Bildung + Gesellschaft

Entstanden aus Gedanken, dann organisch gewachsen: Warum Menschen zu Mitgliedern wurden, was sie an der GDCh sch&auml;tzen und warum sie heute noch dabei sind.
F&uuml;r diese Umfrage haben wir Mitglieder angeschrieben, deren f&uuml;nfstellige Mitgliedsnummer kleiner als 100 000 ist und die auf 75 endet. Redakteurin Eliza Leusmann hat&lsquo;s mit 98 585 knapp verpasst.

Mitgliederumfrage

75 Jahre GDCh

Entstanden aus Gedanken, dann organisch gewachsen: Warum Menschen zu Mitgliedern wurden, was sie an der GDCh schätzen und warum sie heute noch dabei sind. Für diese Umfrage haben wir Mitglieder angeschrieben, deren fünfstellige Mitgliedsnummer kleiner als 100 000 ist und die auf 75 endet. Redakte...

Wie w&auml;re es, wenn wir zwei Chemiker auf dem Weg zum Paradies (Dantes &bdquo;G&ouml;ttliche Kom&ouml;die&ldquo; l&auml;sst gr&uuml;&szlig;en) belauschen k&ouml;nnten? Wie dem fiktiven Dialog unschwer zu entnehmen ist, lag ihr beruflicher H&ouml;hepunkt in der zweiten H&auml;lfte des letzten Jahrhunderts, das Zeitgeschehen verfolgen sie aber nach wie vor mit Interesse.
Wie stark sich doch unsere GDCh seit ihrer Gr&uuml;ndung entwickelt hat &ndash; ein Mitgliederzuwachs von 5 000 im Jahr 1949 auf heute 30 000 ist wirklich sehr beachtlich.
Ja, aber ich habe den Eindruck, dass sich in der Zwischenzeit viel ver&auml;ndert hat. Damals haben sich die Mitglieder untereinander viel mehr unterst&uuml;tzt, mit Hinweisen auf Forschungsergebnisse, mit Jobvermittlungen, mit besonderen Akzenten in der Aus- und Weiterbildung. Als Mitglied aufgenommen zu werden, kam einer Auszeichnung gleich. Vielleicht kann ein Blick zur&uuml;ck die GDCh noch attraktiver machen?
Das bezweifle ich. Geschichte wiederholt sich nicht immer. Die GDCh musste mit der Zeit gehen. Das ist ihr gelungen, deshalb steht sie heute gut da. Die Jobb&ouml;rsen im Internet sind heute effizienter als die Stellenvermittlung der GDCh von damals. Ich bin au&szlig;erdem beeindruckt von den Fortbildungsprogrammen der GDCh, die die neuen Medien sehr gut nutzen. Ich wei&szlig;, dass Sie sich schon immer f&uuml;r die Geschichte der Chemie begeistert haben. Aber der Blick zur&uuml;ck lenkt doch von der Zukunft ab.
Er lenkt nicht ab, sondern erinnert an L&ouml;sungsans&auml;tze, die meist aufgrund sehr ernster Probleme angesto&szlig;en worden sind. Ich denke da an das Versagen der Chemie bei Sicherheit und Transparenz, das die Unf&auml;lle in Seveso 1976 und Bhopal 1984 zu Katastrophen werden lie&szlig;. Oder den erzwungenen Verzicht auf das Superinsektizid DDT und das Leid, das die unvollst&auml;ndigen Tests des Schmerzmittels Thalidomid &ndash; bekannt als Contergan &ndash; bewirkt haben. All dies hat der Chemie gezeigt, dass sie umsichtiger und verantwortungsvoller mit ihren Produkten umgehen muss. Diese Erfahrungen sind zwar nicht eins zu eins auf die Gegenwart &uuml;bertragbar. Sie k&ouml;nnen uns aber fr&uuml;hzeitig vor problematischen Konstellationen warnen.
Das klingt gut. Aber aus der Geschichte haben wir fast nie etwas gelernt. Was sagt uns denn die Geschichte, wie wir mit PFAS umgehen sollen? Diese Stoffgruppe tauchte erst Ende der 1940er Jahre in gr&ouml;&szlig;erem Umfang auf. Als problematisch hat man sie erst um das Jahr 2000 wahrgenommen.
