Gesellschaft Deutscher Chemiker
Keine Benachrichtigungen
Sie haben noch keine Lesezeichen
Abmelden

Artikel

Berufsvorbereitung im Chemieunterricht

Nachrichten aus der Chemie, Januar 2024, S. 29-31, DOI, PDF. Login für Volltextzugriff.

Von Wiley-VCH zur Verfügung gestellt

In Bezug auf den Fachkräftemangel kommt Schüler:innen als künftigen Arbeitskräften eine bedeutende Rolle zu. Inwiefern fühlen sie sich durch ihren Unterricht darauf vorbereitet, einen chemiebezogenen Beruf zu ergreifen? Wie stark interessieren sich Schüler:innen am Ende der Sekundarstufe I für chemiebezogene Berufe? Eine Umfrage in Schleswig-Holstein gibt einen Einblick.

In den Mint-Fächern mangelt es an qualifiziertem Fachpersonal. Der Frauenanteil ist klein und stagniert; Absolvent:innenzahlen sinken.1) Wie das Mint-Nachwuchsbarometer 2023 zeigt, gibt es Handlungsbedarf unter anderem hinsichtlich Geschlechterdisparitäten, Benachteiligung aufgrund von Migration und sinkender Studierendenzahlen, beispielsweise bei Mint-Lehramtsstudiengängen.2)

Dabei haben (angehende) Lehrkräfte eine wichtige Funktion: Sie wirken als Multiplikator:innen für das jeweilige Fach. Fehlen Lehrkräfte, die Schüler:innen für das Fach Chemie begeistern, könnte sich der Fachkräftemangel verschärfen.

Für viele Schüler:innen ist der Chemieunterricht die erste Begegnungsstätte mit der Fachdisziplin Chemie. Hier gewinnen sie erste Einblicke, welche Anforderungen chemiebezogene Berufe mit sich bringen. Den Bildungsstandards Chemie für den mittleren Schulabschluss zufolge sollen Schüler:innen in der Sekundarstufe I beispielsweise lernen, Berufsfelder und Anwendungsbereiche darzustellen, in denen chemische Kenntnisse bedeutsam sind.3)

Der Chemieunterricht soll nicht nur fachliche Grundkenntnisse vermitteln, sondern auch Interesse und Faszination für das Fach wecken. Gelingt dies, beschäftigen sich Schüler:innen über die Schule hinaus mit chemiebezogenen Fragen und Themen und könnten einen entsprechenden Berufswunsch entwickeln.4)

Schüler:innen befragen

Als künftige Arbeitnehmer:innen hat die jetzige Generation an Schüler:innen eine besondere Bedeutung im Kampf gegen den Fachkräftemangel. Inwiefern findet im Chemieunterricht eine Berufsorientierung statt, sodass Schüler:innen eine Vorstellung von chemiebezogenen Berufsbildern entwickeln? Inwieweit fühlen sich Schüler:innen durch ihren Chemieunterricht darauf vorbereitet, einen chemiebezogenen Beruf wie Chemielaborant:in zu erlernen oder ein entsprechendes Studium wie Pharmazie oder Biochemie zu beginnen? Ist das Interesse an chemiebezogenen Berufen so gering, wie es scheint?

https://media.graphassets.com/bTT7UDLyRdFJO8XEJPgi
Chemielaborantin bei der Arbeit.

In Schleswig-Holstein wurden dazu 1272 Schüler:innen am Ende der Sekundarstufe I befragt, also vor dem Übergang in die Oberstufe oder vor dem Erreichen eines mittleren Schulabschlusses. Die an der Befragung teilnehmenden Schulen wurden zufällig ausgewählt und sind über das gesamte Bundesland verteilt. 46,5 Prozent der Schüler:innen besuchten zum Zeitpunkt der Erhebung eine Gemeinschaftsschule und 53,5 Prozent ein Gymnasium. Somit sind die beiden weiterführenden Schularten, die es in Schleswig-Holstein gibt (Kasten S. 30), zu etwa gleichen Teilen in der Stichprobe vertreten.

