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Prof.Prof.h.c.Dr.habil.

Vor 300 Jahren wurde der schwedische Mineraloge und Chemiker Axel Fredrik Cronstedt geboren, einer der Begründer der modernen Mineralogie. Er entdeckte das chemische Element Nickel und prägte die Bezeichnung Zeolith.In dem schwedischen Dorf Los (ältere Schreibweise Loos), wenige hundert Meter von einer stillgelegten Kobaltgrube entfernt, ist bereits von Weitem ein Nickeldenkmal zu sehen.Das „<link href="#nadc20224133166-fig-0001">Form för nickel“ wurde im Jahr 1971 zu Ehren von Axel Fredrik <link href="#nadc20224133166-fig-0002">Cronstedt errichtet, dem Entdecker des Nickels (Fotos S. 29). Am Fuß des Monuments befindet sich eine Gedenktafel, die auf Schwedisch und Englisch an den Bergmann erinnert: „Jahrhundertelang wurde in der Gemeinde Los Kobolt-Erz [sic] abgebaut, um es zum Färben von Glas und Porzellan zu verwenden. 1751 entdeckte Axel Fredrik Cronstedt (1722 – 1765) im Erz das neue Element Nickel, das später die weltweite Bedeutung für hochwertig legierten Stahl erlangen sollte. Cronstedt, Metallurge und Chemiker, gehört zu den großen Pionieren auf dem Gebiet der Mineralogie …“1) Ihm zu Ehren erhielt ein 1820 von Josef Johann Steinmann (1779 – 1833) beschriebenes Mineral den Namen Cronstedtit (chemische Formel: (Fe2+,Fe3+)3(Si,Fe3+)2O5(OH)4).<figure xml:id="nadc20224133166-fig-0001"><figure><img alt="image" src="https://media.graphassets.com/6A7IGjfrTciahSl1XBkh"><figcaption><label>Abb.1: </label>Das Nickelmonument „Form för nickel“ von Olof Hellström (1923 – 2017). Es liegt wenige Meter von einer Kobaltgrube im schwedischen Ort Los (Los koboltgruva) entfernt, die Mitte des 18. Jahrhunderts in Betrieb war und jetzt ein Arbeitsweltmuseum beherbergt. Das Denkmal wurde in einer Fernsehsendung zu Schwedens schönstem öffentlichen Kunstwerk gekürt. Quelle: Wikimedia Commons</figcaption></figure></figure><figure xml:id="nadc20224133166-fig-0002"><figure><img alt="image" src="https://media.graphassets.com/nk2BH5zSbOfnXZqE8W0Q"><figcaption><label>Abb.2: </label>Profil des Mineralogen und Bergmeisters Axel Friedrich Cronstedt auf einer Silbermedaille aus dem Jahr 1882, erschaffen von Lea Ahlborn (1826 – 1897). Bildnachweis: Onlinekatalog Künker</figcaption></figure></figure><h2 type="main">Der Weg zum Nicolaus alias Nickel</h2>Cronstedt begann im Jahr 1738 auf Wunsch seines Vaters zunächst ein Mathematikstudium an der Universität Uppsala. Sein Interesse an Mineralogie war jedoch so groß, dass er 1742 in die Bergbauschule wechselte und zugleich Gehilfe bei der Bergbaubehörde Schwedens wurde. Einige Jahre lang reiste er zu Bergwerkstandorten des Landes, teils allein, teils zusammen mit anderen Wissenschaftlern. Dabei erlernte er die Grundzüge der chemischen Analysen von Mineralien bei George Brandt (1694 – 1768), dem Entdecker von Cobalt, sowie das <link href="#nadc20224133166-fig-0003">Spezifikum der Lötrohranalyse bei Sven Rinman (1720 – 1792), bekannt durch das nach ihm benannte Rinmans Grün. In dieser Zeit lernte er auch Daniel Tilas (1712 – 1772) kennen, der Bergwerksdirektor und Gründer sowie Präsident der Schwedischen Akademie der Wissenschaften war. Tilas plante und und vertiefte die Ausbildung Cronstedts – Grundlage einer engen Zusammenarbeit zwischen dem Lehrer und seinem Schützling.2)<figure xml:id="nadc20224133166-fig-0003"><figure><img alt="image" src="https://media.graphassets.com/t11n5LyrQfSB16J5kB5N"><figcaption><label>Abb.3: </label>Faksimile des Einbands und des Titelblatts der Originalpublikation von Axel Fr. Cronstedt über Zeolithe aus dem Jahr 1756 in der deutschen Übersetzung.