Was die Verbreitung von PFAS in der Natur angeht, gibt es in der Geschichte nichts Vergleichbares. Das gilt auch f&uuml;r Mikroplastik. Aber ich denke, wenn wir auf den Kern des Problems schauen, dann entdecken wir &auml;hnliche Herausforderungen in der Vergangenheit: PFAS und Mikroplastikteilchen stehen im Verdacht, toxisch zu wirken. Man kann sich also anschauen, wie in der Vergangenheit mit toxischen Stoffen umgegangen wurde. F&uuml;r Vergiftungen, beispielsweise mit Arsen und Quecksilber, waren die Strafen fr&uuml;her sehr drastisch.
Mit heute kann man das doch nicht vergleichen. Mit PFAS und Mikroplastik bringt man doch niemanden um.
Sicher nicht. Aber es geht doch darum, dort zu reagieren, wo etwas passiert oder passiert ist, wo es also wirklich zu Vergiftungen kommt. Von den &uuml;ber zehntausend PFAS-Substanzen sind die wenigsten problematisch.
Deshalb hat sich die EU jetzt auch f&uuml;r ein differenziertes Vorgehen entschieden,1) und wahrscheinlich wird es nur f&uuml;r problematische PFAS-Verbindungen Reglementierungen geben.
Lobenswert, aber leider nur eine Ausnahme. Denn heute werden vorschnell pauschale Verbote angestrebt, ohne sorgf&auml;ltig zu pr&uuml;fen, ob die Giftigkeit tats&auml;chlich nachgewiesen ist. Man war kurz davor, Glyphosat wegen angeblicher Krebsgefahr zu verbieten. Auch Klebstoffe aus Acrylnitril2) standen irrt&uuml;mlich unter Krebsverdacht. J&uuml;ngst wurde die Bev&ouml;lkerung aufgeschreckt: F&uuml;nf Gramm Mikroplastik t&auml;glich auf dem Teller k&ouml;nnten der Gesundheit schaden. Der Schreck sitzt so tief, dass die Menschen sich vor Mikroplastik im Essen mehr f&uuml;rchten als vor Listerien.3) Dabei unterscheidet sich Mikroplastik kaum von anderen Ballaststoffen im Essen.
Pl&auml;dieren Sie ernsthaft f&uuml;r einen sorglosen Umgang mit Chemikalien wie in der Vergangenheit? Klar ist, dass Kunststoffe in der Regel sehr reaktionstr&auml;ge sind und daher bis auf wenige Ausnahmen eher ungiftig sind. Aber sind wir wirklich sicher, dass Mikroplastik keinerlei Schaden anrichtet? Sch&auml;den, die wir noch nicht gesehen haben? Sch&auml;den, die vielleicht erst nach vielen Jahren auftreten? Es ist doch unverantwortlich, den ganzen Planeten von Pol zu Pol mit Mikro- und Nanoplastik einzunebeln, ohne die Folgen vorher abgesch&auml;tzt zu haben.
Der Einsatz neuer Materialien war schon immer mit Risiken verbunden, aber auch mit Chancen. Diese Verantwortung muss man ernst nehmen. Oft ist es aber schwierig, die Risiken rechtzeitig zu erkennen. Asbest galt anfangs als Wunderstoff: feuerfest, stabil, isolierend und eigentlich ungiftig. Doch nicht die chemische Eigenschaft, sondern die Faserstruktur4) kann Krebs ausl&ouml;sen. Damit hatte man nicht gerechnet.
Sie m&uuml;ssen zugeben, die Geschichte bringt uns hier auch nicht weiter. Man sollte die Kr&auml;fte besser auf die Gegenwart konzentrieren, um noch mehr und schneller Informationen &uuml;ber Materialien zu bekommen, damit man gefahrlos mit ihnen umgehen kann.