Berufsinteresse, -vorbereitung und -orientierung allgemein

Die erhobenen Daten lassen sich in zwei Skalen unterteilen: eine für das Berufsinteresse und eine für die von den Schüler:innen wahrgenommene Berufsvorbereitung und -orientierung im Unterricht.

Das Interesse an chemiebezogenen Berufen ist insgesamt in der untersuchten Gruppe gering: 66,67 Prozent der Befragten haben kein Interesse an einem chemiebezogenen Beruf, weitere 21,43 Prozent nur geringes. Demgegenüber stehen 3,78 Prozent, die großes oder sehr großes Interesse kundtun (obere Grafik).

https://media.graphassets.com/yJ63h5E0T0qsGxa7JKyT
Häufigkeitsverteilung der Antworten der zum Thema Chemieberufsinteresse befragten Schüler:innen.

Die von den Schüler:innen wahrgenommene Berufsvorbereitung und -orientierung (Mittelwert M = 2,33; Standardabweichung SD = 0,84; Stichprobengröße N = 1213) hat einen etwas höheren Mittelwert als das Berufsinteresse (M = 1,65; SD = 0,88; N = 1218). Insgesamt sind aber auch die Werte zur Berufsvorbereitung eher im unteren Wertebereich einzuordnen (untere Grafik). Daraus lässt sich schließen: Im Chemieunterricht gelingt es derzeit nur zu einem sehr kleinen Teil, Schüler:innen für chemiebezogene Berufe zu begeistern, ihnen chemiebezogene Berufsbilder nahezubringen und sie darauf vorzubereiten.

https://media.graphassets.com/rOMwzOqeTiqs9i23IR6E
Bietet der Chemieunterricht eine gute Berufsorientierung und fühlen sich Schüler:innen gut auf chemiebezogene Berufe vorbereitet? Häufigkeitsverteilung der Antworten der befragten Schüler:innen.

Auch andere Studien zeigen, dass Schüler:innen berufsorientierenden Inhalt im Unterricht für unzureichend halten.z.B.5) Ein Grund könnte sein, dass Lehrkräfte die Fachdisziplin Chemie meist selbst nur im schulischen und universitären Kontext kennengelernt haben und darüber hinausgehende Berufsfelder meist nicht tiefergehend überblicken. Es scheint daher sinnvoll, mit außerschulischen Betrieben, Berufsschulen oder ähnlichem zu kooperieren, um angemessene Einblicke in chemiebezogene Berufsfelder geben zu können, die über die (Hoch-)Schule hinausgehen.

Fachbezogene Selbstwirksamkeitserwartungen

In der Umfrage wurden auch fachbezogene Selbstwirksamkeitserwartungen der Schüler:innen erfasst und mit dem Berufsinteresse und der Berufsvorbereitung oder -orientierung in Beziehung gesetzt. Die Selbstwirksamkeitserwartungen sind Teil des Selbstkonzepts einer Person und in diesem Zusammenhang wichtig. Denn entwicklungspsychologischen Berufswahltheorien wie der von Gottfredson zufolge ist die Entwicklung eines (beruflichen) Selbstkonzepts zentral bei der Berufswahl.4,6)

Das berufsbezogene Selbstkonzept setzt sich zusammen aus antizipierten beruflichen Möglichkeiten, die beispielsweise der Chemieunterricht aufzeigen sollte. Denn Berufsmerkmale müssen bekannt sein, „um diese im Hinblick auf [das] Selbstkonzept zu beurteilen sowie innerhalb des möglichen Suchraums integrieren zu können“.5) Nicht bekannte Berufsaspekte bleiben im Prozess der Berufsorientierung andernfalls unberücksichtigt.5)

Zudem setzt sich das (berufsbezogene) Selbstkonzept aus Wissen über die eigenen Fähigkeiten, Werte und Interessen zusammen. Hier sind die Selbstwirksamkeitserwartungen wichtig, die als subjektive Überzeugung eines Menschen, eine gewünschte Handlung mit den eigenen Fähigkeiten erfolgreich bewältigen zu können, Teil des Selbstkonzepts einer Person sind.7) Entscheidend ist dabei das Zutrauen in die eigenen Fähigkeiten, und nicht, welche Fähigkeiten die Person tatsächlich besitzt.

