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Kambrische Werkstoff‐Explosion

Nachrichten aus der Chemie, Januar 2024, S. 42-44, DOI, PDF. Login für Volltextzugriff.

Von Wiley-VCH zur Verfügung gestellt

Eine plastikmüllfreie Welt wünschen sich viele. Erste Schritte dorthin gingen die Aussteller und Besucher auf einer Messe in Köln. Beispiele sind biobasierte Polyole, bioabbaubare Schraubdeckel und Beschichtungen, die zwar Fett abhalten, sich in Wasser aber auflösen.

Auf der Messe Plastic Waste Free World Anfang November in Köln ist einiges anders als erwartet – zumindest, wenn man sich darunter eine Sisal-Hanf-Holzwolle-Veranstaltung vorgestellt hat. Es ist ganz einfach: Wer Plastikmüllstrudel im Pazifik vermeiden will, braucht Chemie. Denn all die nachhaltigen, neuen Werkstoffe, die an die Stelle der alten, umweltpersistenten Polyamide, Polyurethane oder Polyolefine treten sollen, muss jemand entwickeln.

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Blick über die Messe Plastic Waste Free World Anfang November in Köln. Fotos: Albus

Duftende Badelatschen

Die Faser-Fraktion zeigt sich während der Messe zum Beispiel in Gestalt von Unternehmen, die Hanf und Co. zu Verpackungsmaterialien verarbeiten. Um Transportkosten zu sparen, ernten sie die Pflanzen genau da, wo das Zeug später gebraucht wird. An den Ständen der Faser-Fraktion gibt es Überraschendes, darunter Badelatschen aus einem elastischen, biologisch abbaubaren Material (Foto rechts unten). „Riechen Sie mal dran“, sagt die Dame hinter dem Tresen – und tatsächlich, die Sandalen duften nach einer Mischung aus Heu und Vanille-Griespudding.

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Badeschlappen aus einem der vermutlich weltweit ersten flexiblen und dennoch vollständig kompostierbaren Materialien (Biocir) von Balena, einem materialwissenschaftlich orientiertem Start-up aus Israel. Der Geruch erinnert eher an Essbares denn an Kunststoff.

An einigen Ständen wird Holz ein Loblieb gesungen – speziell der Cellulose. Bei Sappi etwa, einem 45 000 Mann starken Unternehmen, das eigentlich aus der Forstbranche kommt, will man mit Cellulose-Fibrillen „aus eigenen Bäumen aus zertifiziertem Anbau“ einen neuen Heilsbringer für die Herstellung von Kosmetika auf dem Markt installieren (Valida, Foto Seite 54 oben). Der soll das Mikroplastikproblem der Branche lösen. Und aus getrockneten, hochverdichteten Cellulosefasern lassen sich wohl über lange Zeit nutzbare Schraubdeckel für Getränkeflaschen zaubern (Blueocean Closures), die nicht in Wasser aufquellen.

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Kunststofffreie und sogar vegane Formulierungen für die Kosmetik waren zu sehen am Stand von Sappi. Der Konzern verdient sein Geld eigentlich mit Holz, sucht aber mit Cellulosefibrillen als Kunststoffersatz neue Märkte.

Viele Start-ups am Start

Die eigentliche Musik spielt dieses Jahr bei Werkstoff-Fachleuten, die sich auf nachhaltige Kunststoffe spezialisiert haben. Zum Beispiel bei Global Innovations Germany, wo Key-Account-Managerin Anne Couraud ein neues Copolymer zeigt, das auf Polybutylensuccinat (PBS, Foto S. 44 oben) basiert. „Erdabbaubar und trotzdem für die Spülmaschine geeignet“, erklärt sie. Obendrein mit erdabbaubaren Farben gefällig einzufärben. Und am Ende seines Produktlebens zerfalle es „ohne Mikroplastik“.

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Das Unternehmen Global Innovations Germany bietet auf Polybutylensuccinat basierendes Copolymer an. Rohstoffe sind etwa Sonnenblumenkernschalen (2. Reagenzglas von links) oder Holzabfall (3. Reagenzglas von links).