Etwa das Vorsorgeprinzip der EU? Das ist gut gemeint. Aber in letzter Konsequenz erstickt es alle Entwicklungen. Es gibt doch keine Methode, die Auswirkungen von Neuem in allen Aspekten vorherzusehen. Ohne Risiko wird es nichts Neues mehr geben. Blicken Sie in die Geschichte zur&uuml;ck: Das weltweit bew&auml;hrte Schmerzmittel Acetylsalicyls&auml;ure w&uuml;rde die heutigen Zulassungsverfahren nicht bestehen, weil es bei Embryos von Ratten und anderen Tieren zu Fehlbildungen f&uuml;hrt. Ein Beispiel von vielen.
Sollte man deshalb alle Zulassungsverfahren abschaffen? Das kann nicht die L&ouml;sung sein. Die vielen Tests liefern wertvolle Informationen &uuml;ber die Eigenschaften einer Chemikalie. Deshalb war es ein kluger Schritt, dass im Rahmen der EU-Chemikalienverordnung Reach alle Chemikalien gepr&uuml;ft werden m&uuml;ssen, bevor sie auf den Markt kommen. So sch&uuml;tzt man Menschen in Zukunft vor gef&auml;hrlichen Chemikalien.
Ich glaube, das bleibt ein sch&ouml;ner Wunsch. Vielleicht ist es auch gar nicht notwendig, dass der Wunsch in Erf&uuml;llung geht, denn Gef&auml;hrlichkeit ist immer relativ. Auch das scheinbar harmlose Trinkwasser kann ab acht Litern t&ouml;dlich sein, wenn es schnell getrunken wird. Apropos Trinkwasser &ndash; in der Antike wurde Blei unter anderem f&uuml;r Leitungen und Trinkgef&auml;&szlig;e verwendet, obwohl man auch damals wusste, dass es giftig ist. Man tolerierte das. Bis heute ist unklar, ob die r&ouml;mische Gesellschaft wirklich darunter gelitten hat. Trotz besserer toxikologischer Kenntnisse wurde in Deutschland bis 1996 Tetraethylblei als Antiklopfmittel den Kraftstoffen beigemischt. K&auml;me heute wieder jemand auf diese Idee, empf&auml;nde das die Gesellschaft wie einen Terroranschlag auf ihre Gesundheit. Das will ich nicht guthei&szlig;en. Aber die Geschichte lehrt, dass man sich nicht &uuml;bertrieben f&uuml;rchten muss. Es ist richtig, Risiken zu minimieren, also beispielsweise Bleirohre durch Kupfer- oder Kunststoffrohre zu ersetzen. Damit keiner sich vor dem Klaviertastenblei f&uuml;rchten muss: Kleine Bleist&uuml;ckchen m&uuml;ssen zum Ausgleich von Dichteschwankungen des Holzes in die Tastenstruktur eingedr&uuml;ckt werden. Sonst w&uuml;rde sich jede Taste beim Anschlagen anders anf&uuml;hlen.
Mit solchen Verharmlosungen aus der Geschichte bin ich nicht einverstanden. Die Chemie muss neu gedacht werden. &bdquo;Rethinking Chemistry&ldquo; hei&szlig;t es zu Recht. Die Chemie muss sich umstellen, nach vorne blicken und nicht zur&uuml;ck in selige Zeiten der Geschichte. Sie muss in Kreisl&auml;ufen denken. Alles, was produziert wird, muss auch wieder einen Weg zur&uuml;ck zum Ausgangspunkt finden.
Der Rethinking-Gedanke, der uns an Kreisl&auml;ufe erinnert, gef&auml;llt mir auch. Dabei denke ich weniger an die Geschichte der Chemie, sondern an die Geschichte der Natur. Die Natur ist ein gutes Vorbild f&uuml;r eine Kreislaufwirtschaft und sie ist sogar sehr effizient.
Genau. Und jetzt ist es h&ouml;chste Zeit, dass die Chemie endlich mit dem Umstellungsprozess beginnt.
Einige Chemiefirmen haben schon umgestellt. Sie werben sogar mit &bdquo;chemiefreien&ldquo; Produkten. Das finde ich bedenklich, dem Zeitgeist hinterherzulaufen.