Die Schüler:innen wurden sowohl zu fachinhaltsbezogenen Selbstwirksamkeitserwartungen befragt als auch zu Selbstwirksamkeitserwartungen zum Experimentieren im Chemieunterricht.8) Alle erfragten Skalen zu den chemiebezogenen Selbstwirksamkeitserwartungen zeigen signifikante positive Zusammenhänge mit dem Berufsinteresse der Schüler:innen und der subjektiv wahrgenommenen Berufsvorbereitung oder -orientierung. Ziel des Chemieunterrichts kann es also auch sein, das Fähigkeitskonzept von Schüler:innen im Bereich Chemie zu stärken und somit indirekt die Berufswahl positiv zu beeinflussen.

Angestrebter Schulabschluss

Wie eine genauere Betrachtung der Daten zeigt, haben Schüler:innen, welche die Schule voraussichtlich nach der Sekundarstufe I (mit einem mittleren Schulabschluss) verlassen und nicht in die Oberstufe wechseln, ein geringeres Berufsinteresse (Signifikanzwert p < 0,001 (bei p < 0,05 ist der Unterschied signifikant); Effektstärke d = 0,407; Stichprobengröße NSekI = 206; Mittelwert MSekI = 1,36; NSekII = 1002; MSekII = 1,72) und nehmen eine schlechtere Berufsvorbereitung wahr (p<0,001; d=0,335; NSekI=203; MSekI=2,1; NSekII=1000; MSekII=2,38). Diese Gruppe von Schüler:innen geht dem Arbeitsmarkt somit vermutlich verloren. Sie könnte künftig stärker in den Fokus genommen werden, um neue Arbeitskräfte zu gewinnen.

Geschlechterdisparitäten

Erstaunlicherweise gibt es in der Stichprobe im Berufsinteresse im Mittel keine Unterschiede hinsichtlich der Geschlechter (p=0,167). Jungen und Mädchen zeigen gleichermaßen ein äußerst geringes Berufsinteresse. Die Berufsvorbereitung empfinden die befragten Jungen allerdings als etwas besser als die befragten Mädchen. Die Unterschiede hier sind zwar statistisch signifikant (p=0,033), aber die Gruppen unterscheiden sich nur mit einem schwachen Effekt (d=0,124).

Diskussion

Die hier dargestellten Befunde spiegeln lediglich die subjektiven Selbsteinschätzungen und Wahrnehmungen der Schüler:innen. Insgesamt gibt es in Schleswig-Holstein vergleichsweise wenige Betriebe der chemischen Industrie. Nur zirka 13 Prozent aller Beschäftigten der Chemie-, Pharma- und Kunststoffindustrie in Deutschland stammen aus Norddeutschland.9)

Neben der Schule ist das häusliche Umfeld der Schüler:innen entscheidend. Schüler:innen in Schleswig-Holstein haben dort jedoch vermutlich wenig Berührungspunkte und Kontakte zu klassischen chemiebezogenen Berufen. Interessant wäre es daher zu untersuchen, ob es hinsichtlich des Berufsinteresses ähnliche Befunde bei Schüler:innen gibt, die beispielsweise in Metropolregionen der chemischen Industrie leben und im häuslichen Umfeld stärkeren Kontakt zu chemiebezogenen Berufen haben.