</figcaption></figure></figure>Auf Anraten von Tilas verbrachte Cronstedt einige Zeit im Silberbergwerk in Sala, um die Betriebsanlagen und -abläufe direkt in der Mine zu studieren sowie sich mit der Metallurgie von Silber und Blei in der Schmelzhütte vertraut zu machen. Das Sala-Erz war hauptsächlich für seinen hohen Silbergehalt bekannt, obwohl es auch wirtschaftlich förderbare Mengen an Blei und Zink enthielt.Später studierte Cronstedt Kupfer- und Cobaltlagerstätten, insbesondere widmete er sich der Analytik der Erze sowie der Charakterisierung der daraus gewonnenen Metalle. Dazu besuchte er die Kobalt-Grube Los im mittelschwedischen Hälsingland und führte Lötrohrversuche an Cobalterzen durch.Über die Ergebnisse seiner Untersuchungen berichtete er am 2. November 1751 vor der schwedischen Akademie der Wissenschaften. Dort verkündete er zum ersten Mal, dass er aus dem später Gersdorffit genannten Mineral (Arsennickelkies) ein bisher unbekanntes „Halbmetall“ isoliert habe. Die anwesenden Fachkollegen nahmen dies zuerst mit Skepsis auf. Doch wie Cronstedt später belegte, war das neue Element ein Metall, das den Hauptbestandteil des verachteten erzgebirgischen Minerals Kupfernickel (Rotnickelkies) aus dem Kühschacht bei Freiberg bildete. Er nannte es im Jahr 1754 „Nickel“, in Anspielung auf Nicolaus, einen schelmischen Zwerg aus der Unterwelt, der die Bergleute in Sachsen verspottete, indem er gutes Kupfererz in wertloses Erz verwandelte, das sich später als Nickelerz entpuppte. Denn das Erz war den sächsischen Bergleuten schon lange bekannt; äußerlich ähnelt es dem Kupfererz und in der Glasherstellung dient es dazu, Glas grün zu färben.Die Entdeckung des Nickels führte im Jahr 1753 zur Wahl Cronstedts in die Schwedische Akademie der Wissenschaften. 1758 wurde er zum Bergbaumeister der Bergwerke in Ost- und West-Bergslagen ernannt und erreichte damit den Höhepunkt seiner Laufbahn.Der 250. Wiederkehr der Nickel-Entdeckung im Jahr 2001 widmete das Deutsche Bergbau-Museum Bochum eine Festschrift, in der die Entdeckungsgeschichte des Metalls und die weltweit vorhandenen Lagerstätten sowie deren bergmännische Erschließung ausführlich behandelt wurden.3)<h2 type="main">Entdeckung der Zeolithe</h2>Bei seinen Lötrohr-Analysen im Jahr 1756 stellte Cronstedt bei einer bis dahin unbekannten Mineralgruppe der wasserhaltigen Gerüstsilicate fest, dass die untersuchten „Bergarten“ „… im Feuer ein so sonderbares Verhalten gewiesen, daß sie sich zu keiner von den bekannten Gattungen und nur muthmaßungsweise zu einer gewissen Klasse bringen läßt. Weitläuftige Beywörter zu vermeiden, welche allerley Ungelegenheiten mit sich führen, und keinen Namen zu brauchen, welche Eigenschaften enthalten, die anderen Arten gemein sind, nimmt man sich die Freyheit, dieses Gestein Zeolithes zu nennen.