Die Firma beschäftigt gerade mal zehn Leute. Damit setzt das kleine Start-up mit dem selbstbewussten Namen einen Trend: Immer wieder ist auf der Messe zu hören, dass „große Player“ sich dieses Jahr rar machen. Dafür sind in der Messehalle mehr junge Leute zu sehen als in der Mensa mancher Uni: optimistische junge Menschen, zum Teil mit frischem Masterabschluss, die hier mit ihren Ideen an die Öffentlichkeit treten.

Kleine Teams

Milja Hannu-Kuure, Gründerin und CEO von Brightplus aus Finnland. Sie und ihr 20 Leute starkes Team wollen fossile Werkstoffe aus Beschichtungen verbannen. Ihre biobasierten Lacke kommen ohne toxische Metalle aus und könnten nebenbei das Glasrecycling erleichtern; denn farbige Lacke könnten Farbunterschiede ausgleichen.

Das Unternehmen U. Windmöller Innovation beschäftigt sechs Menschen, die biobasierte Polyole für Polyurethan (PUR) entwickeln. Um ihren Stand herum gab es Start-ups sogar im Bundle, denn diese Polyurethan-Experten waren beim Netzwerk Biotechnologie Nordrhein-Westfalen (BIO.NRW) untergekommen, einem der Co-Gastgeber der Show. Dieser hatte sich etwa 250 Quadratmeter von den rund 2000 in diesem Jahr bespielten abgezwackt. Hier hält man die Fahne der Biochemie hoch: „Enzymatische Produktionsprozesse“, sagt Nils Schrader von BIO.NRW, „laufen bei niedrigen Temperaturen – und sparen damit Energie. Dabei gibt es keine toxischen Nebenströme.“

Nicht nur im NRW-Wirtschaftsministerium erwartet man sich von der Initiative einen Impuls für den nächsten Strukturwandel in der Region – schließlich muss man raus aus der Braunkohle.

Nachhaltigkeit fest eingebaut

Auf der Messe gibt es nicht nur Biochemiker, sondern auch erstaunlich viele IT-Experten, darunter Georg Strömer von LIMS@Work. Er unterstützt Start-ups dabei, ihre Prozesse zu etablieren. „Die kommen ja meist von der Uni. Und haben eine Menge Knowhow, aber schon das Scale-up ist oft eine große Herausforderung. Die brauchen Beratung auch von der Datenseite, damit die von Anfang an mit den Großen mithalten können.“

Smarte Ideen kommen auch von gestandenen Firmen. Das inhabergeführte Unternehmen Gabriel-Chemie aus Österreich stellt granulierte Kunststoffadditive her (Masterbatch). Auf der Messe zeigt es eine kompostierbare Folie (Polylactid, PLA), die mit einem Superabsorber ausgerüstet ist. Dieser ist ein Abfallprodukt der Celluloseherstellung und bindet das Zwanzigfache seines Gewichts in Form von Wasser. Damit ausgestattete Anbauflächen sollen Regenwasser länger festhalten. Das ist in Zeiten sinkender Grundwasserspiegel, in denen darüber nachgedacht wird, Erdbeeranbau zu verbieten, eine feine Idee. Die Firma sucht hierfür noch nach Partnern.

Übrigens setzt sie „Nachhaltigkeit“ nicht automatisch mit „bioabbaubar“ gleich. Der Ansatz lautet: Ein Metallic-Masterbatch der Firma etwa erspart dem Kunststoffverarbeiter den Transport zum Beschichter. Auch so ließen sich Emissionen verringern.