INFO: Schularten in Schleswig-Holstein

In Schleswig-Holstein gibt es zwei Arten weiterführender Schulen: das Gymnasium und die Gemeinschaftsschule. An der Gemeinschaftsschule können alle Bildungswege verfolgt werden. Es gibt Gemeinschaftsschulen, die nur bis zur 10. Klasse unterrichten, und es gibt Gemeinschaftsschulen, denen eine gymnasiale Oberstufe angegliedert ist, sodass die Schüler:innen dort neben dem ersten und mittleren Schulabschluss auch das Abitur ablegen können.

Die Autorin

Hanne Rautenstrauch, Jahrgang 1990, ist seit 2013 wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Arbeitsgruppe von Maike Busker an der Universität Flensburg und promovierte dort im Jahr 2017. Ihre Forschungsinteressen liegen in der Entwicklung von Experimenten mit Alltagsmaterialien, digitalen Medien und dem fachfremden Unterrichten. Sie studierte Biologie sowie Chemie und hat den Master of Education für das Lehramt an Realschulen.https://media.graphassets.com/iDznOqjTaOvSlKKJoGDT

hanne.rautenstrauch@uni-flensburg.de

AUF EINEN BLICK

Schüler:innen in Schleswig-Holstein haben am Ende der Sekundarstufe I wenig Interesse an chemiebezogenen Berufen und nehmen nur wenig Berufsvorbereitung und -orientierung im Unterricht wahr.

Die Berufsvorbereitung und das Aufzeigen von Berufsbildern mit chemiebezogenen Tätigkeiten könnten und sollten einen höheren Stellenwert im Chemieunterricht einnehmen.

Das Selbstkonzept der Schüler:innen zu stärken, könnte sich indirekt positiv auf das Berufsinteresse und die wahrgenommene Berufsvorbereitung auswirken.

  • 1 C. Anger, J. Betz, E. Kohlisch, A. Plünnecke, www.iwkoeln.de/fileadmin/user_upload/Studien/Gutachten/PDF/2022/MINT-Herbstreport_2022.pdf (Stand 19.10.2023)
  • 2 Acatech, Joachim Herz Stiftung (Hrsg.), www.joachim-herz-stiftung.de/fileadmin/user_upload/MINT_Nachwuchsbarometer_2023.pdf (Stand 19.10.2023)
  • 3 KMK – Ständige Konferenz der Kultusminister der Länder in der Bundesrepublik Deutschland, Beschlüsse der Kultusministerkonferenz: Bildungsstandards im Fach Chemie für den mittleren Schulabschluss. Beschluss vom 16.12.2004. Luchterhand. 2004
  • 4 L. S. Gottfredson, Gottfredson’s theory of circumscription, compromise, and selfcreation. In: D. Brown (Hrsg.), Career choice and development, 4th ed. San Francisco, 2002, 85–148
  • 5 G. T. Kuscher, www.bwpat.de/ausgabe38/guenther_kuscher_bwpat38.pdf (Stand 19.10.2023)
  • 6 D. E. Super, A life-span, life-space approach to career development. In D. Brown, L. Brooks (Hrsg.), Career choice and development, 2nd ed. San Francisco, CA: Jossey-Bass, 1990, 197–262
  • 7 A. Bandura, Self-efficacy. In V. S. Ramachaudran, (Hrsg.), Encyclopedia of human behavior. Band 4. San Diego: Academic Press, 1994, 71–81
  • 8 H. Rautenstrauch, M. Busker, CHEMKON 2023; doi: 10.1002/ckon.202100068
  • 9 K. Schmid, DGB-Studie: Industriepolitik gestalten – Den Norden zur Modellregion machen – mutig und entschlossen. Eine Bestandsaufnahme der industriellen Entwicklung und Handlungsempfehlungen für die Herausforderung Transformation, 2022

Bildung + Gesellschaft

Überprüfung Ihres Anmeldestatus ...

Wenn Sie ein registrierter Benutzer sind, zeigen wir in Kürze den vollständigen Artikel.