“4)Den Namen „Zeolith“ leitete Cronstedt aus dem Griechischen ab, was in der deutschen Entsprechung „siedender Stein“ bedeutet (zeo für „sieden“ und lithos für „Stein“). Er hatte nämlich das Aufschäumen des Minerals Stilbit beim Erhitzen mit einem Lötrohr beobachtet. Seine Erfahrungen mit den Mineralien der damals noch unbekannten Gattung „Zeolith“ beschrieb Cronstedt unter anderem in seinem 1758 herausgegebenen und 1760 ins Deutsche übersetzten Buch „Versuch einer neuen Mineralogie“. Damit schuf er Grundlagen für die später von Abraham Gottlob Werner (1749 – 1817) entwickelte systematische Mineralien-Klassifikation. Werner prägte für eine Reihe von Mineralien mit ähnlichen Eigenschaften den Begriff „Sippschaft der Zeolithe“, später von anderen „Zeolithfamilie“ genannt. In dieser Zeit nahm die Mineralogie als eigenständige Wissenschaft einen enormen Aufschwung. Noch überwog die Ästhetik und Schönheit mancher Zeolithkristalle das praktische Interesse an neuen Mineralien, die oft von weit her transportiert wurden. Das machte sie für Fürsten, Gelehrte und wohlhabende Sammler begehrt, zu denen auch Johann Wolfgang von Goethe (1749 – 1832) gehörte. Er notierte 1813 nach seiner Böhmen-Reise: „In den Schiebekasten eingepackt: Natrolith mit Kalkspat, basaltische Hornblende von Marienberg bei Aussig“.5)<h2 type="main">Siegeszug als „Molekularsieb“</h2>Heute wissen wir, dass sowohl das Natrolith als auch das von Cronstedt untersuchte Stilbit zu einer großen Gruppe von Mineralien (Zeolithgruppe) gehören, deren Gerüststruktur in der Regel aus über Sauerstoffatome miteinander eckenverknüpften (AlO4/2)–- und (SiO4/2)-Tetraedern als primäre Baueinheiten besteht. Sie kann Wasser aufnehmen und beim Erhitzen wieder abgeben, ohne dass ihre Kristallstruktur dabei zerstört wird. Damit sind sie für die Nutzung als Trockenmittel prädestiniert.Durch wechselnde Zusammensetzung der Zeolithe bei einer definierten Struktur lassen sich außerdem die Porengröße und damit der Zugang zum Zeolithinnern gezielt für bestimmte Moleküle und Ionen je nach ihrer Gestalt und Größe maßschneidern. So lassen sich unterschiedlich große Moleküle voneinander trennen (aussieben). Die Fähigkeit einiger Zeolithe, Gas- und Dampfgemische je nach Molekülgröße in ihre Bestandteile zu zerlegen, brachte ihnen den treffenden Gebrauchsnamen „Molekularsiebe“ ein.6)Nachdem seit Mitte des 20. Jahrhunderts auf der Grundlage systematischer Untersuchungen Richard Barrers (1910 – 1996) die Synthese von Zeolithen nach dem Vorbild der Natur in technischem Maßstab möglich wurde,7) begann der eigentliche Siegeszug der Zeolithe. Sie dienen seither als Ionenaustauscher, Adsorbentien und Katalysatoren.8) Ein Beispiel für die mengenmäßig wichtigste Anwendung der Zeolithe als Katalysatoren ist das FCC-Verfahren (Fluid Catalytic Cracking), bei dem schwere Erdölfraktionen in Gegenwart sauer wirkender Zeolithe als Aktivkomponente zu hochoctanigen Kraftstoffen gespalten werden.