Industrie & Technik

<p>Das Transaktionsvolumen stieg in der Chemie- und Pharmabranche um 74 %.</p>
<p>Die weltweite Chemie- und Pharmabranche registrierte im vergangenen Jahr Übernahmen und Fusionen im Wert von 372 Mrd. US-Dollar. Das entspricht einem Plus von 74 % gegenüber dem Jahr 2014 mit 214 Mrd. US-Dollar. Dazu trugen vor allem große Transaktionen im Pharmamarkt bei, mit einem Gesamtwert von 298 Mrd. US-Dollar der abgeschlossenen Deals. Im bisherigen Rekordjahr 2000 belief sich der Wert der Abschlüsse auf 253 Mrd. US-Dollar. Auch im laufenden Jahr nehmen die Übernahmen voraussichtlich gigantische Ausmaße an. Der geplante Zusammenschluss von Pfizer und Allergan für 160 Mrd. US-Dollar ist der bisher größte Deal in der Pharmabranche und die drittgrößte Transaktion überhaupt.</p><p>In der Chemieindustrie betrug der Wert der Transaktionen im abgeschlossenen Jahr 74 Mrd. US-Dollar. Die zehn größten Transaktionen kamen dabei auf einen Wert von zusammen 51 Mrd. US-Dollar, was mehr als eine Verdopplung zum Vorjahr bedeutete. Der Gesamtwert der zehn größten im Jahr 2015 bisher nur angekündigten Transaktionen vervierfachte sich sogar auf 149 Mrd. US-Dollar verglichen mit dem Jahr 2014. Dazu gehört die Fusion von Dow und Dupont für 62 Mrd. US-Dollar, die zudem eine neue Strategie erkennen lässt: Zwei große Player schließen sich zusammen, ordnen das Produktportfolio neu und spalten sich schließlich zu drei optimierten Spezialisten auf [Nachr. Chem. 2016, 64, 27]. CS</p>

Meldung

Übernahmen boomen weiter

Das Transaktionsvolumen stieg in der Chemie- und Pharmabranche um 74 %. Die weltweite Chemie- und Pharmabranche registrierte im vergangenen Jahr Übernahmen und Fusionen im Wert von 372 Mrd. US-Dollar. Das entspricht einem Plus von 74 % gegenüber dem Jahr 2014 mit 214 Mrd. US-Dollar. Dazu trugen v...

