 000 und 80 000 Euro.
Tatsächlich sei dies aber eines der gehobenen Probleme: Derzeit versucht Kortus, Geld für die Entwicklung eines barrierefreien Taschenrechners einzuwerben. Denn den gibt es bislang nicht, obwohl er schon für Schüler:innen nützlich wäre – ganz zu schweigen von Mint-Studierenden.
Wer sehen möchte, wie der Tactonom-Reader funktioniert, findet hier ein Video:
Das JCF-Podcast-Team hat Gina-Marie Eichhoff interviewt – und außerdem Lukas Guggolz, der dauerhaft im Rollstuhl sitzt (Nachr. Chem. 2022, 70(6), 8), und Falk Seidel, der an Fibromyalgie erkrankt ist (Nachr. Chem. 2022, 70(7/8), 13). Zu hören in der Folge „Karriere mit Barriere“ unter t1p.de/lvbsm
Wer die Entwicklung eines barrierefreien Taschenrechners unterstützen möchte, meldet sich bei Kai Kortus: kontakt@Math4vip.de
Auch Spenden sind möglich:
IBAN: DE 50 5005 0000 0001 0064 44
Verwendungszweck: Fondsnummer 81203176 (barrierefreier Zugang zur Mathematik)
Einblick: Wenn Farben kaum zu unterscheiden sind
Das menschliche Auge hat drei Arten von Zapfenzellen. Diese exprimieren Opsin-Gene, die hauptsächlich für Rot, Grün oder Blau empfindlich sind. Opsine sind lichtempfindliche Proteine, die sich in den Photorezeptoren der Netzhaut (Retina) befinden. Ist die Funktion eines dieser Opsine gestört oder nicht vorhanden, liegt Farbenblindheit vor – vier Prozent der Weltbevölkerung sind von irgendeiner Form betroffen.
Von Farbenblindheit gibt es drei Arten, bei denen etwas mit den Grün-, Rot- oder Blau-Zapfen nicht stimmt. Sind sie defekt, spricht man von Deuteranomalie, Protanomalie und Tritanomalie; darunter leiden 2,32 Prozent, 0,54 Prozent beziehungsweise 0,02 Prozent der Weltbevölkerung. Sind die entsprechenden Zapfen nicht vorhanden, heißt dies Deuteranopie, Protanopie und Tritanopie (0,64, 051 beziehungsweise 0,01 Prozent der Weltbevölkerung).1)
Die Rot-Grün-Sehschwäche oder -Blindheit dagegen ist eine erbliche Farbenfehlsichtigkeit. Davon sind etwa 9 Prozent aller Männer und etwa 0,8 Prozent aller Frauen betroffen (zum Vergleich: eine vollständige Farbenblindheit, Achromatopsie, kommt nur mit einer Wahrscheinlichkeit von 1:100 000 vor).2)
Die Fähigkeit zum Unterscheiden von Rot und Grün wird durch das 23. Chromosom, das X-Chromosom, weitergegeben. Liegt nur ein X-Chromosom vor, ist der Effekt voll ausgeprägt; gibt es ein zweites, nicht defektes X-Chromosom, gleicht dieses den Defekt des anderen aus. Da beim Mann jedoch normalerweise kein zweites X-Chromosom vorliegt, das den Defekt kompensieren könnte, besteht diese Form der Farbenfehlsichtigkeit deutlich häufiger bei Männern als bei Frauen.2)
Die gute Nachricht: Egal, von welcher Farbenfehlsichtigkeit ein Mensch betroffen ist – mit der richtigen Farbpalette lässt sich trotzdem einiges erkennen. Ein Vorschlag für eine geeignete Farbkombination findet sich auf Jfly, dem Datenrepositorium für Drosophila-Forscher der Universität Köln. Hier haben Masataka Okabe, Jikei Medial School Japan, und Kei Ito, Universität Tokio, zusammengestellt, wie sich Abbildungen und Präsentationen auch für Farbfehlsichtige ansprechend aufbereiten lassen.3) Beide sagen von sich selbst, „starke Protanopen“ zu sein. Wie sich das auf die Farbwahrnehmung auswirkt, zeigt die Abbildung.Links: Diese Farbpalette ist für alle Farbeingeschränkten gut erkenn- und unterscheidbar, auch wenn nicht jede:r die Farben so sieht, wie sie sind. Protan, Deutan, Tritan: Rot-, Grün- beziehungsweise Blau-Zapfen sind defekt oder fehlen. Rechts: Werte für verschiedene Farbräume (CMYK, RGB) in verschiedenen Programmen. Bild: entnommen aus Quelle 3)
Abgesehen von den richtigen Farben erleichtert es Farbfehlsichtigen, wenn beispielsweise Linien in einem Diagramm nicht alle glatt verlaufen, sondern etwa aus Punkten, Strichen oder Dreiecken bestehen. Auch dünne Linien sind schwierig zu erfassen. Gut sind dagegen dicke Linien und starke Kontraste.
Die Autorin
Nachrichten-Redakteurin Eliza Leusmann verfolgt weiterhin, was an ihrer Alma Mater vor sich geht.
- 1 extensis.com, Kurzlink: t1p.de/az0a4
- 2 wikipedia.org, Kurzlink: t1p.de/vemuq
- 3 jfly.uni-koeln.de/color/#pallet
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