<h2 type="main">Der Kreis schließt sich</h2>Seit der Entdeckung des ersten Zeoliths durch Cronstedt, der damals die Wichtigkeit seines Funds noch nicht ermessen konnte, ist die Zahl der bekannten Strukturtypen auf über 170 gewachsen. Mehr als 60 kommen in der Natur vor. In gleichem Maß gewann die Zeolithforschung in Chemie und Mineralogie an Bedeutung.Bei der Suche nach neuen Katalysatoren kam es dazu, dass die Industrie einige Zeolithe in Kombination mit dem ebenfalls von Cronstedt entdeckten Nickel als Trägerkatalysatoren großtechnisch einsetzt. Grund für ihre Eignung als Katalysatorträger ist die hoch geordnete Gerüststruktur der Zeolithe. Mit ihren Porengrößen im Nanometerbereich entwickeln sie eine so gigantische innere Oberfläche, dass diese bei nicht einmal zehn Gramm des Festkörpers die Größe eines Fußballfelds erreicht. Dadurch bietet sie fast unendlich Platz für die Verteilung des Nickels in der Feststoffoberfläche. Diese kann je nach chemischer Zusammensetzung des Zeoliths ein breites Spektrum von stark sauren bis stark basischen Oberflächenzentren enthalten und sorgt somit für eine hohe katalytische Aktivität und Selektivität eines Ni-beladenen Zeoliths. Die bisher entwickelten Ni/Zeolith-Katalysatoren wurden daher in hydrierenden und zugleich säurekatalysierten petrochemischen Prozessen eingesetzt, etwa dem Hydrospalten hochsiedender Kohlenwasserstoffe, dem Reformieren von Schwerbenzin, der Hydroraffination destillativ aufbereiteter Erdölfraktionen oder der Dimerisierung von Olefinen. Die Katalysatoren eignen sich für umweltrelevante Einsätze wie der selektiven katalytischen Reduktion von Stickoxiden und der Methanisierung von Kohlenstoffoxiden.<h2 type="main">Der Autor</h2>Wladimir Reschetilowski, Jahrgang 1950, ist emeritierter Professor für technische Chemie der TU Dresden und Chemiehistoriker. Für das Januarheft der Nachrichten aus der Chemie schreibt er regelmäßig über historische Meilensteine der Chemie.<img alt="image" src="https://media.graphassets.com/5RlUlYlTyK9NkodAjHkQ"><a href="mailto:wladimir.reschetilowski@tu-dresden.de">wladimir.reschetilowski@tu-dresden.de</a><ul class="references" xml:id="nadc20224133166-bibl-0001" style="numbered" cited="no"><li xml:id="nadc20224133166-bib-0001">1 J. L. Marshall, V. R. Marshall, THE HEXAGON 2014, 12</li><li xml:id="nadc20224133166-bib-0002">2 N. Zenzen, A. F. Cronstedt. Svenskt Biografiskt Lexikon 1929, 9, 279</li><li xml:id="nadc20224133166-bib-0003">3 E. Auer, S. Müller, R. Slotta, 250 Jahre Nickel: vom „nickel“ zum „EURO“. Nickel als Münzmetall, Bochum – Düsseldorf 2001</li><li xml:id="nadc20224133166-bib-0004">4 A. F. Cronstedt, Akad. Handl. Stockholm 1756, 18, 120</li><li xml:id="nadc20224133166-bib-0005">5 Zeolithe: Mineralien – zugleich nützlich und wunderschön, extraLapis Nr. 33. Christian Weise Verlag, München, 2007</li><li xml:id="nadc20224133166-bib-0006">6 J. W. McBain, The Sorption of Gases and Vapors by Solids, Rutledge and Sons, London 1932</li><li xml:id="nadc20224133166-bib-0007">7 R. M. Barrer, Zeolites and Clay Minerals as Sorbents and Molecular Sieves, Academic Press, London 1978</li><li xml:id="nadc20224133166-bib-0008">8 L. Puppe, Chem. Unserer Zeit 1986, 20, 117</li></ul>

Artikel

Zwerge und siedende Steine

Vor 300 Jahren wurde der schwedische Mineraloge und Chemiker Axel Fredrik Cronstedt geboren, einer der Begründer der modernen Mineralogie. Er entdeckte das chemische Element Nickel und prägte die Bezeichnung Zeolith.In dem schwedischen Dorf Los (ältere Schreibweise Loos), wenige hundert Meter von...

Prof.Dr.Dr.-Ing.E.h.