Ein differenziertes Bild der Chemie zu vermitteln w&auml;re wichtig. Aber in den unternehmensinternen Diskussionen bestimmen die Werbeabteilungen die Kommunikationspolitik. Vielleicht traut man sich dort nicht zu sagen, dass es ohne Chemie nicht geht? Denn dann m&uuml;sste man auch vermitteln, dass heute jeder mehr Verantwortung im Umgang mit Chemikalien und Materialien &uuml;bernehmen muss. Das betrifft Hersteller wie Verbraucher. Die Verm&uuml;llung der Str&auml;nde, bei der die Wegwerfprodukte aus Kunststoff besonders auff&auml;llig sind, ist ein gesamtgesellschaftliches Problem. Hier m&uuml;ssen Staaten und Staatenb&uuml;nde wie die EU mehr Druck aus&uuml;ben.
Auch dazu kann ich einen geschichtlichen Hinweis geben, n&auml;mlich aus der Zeit als das Auto erfunden worden ist. Als London um 1900 im Pferdemist zu versinken drohte, dachte man an gro&szlig;e Entsorgungsanlagen5) f&uuml;r Pferdemist und G&uuml;lle. Doch schon wenige Jahre sp&auml;ter ersetzte das Automobil die Pferdekutschen und das Problem war gel&ouml;st. Mir ist nicht bekannt, dass es damals einen Befehl der englischen K&ouml;nigin oder des Parlaments gab, eine neue Antriebstechnik zu verwenden. Die Umstellung erfolgte aufgrund der h&ouml;heren Attraktivit&auml;t des Automobils, auch wenn es nicht einfach war. Man musste viele H&uuml;rden &uuml;berwinden, wie die Versorgung mit Treibstoff, die Einrichtung von Werkst&auml;tten und nicht zuletzt die Ausbildung der Fahrer.
Zugegeben, das ist ein sch&ouml;nes Beispiel aus der Geschichte. Aber der Handlungsdruck ist heute so gro&szlig; &ndash; es ist keine Zeit, auf attraktive technische Konzepte und L&ouml;sungen zu warten.
Das bleibt die Frage! F&uuml;hrt die erzwungene oder die freiwillige Umstellung schneller zum Erfolg?
Mit Ihren Worten: Die Geschichte wird es zeigen. Aber erst in Zukunft.
<h2 type="main">Der Autor</h2>
Normalerweise k&uuml;mmert sich Dieter Kunz (zusammen mit Helmut Ritter und beide gemeinsam im Auftrag der Seniorexperten Chemie) um die Koordination der Pro-und-Contra-Beitr&auml;ge in den Nachrichten aus der Chemie. F&uuml;r dieses &bdquo;Schlaglichtheft 75&ldquo; hat Kunz selbst zur Feder gegriffen &ndash; und sich sowohl in die Pro- als auch in die Contra-Position hineinversetzt.<img alt="image" src="https://media.graphassets.com/D0CHEMXR2qW1vjeEQp3s">
<ul class="references" cited="no" xml:id="nadc20244143369-bibl-0001">
<li xml:id="nadc20244143369-bib-0001">1 EU-Mitteilung vom Mai 2024</li>
<li xml:id="nadc20244143369-bib-0002">2 Man meinte f&auml;lschlicherweise, dass in Klebstoffen aus Polyacrylnitril (PAN) Acrylnitril enthalten sei</li>
<li xml:id="nadc20244143369-bib-0003">3 Nach dem BfR-Verbrauchermonitor 2020 sind 62 % der Befragten besorgt &uuml;ber Mikroplastik in ihren Lebensmitteln; bei Listerien sind es nur 18 %</li>
<li xml:id="nadc20244143369-bib-0004">4 Ist das Verh&auml;ltnis (aspect ratio) der Faserl&auml;nge zur Faserbreite gr&ouml;&szlig;er als 3:1, k&ouml;nnen sich die feinen Fasern in den Lungenalveolen verhaken und dort Gewebe st&auml;ndig reizen. Dies kann dann Krebs ausl&ouml;sen</li>
<li xml:id="nadc20244143369-bib-0005">5 Im Jahr 1890 wurde die &bdquo;Metropolitan Horse Repository and Utilization Company&ldquo; gegr&uuml;ndet, um Pferdemist als D&uuml;nger, Biogas(!) und Tierfutter verwerten zu k&ouml;nnen</li>
</ul>

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