Kunststoffe sind wie Batterien

Ein Begriff, der an vielen Ständen zu hören war: Der Begriff des Greenwashings. Gemeint ist das Vorspiegeln umweltfreundlicher Lösungen, um Kunden zu leimen. Ein Beispiel, wie man es nach Ansicht einiger Aussteller eben nicht machen sollte, ist Einwickelmaterial, das zwar aus Papier besteht, aber mit einer herkömmlichen Kunststofffolie zum Abdichten versehen und damit insgesamt schlecht zu recyceln ist. Firmen wie Amynova dagegen bieten Barrierebeschichtungen aus stärkebasierten Biopolymeren. In damit beschichtetem Papier lässt sich Backfisch einwickeln, ohne dass man Fettfinger bekommt. Wasserfeste Beschichtungen etwa für Kaffeebecher sind aber wohl noch ein Problem, denn die seien dann ja nicht mehr wasserlöslich und daher nur schwer biologisch abzubauen.

Besonders optimistisch, was sich mit biobasierten Kunststoffen anfangen lässt, war dieses Jahr wohl Stefaan de Wildeman von der belgischen Firma B4Plastics. Er und seine Kollegen klopfen die Natur nach „Agro-Waste“ ab. So nennen sie Bausteine, aus denen sich per Polykondensation Polymere herstellen lassen – 500 sollen bereits in den Schubladen liegen.

Aus diesen konstruiert das Team dann je nach Kundenanforderungen bioabbaubare Kunststoffe, die auch ungewöhnlichen Anforderungsprofilen gerecht werden sollen. Die Belgier wissen gleichzeitig immer, wie sie sich später abbauen lassen.

Seit kurzem gibt es zum Beispiel einen spritzgussfähigen gummiartigen Rohstoff, dessen Eigenschaften irgendwo zwischen denen von Polyurethanen, Copolyestern und thermoplastischen Elastomeren (TPU, TPC und TPE) liegen. „Ich gehe davon aus, dass man unsere biobasierten Alternativen in 70 bis 90 Prozent aller technischen Anwendungen einsetzen kann“, sagt de Wildeman. Vorausgesetzt, die wirtschaftlichen Vorgaben erlaubten das und die Profite stünden nicht zu sehr unter Druck.

Für den Belgier sind Kunststoffe eine Art Batterie: „Batterien lädt man mit Strom auf und nutzt sie, bis sie leer sind. Dann lädt man sie wieder auf. Kunststoffe sind Werkstoffe, die man mit einer Funktion auflädt. Und wenn man die Funktion nicht mehr benötigt, fertigt man daraus etwas Neues, das man wieder mit einer Funktion auflädt.“

Ein regulatorisches Problem seien biologisch abbaubare Werkstoffe, die nicht in sechs Monaten zerfallen, sondern zwei, drei Jahre dafür brauchen. „Wir wollen ja, dass unsere Kleidung und unsere Schuhe eine Weile halten“, sagt der Manager. Hier müsse die EU vielleicht noch nacharbeiten. Seine stabilsten Varianten bräuchten eine ganze Weile, bis sie zerfallen seien. Aber die „Mikroplastik-Phase“ bei der Zersetzung sei um den Faktor 100 verkürzt, darauf komme es doch an.

Reichhaltiges Menü

Die Messe Plastic Waste Free World bietet viele Ideen auf engem Raum – und dabei war hier von der begleitenden, dreisträngigen Tagung noch nicht einmal die Rede. Das Menü war reichhaltig: von Neuigkeiten von der Regulierungsfront bis hin zu hydrolysierten Proteinen für die Folienherstellung. Es bleibt der Eindruck, dass hier eine Branche aus ihren Kinderschuhen herauswächst. Es brodelt, knallt und zischt – eine Art kambrische Explosion der Werkstoff-Evolution.

Im kommenden Jahr wollen die Anbieter ihr Programm stärker fokussieren, etwa mit einer eigenen Tagung über „Nachhaltige Werkstoffe“ und einer weiteren über „Nachhaltige Chemie“.

Der Autor

Der promovierte Chemiker Stefan Albus arbeitet seit dem Jahr 1997 als Wissenschafts- und Fachjournalist für große und kleine Unternehmen der Kunststoffbranche sowie etliche Fachmedien. Für die Nachrichten aus der Chemie besuchte er die Messe Plastic Waste Free World. Seinen Bericht von dort bearbeitete Maren Bulmahn.

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