Im Fichtelgebirge entstand Ende des 18. Jahrhunderts in Form der Chemischen Fabrik Marktredwitz das erste Chemiewerk Deutschlands. Eine der Hauptchemikalien war Quecksilber, was Mitte der 1980er Jahre zu einem Umweltskandal führte.Wolfgang Caspar Fikentscher war 18 Jahre alt, als er mit einem Darlehen am 24. Juli 1788 die Chemische Fabrik W. C. Fikentscher gründete. Sie war die erste industrielle Produktionsstätte von Chemikalien wie Quecksilberverbindungen, Mineralsäuren und Glaubersalz – die erste Chemiefabrik Deutschlands. Auch die erste Herstellung von Schwefelsäure in Deutschland nach dem Bleikammerverfahren, entwickelt vom Briten John Roebuck 1746, wurde in Marktredwitz technisch ausgeübt.Fikentscher entstammte einer Handwerkerfamilie. Geboren wurde er im Jahr 1770 als Sohn eines Bäckermeisters in Redwitz im Fichtelgebirge. Redwitz heißt heute Marktredwitz, ist erstmals 1140 als Radewize urkundlich erwähnt und seit 1907 Stadt. Fikentscher lebte zeitweise bei seinem Onkel Johann Simon Miedel, der in Weiden eine Apotheke betrieb. Nach einer Lehre als Apothekergehilfe in der Paradies-Apotheke in Nürnberg kehrte er in sein Elternhaus in Redwitz zurück, wo er ein chemisches Labor einrichtete. Hier versuchte er unter anderem, alchemistisch Gold zu gewinnen. Auf der Suche nach dem „Stein der Weisen“, der unedle Metalle in Gold umwandeln und alle Krankheiten heilen sollte, traktierte er Quecksilber mit elementarem Schwefel, das metallische mit dem „güldenen“ <link href="#nadc20224129504-fig-0001">Prinzip.<figure xml:id="nadc20224129504-fig-0001"><figure><img alt="image" src="https://media.graphassets.com/rSlCRWfQTq7mJHHG8yhw"><figcaption><label>Abb.1: </label>Chemische Fabrik Marktredwitz um 1860</figcaption></figure></figure><h2 type="main">Fikentscher und seine Nachkommen</h2>Im Jahr 1814 wurde Wolfgang Caspar Finkentscher Mitbegründer einer Glashütte in Redwitz, einer der ersten Glashütten in Deutschland. Neben seiner Tätigkeit als Unternehmer stieg Fikentscher 1806 in die Politik ein; 1809 wurde er Bürgermeister von Redwitz, das damals zu Böhmen gehörte. Auch nachdem Redwitz 1816 an das Königreich Bayern gefallen war, behielt er diesen Posten bis 1824. Im November 1827 rückte Fikentscher in die Kammer der Abgeordneten der bayerischen Ständeversammlung nach, der er bis 1834 <link href="#nadc20224129504-fig-0002">angehörte.<figure xml:id="nadc20224129504-fig-0002"><figure><img alt="image" src="https://media.graphassets.com/peJUP1rxSL2vvnrBWhfS"><figcaption><label>Abb.2: </label>Die ersten beiden Fikentscher-Generationen: Wolfgang Caspar (1770 – 1837) und Friedrich Christian (1799 – 1864). Bildnachweis: Nachruf auf W. C. Fikentscher, Fleischmann, 1837</figcaption></figure></figure>Ab 1835 unterhielt sein Betrieb einen Unterstützungsverein für Erkrankte, Alte und Hinterbliebene. Wolfgang Caspar Fikentscher starb 1837. Nach seinem Tod führten seine Söhne Matthäus Wilhelm und – bis zu seinem Ausscheiden aus der Firma 1848 – Friedrich Christian die Fabrik weiter.Friedrich Christian Fikentscher lernte das „Handwerk“ Chemie zunächst in der väterlichen Fabrik und besuchte anschließend ab 1817 das pharmazeutische Lehrinstitut von Johann Bartholomäus Trommsdorff, seinem späteren Schwiegervater, in Erfurt. Studienreisen unternahm er nach Frankreich, so 1824 für ein Semester nach Paris, und 1830 nach England. Er verbilligte die Glasproduktion in der väterlichen Glashütte, indem er Soda durch Glaubersalz ersetzte. Ab 1845 betrieb Fikentscher in Zwickau eine weitere Glashütte mit chemischer Abteilung. Die Entscheidung für das sächsische Zwickau als Standort fiel auf Empfehlung des Porzellanherstellers Christian Fischer, der dort 1845 ein neues Werk baute. Fikentscher kannte ihn aus seiner Studienzeit bei Trommsdorff in Erfurt.Die Standortbedingungen waren günstig: Steinkohlebergbau und der bestehende Eisenbahnanschluss Zwickaus, während der Bahnanschluss von Marktredwitz erst 1878 erfolgte. 1852 traf Fikentscher in Zwickau Louis Pasteur, der sich für die Produktion von Weinsteinsäure interessierte.Im Sommer 1822 kam Johann Wolfgang von Goethe nach seiner jährlichen Kur in Marienbad auf Einladung der Fikentschers nach Redwitz und wohnte in dem prächtigen Wohnhaus (später „Neues Rathaus“) in der Egerstraße, das Vater Fikentscher im Jahr 1794 in klassizistischem Stil gebaut hatte.Goethe schreibt: „Um 8.00 Uhr kamen wir nach Redwitz. Wohlempfangen von Herrn Fikentscher und Familie.“ Goethe besichtigte aber nicht nur die Fabriken, sondern experimentierte auch mit dem Sohn vier Tage lang im Laboratorium, um „entopische“ Gläser mit der gewünschten Trübung zu erhalten. Goethe notierte: „Hier wird im Großen das schwefelsaure Quecksilber mit zugesetztem Kochsalz bereitet (Muriate suroxigéne de Mercure). Das zurückbleibende Natron wird zur Glasfabrikation verwendet. Auch kristallinische Weinsteinsäure wird auf das Reinlichste im Großen verfertigt … das Ganze ist so eingerichtet, daß, nach handelsmännischen Bestellungen, die größten Parthien in kurzer Zeit gefertigt werden <link href="#nadc20224129504-fig-0003">können.“<figure xml:id="nadc20224129504-fig-0003"><figure><img alt="image" src="https://media.graphassets.com/HwN8RG85TIyCOF5GPiIT"><figcaption><label>Abb.3: </label>Villa Fikentscher in der Egerstraße: Das Goethe-Zimmer erinnert bis heute an den Besuch des Dichters.</figcaption></figure></figure><h2 type="main">Die Eigentümerfamilie wechselt</h2>Nach drei Fikentscher-Generationen – Wolfgang Caspar (1770 – 1837), Friedrich Christian (1799 – 1964) und Wilhelm (1839 – 1890) – kaufen im Jahr 1891 die Brüder Oskar und Curt Tropitzsch die Fabrik.Oskar, der Kaufmann, und Curt, der Techniker, modernisieren die Anlagen und das Produktsortiment. Die Familie Tropitzsch ist bis heute Eigentümerin der Firma. Zwischen den Tropitzschs herrscht über Generationen Arbeitsteilung: In der Oskar-Vornamenslinie die Kaufmänner, im Rolf-Zweig die Chemiker. „Die Chemische Fabrik hatte schon immer mit Quecksilber zu tun, und irgendwann hat man herausgefunden, dass sich bestimmte Quecksilberverbindungen für den Pflanzenschutz eignen“, sagt Steffen Tropitzsch, der Oskar IV. geworden wäre, hätte sein Vater nicht mit dieser Namenstradition gebrochen. Er ist Geschäftsführer des Nachfolgeunternehmens der Chemischen Fabrik Marktredwitz, die sein Vater 1985 als Cfm Oskar Tropitzsch aus Teilen der insolventen Chemischen Fabrik formte.Bis in die 1970er Jahre dienten metallorganische Quecksilberverbindungen zum Beizen von Saatgut. Zu diesen Quecksilberbeizen gehörten Uspulun von Bayer (Phenylquecksilberchlorid), Germisan von Fahlberg-List (Phenylquecksilberbrenzkatechin) – und Fusariol, das die Chemische Fabrik Marktredwitz ab 1907 herstellt. Fusariol (Ethylquecksilberchlorid) ist ein Fungizid, das Pilzsporen tötet oder ihr Wachstum hemmt. Wegen Pilzbefalls hatten Bauern bis dahin ihr Getreide oft nicht durch den <link href="#nadc20224129504-fig-0004">Winter gebracht.<figure xml:id="nadc20224129504-fig-0004"><figure><img alt="image" src="https://media.graphassets.com/dJHtyl1TuCZDnkQDDlcW"><figcaption><label>Abb.4: </label>Die Quecksilberbeize Ethylquecksilberchlorid (Fusariol), entwickelt von Lorenz Hiltner (1862 – 1923).</figcaption></figure></figure>Entwickelt hatte Fusariol Lorenz Hiltner an der Forstlichen Hochschule Tharandt. Es war weltweit die erste Saatbeize, preiswert, einfach anzuwenden, und es bildeten sich keine Resistenzen. Fusariol machte die Chemiefabrik groß. Ferner wurden Holzschutz- und Desinfektionsmittel produziert; die Zahl der Mitarbeiter stieg auf <link href="#nadc20224129504-fig-0005">etwa 50.<figure xml:id="nadc20224129504-fig-0005"><figure><img alt="image" src="https://media.graphassets.com/BSfUzK4YSXST5KmQ0q9i"><figcaption><label>Abb.5: </label>30 Jahre nach einem der größten Umweltskandale Deutschlands steht auf dem ehemaligen Fabrikgelände ein Einkaufszentrum.</figcaption></figure></figure><h2 type="main">Der Quecksilberskandal 1985</h2>Zunehmend rücken jedoch die Risiken von Quecksilber in den Fokus, die Gefahren für Umwelt und Gesundheit. Steffen Tropitzsch klammert dieses Kapitel der Historie nicht aus. Er bemerkt aber auch: „Man muss das zeitlich einordnen. Bei der Gründung 1788 gab es keine Umweltstandards. Wenn man 200 Jahre mit toxischen Substanzen arbeitet, findet sich was im Boden.“ Oskar Tropitzsch (Oskar III.), 1974 zum Vorstandsvorsitzenden berufen, hinterfragt Produkte und Abläufe und befasst sich mit Umweltthemen. Steffen Tropitzsch erläutert: „Die Chemische Fabrik war in den 1970er, 1980er Jahren unter verschiedenen Aspekten sehr modern. Sie hat ihre Abluft gefiltert und eine Kläranlage installiert. Bei deren Anschluss an das öffentliche System ist eines von drei Abwasserrohren gebrochen.“ Der Materialaustritt wird bemerkt; die Behörden ordnen die Einstellung der Produktion an, und das gesamte Ausmaß der jahrelangen Quecksilberverseuchung des Bodens wird sichtbar. Die Kosten der Sanierung der Umweltschäden führen 1985 zur Insolvenz der Firma. Ende 1986 begann die juristische Aufarbeitung. Gegen die Tropitzsch-Vettern Oskar und Rolf – Rolf war erst kurz vor dem Auffliegen der Vertuschungen zur Firma gestoßen – wurde ebenso Haftbefehl erlassen wie gegen Betriebsleiter Willi Köllner. Gegen Kaution wurde dieser jedoch aufgehoben. Am 10. Februar 1989 fällte die Erste Strafkammer des Landgerichts Hof das Urteil. Statt Gefängnis- gab es Geldstrafen: 110 000, 80 000 und 10 500 Mark.Betriebsgelände und Umgebung, die hochgradig verseucht waren, wurden mit öffentlichen Mitteln saniert – überwiegend mit Geldern des Freistaats Bayern. Das bedeutete: Rückbau der mit Quecksilber belasteten Bausubstanz und die Demontage und das Verpacken hochkontaminierter Anlagenteile. Im Ortsteil Wölsau am Stadtrand von Marktredwitz entstand ab Mitte 1992 eine nassmechanisch/thermisch-destillative Boden- und Bauschuttreinigungsanlage als weltweit erste großtechnische Behandlungsanlage für quecksilberhaltige Abfälle. Die Anlage wurde von August 1993 bis August 1996 betrieben: Insgesamt reinigte sie etwa 56 000 Tonnen kontaminiertes Material. Das Projekt wurde im März 1997 mit der Übergabe des sanierten Grundstücks an die Stadt Marktredwitz abgeschlossen.<h2 type="main">Ein weiter Weg: von Alchemie zu den Lebenswissenschaften</h2>Die heutige Cfm Oskar Tropitzsch GmbH befindet sich nicht mehr am alten Standort, sondern zirka vier Kilometer außerhalb der Stadt. Das Unternehmen beschäftigt 15 Mitarbeiter; das Produktspektrum umfasst Fermentationsprodukte, Phytochemikalien, Pharmarohstoffe, Peptid-Toxine, Payloads, Metalle, Metallsalzlösungen und die Auftragsherstellung von Arzneistoffen (Active Pharmaceutical Ingredients, APIs).Es ist erstaunlich, dass weder die erste deutsche Chemische Fabrik noch ihr Gründer, der Pionier Wolfgang Caspar Fikentscher in lexikalischen Standardwerken zur Chemiehistorie Erwähnung finden.Der Autor dankt Steffen Tropitzsch für kritische Durchsicht und Ergänzungen. Bildquellen: Cfm Oskar Tropitzsch GmbH<h2 type="main">Der Autor</h2>Heribert Offermanns, Jahrgang 1937, ist Chemiker und war bis zum Jahr 2000 fast 25 Jahre lang Mitglied des Vorstands von Degussa. Für die Nachrichten aus der Chemie verfasst er regelmäßig unter anderem chemiehistorische Beiträge.<img alt="image" src="https://media.graphassets.com/HyNI59HDTQeRf2jJevIH"><ul class="references" xml:id="nadc20224129504-bibl-0001" style="numbered" cited="no"><li xml:id="nadc20224129504-bib-0001">1 Chemische Fabrik Marktredwitz: a) <a href="https://de.wikipedia.org/wiki/Chemische_Fabrik_Marktredwitz" target="_blank">de.wikipedia.org/wiki/Chemische_Fabrik_Marktredwitz</a>; b) 175 Jahre Chemische Fabrik Marktredwitz, Jubiläumsschrift</li><li xml:id="nadc20224129504-bib-0002">2 Wolfgang Caspar Fikentscher: a) M.Leber: Fikentscher, Wolfgang Caspar. In: Neue Deutsche Biographie (NDB). Band 5, Duncker &amp; Humblot, Berlin 1961, ISBN 3–428–00186–9, S. 145 (Digitalisat); b) <a href="https://de.wikipedia.org/wiki/Wolfgang_Caspar_Fikentscher" target="_blank">de.wikipedia.org/wiki/Wolfgang_Caspar_Fikentscher</a></li><li xml:id="nadc20224129504-bib-0003">3 I. R. Lauterbach, Friedrich Christian Fikentscher (1799–1864). Ein früher Chemiefabrikant, Wissenschaftliche Verlagsanstalt, Stuttgart (2013)</li><li xml:id="nadc20224129504-bib-0004">4 Oskar Tropitz: <a href="https://www.cfmot.de/ueber-uns/geschichte" target="_blank">www.cfmot.de/ueber-uns/geschichte</a></li><li xml:id="nadc20224129504-bib-0005">5 G. Gemeinhardt: Von Gold und Gift und globalem Service, Hochfrankens Drehschreibe für chemische Spezialitäten, Von Gold und Gift und globalem Service – Wirtschaftsregion Hochfranken e.V. (<a href="https://karriereziel.de" target="_blank">karriereziel.de</a>)</li><li xml:id="nadc20224129504-bib-0006">6 Dr. G. Pedall Ingenieurbüro GmbH: Rückbau und Bodensanierung – Ehemalige Chemische Fabrik Marktredwitz (CFM) und Stella-Gelände. Archiviert vom Original am 1. April 2018; abgerufen am 17. Juli 2020 (PDF; 514 kB;).</li><li xml:id="nadc20224129504-bib-0007">7 K. Kinkeldei, Die Chemische Fabrik Marktredwitz: Altlastensanierung und Nachfolgenutzung. In: H. G. Bächtold, W. A. Schmid (Hrsg.): Altlasten und Raumplanung. vdf Hochschulverlag AG, Zürich 1995, ISBN 3–7281–2241–6, S. 125–135</li><li xml:id="nadc20224129504-bib-0008">8 P. Biczysko, Der größte Umweltskandal Deutschland, Frankenpost, Hof (2020)</li><li xml:id="nadc20224129504-bib-0009">9 W. von Biederman, Goethe und die Fikentscher. Teubner, Dresden 1878 (Digitalisat).</li><li xml:id="nadc20224129504-bib-0010">10 Goethe im chemischen Laboratorium zu Marktredwitz; Aus Anlaß d. 150jähr. Bestehens der am 24. Juli 1788 gegr. ersten dt. chem. Fabrik W. C. Fikentscher, d. heutigen Chem. Fabrik Marktredwitz A. G. Berlin 1938.</li><li xml:id="nadc20224129504-bib-0011">11 Feierliche Eröffnung des Neubaus in Marktredwitz, Pressemitteilung Nr. 203 | Regensburg, Juli 2018</li><li xml:id="nadc20224129504-bib-0012">12 Firmenschrift (Imagebroschüre): 2 Together, 230 Jahre , „Von Alchemie zu Life Sciences“</li><li xml:id="nadc20224129504-bib-0013">13 M. Bäumler, Unternehmen bedient Forscher weltweit, Frankenpost, Hof (21.04.2015)</li></ul>

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