<p>undefined</p>
<p>Polymorphie – das Auftreten einer Substanz in verschiedenen kristallinen Modifikationen – kann schlimmen Ärger bereiten. Der HIV-Proteaseinhibitor Ritonavir ist das bekannteste Beispiel. Abbott Laboratories brachte das Medikament im Jahr 1996 unter dem Namen Norvir auf den Markt. Aber der US-Konzern hatte etwas übersehen: Ritonavir kristallisiert auch in einer anderen Form, die stabiler ist als die, die Abbott bekannt war. Das Problem: Die stabilere Form ist weniger löslich – der menschliche Körper nimmt sie daher viel schlechter auf. Als sich im Jahr 1998 in einigen Wirkstoffkapseln die gut lösliche in die schlecht lösliche Form umwandelte, musste Abbott alle Kapseln vom Markt zurückziehen und das Medikament umformulieren.<sup>1)</sup> Der Fehler kostete das Unternehmen mehrere hundert Millionen US-Dollar.</p><p>Ein Beispiel, das Physiker Marcus Neumann und andere Forscher seiner Branche gerne in Erinnerung rufen. Ähnliche Fälle treten zwar nicht allzu oft auf, „aber wenn etwas schief geht, dann geht es um relativ viel Geld“, sagt Neumann. Er ist Gründer und Leiter des Unternehmens Avantgarde Materials Simulation, das Kristallstrukturen für die pharmazeutische und chemische Industrie vorhersagt. Viele seiner Kunden wenden sich in der späten Phase des Entwicklungsprozesses an ihn, „um sicherzustellen, dass sie keinen Polymorphen verpasst haben. Sie wollen den Gau ausschließen.“</p><h2>Struktur bestimmt Verhalten</h2><p>Die Kristallstruktur beeinflusst die chemischen und physikalischen Eigenschaften einer Substanz – nicht nur bei anorganischen, sondern auch bei organischen Verbindungen. Die Strukturen zu kennen, ist wichtig bei der Entwicklung von Arzneimitteln, aber auch bei Agrochemikalien, Pigmenten und Farb- und Sprengstoffen. Gerade organische Moleküle sind für Polymorphie bekannt, bilden also mehrere Kristallstrukturen, die gleich oder ähnlich stabil sind und daher bei Raumtemperatur nebeneinander auftreten.</p><p>Die Unternehmen versuchen, im Labor solche polymorphen Formen zu kristallisieren und sie mit Röntgenstrukturanalyse zu bestimmen, sagt Physikochemiker Alexandre Tkatchenko vom Fritz-Haber-Institut der Max-Planck-Gesellschaft in Berlin. „Aber was ist, wenn man gar nicht weiß, dass es noch eine polymorphe Form gibt, weil sie im Labor nicht auskristallisiert?“</p><p>Umso gefragter ist Software, die aus der zweidimensionalen Molekülstruktur einer Verbindung die stabilen Kristallstrukturen berechnet.</p><h2>Fortschritte</h2><p>Anorganische Salze wie NaCl sind recht einfach im Computer zu berechnen, sagt Tkatchenko. Organische Moleküle sind komplizierter aufgrund ihrer nichtkovalenten Bindungen: Wasserstoffbrücken und Van-der-Waals-Kräfte. Der letzte Workshop des Cambridge Crystallographic Data Centre (CCDC) im Oktober 2015 hat aber gezeigt: Die Vorhersagemethoden sind besser als noch vor fünf Jahren. Alle paar Jahre lädt die Organisation Forscher, die sich mit der Berechnung von Kristallstrukturen beschäftigen, zu einer Art Wettbewerb ein. Diesmal waren 25 Teams aus der ganzen Welt angetreten. Es galt, die Struktur fünf organischer Moleküle per Computer vorauszusagen (Abbildung). Acht Monate hatten die Teilnehmer dafür Zeit.</p><figure><img src="https://media.graphcms.com/u3FWDIQXTEmMv6NZWSCq"><figcaption><label>Abb. 1: </label>Drei der fünf Moleküle, deren Kristallstrukturen es zu berechnen galt. Grau: Kohlenstoff-, weiß: Wasserstoff-, rot: Sauerstoff-, blau: Stickstoff-, gelb: Schwefel-, grün: Chloratome.</figcaption></figure>
<figure><img src="https://media.graphcms.com/wvtQK22uT1eaBNHncNFA"><figcaption><label>Abb. 2: </label>Drei der fünf Moleküle, deren Kristallstrukturen es zu berechnen galt. Grau: Kohlenstoff-, weiß: Wasserstoff-, rot: Sauerstoff-, blau: Stickstoff-, gelb: Schwefel-, grün: Chloratome.</figcaption></figure>
<figure><img src="https://media.graphcms.com/ibVXPjAQSxWxvpCPPesM"><figcaption><label>Abb. 3: </label>Drei der fünf Moleküle, deren Kristallstrukturen es zu berechnen galt. Grau: Kohlenstoff-, weiß: Wasserstoff-, rot: Sauerstoff-, blau: Stickstoff-, gelb: Schwefel-, grün: Chloratome.</figcaption></figure>
<p>Alle fünf Moleküle waren im Gegensatz zum vorhergegangenen Workshop im Jahr 2010 „garstige Systeme aus dem echten Leben“, sagte Colin Groom, geschäftsführender Direktor des CCDC. Darunter waren ein großes Molekül, das fünf Polymorphe bildet und welches der Pharmakonzern Pfizer intensiv erforscht hat, ein Hydrat und ein Kokristall. Für alle Systeme lagen verlässliche Röntgenstrukturdaten vor.</p><p>Die Ergebnisse des Workshops waren nach CCDC „beeindruckend“: Es gebe signifikante Fortschritte bei der Vorhersage von Kristallstrukturen im Vergleich zu vorigen Tests.<sup>2)</sup> Mehrere Methoden hätten die Kristallstrukturen aller Moleküle berechnet. Bei einigen Zielstrukturen sei es sogar möglich gewesen, die stabilste Form vorherzusagen.</p><h2>Schrödinger mal wieder</h2><p>Bei der Vorhersage von Kristallstrukturen geht es nicht nur um Rechenleistung, sagt Tkatchenko: „Man braucht neue und bessere Annäherungen an die Schrödinger-Gleichung und Lösungen für das Mehrelektronenproblem.“ Im Grunde muss die Software die Interaktionen zwischen allen Atomen berechnen – also die Struktur finden, bei der die Anziehung maximal und die Abstoßung minimal ist, ergänzt Neumann.</p><p>Im ersten Schritt berechnet eine Software alle Kristallstrukturen, die überhaupt stabil sind. Im zweiten Schritt ordnet das Programm diese Strukturen – durchaus mehrere Hundert – nach ihrer Energie, um herauszufinden, welche Strukturen bei Raumtemperatur vorkommen.</p><p>Beim Workshop besonders gut abgeschnitten haben die beiden Teams von Neumann und Tkatchenko. Neumanns Software Grace berechnet Strukturen vollautomatisiert. Was die Energie dieser Strukturen angeht, „haben wir im Moment aber noch mit unseren Fehlerbalken zu kämpfen.“ Tkatchenkos Gruppe wiederum glänzt bei Schritt zwei, dem Abschätzen der Energien. „Wir beziehen Anziehungskräfte über weitere Entfernungen mit ein als alle anderen vor uns“, sagt er stolz.<sup>3)</sup> Drei Wochen hat sein Programm FHI-aims an den fünf Strukturen gerechnet.</p><p>Neumann und Tkatchenko wollen in Zukunft zusammenarbeiten und ihre Programme miteinander verknüpfen. So soll eine viel genauere Vorhersage möglich werden.</p><p>Tkatchenko glaubt, dass bereits 80 Prozent des Ziels, Kristallstrukturen organischer Moleküle vorauszusagen, erreicht seien. Bei den letzten 20 Prozent gehe es jetzt darum, die beiden Schritte – Strukturgenerierung und Energieabschätzung – miteinander zu kombinieren. Neumann ist noch optimistischer: „Im Jahr 2016 wird die Vorhersage von Kristallstrukturen zum Selbstläufer. Danach wird jedes Unternehmen im Endstadium einer Entwicklung Vorhersagen machen lassen.“</p><h2>Noch viele Fragen offen</h2><p>So positiv Neumann und Tkatchenko auch in die Zukunft blicken – Kristallstrukturen werden den Forschern auch in Zukunft noch Rätsel aufgeben. Kanalhydrate etwa, Kristalle, die Inseln von ungeordnetem Wasser enthalten, seien „extrem haarig“, gibt Neumann zu. Auch habe bisher noch niemand geschafft, die Stabilität von Anhydraten mit der von Hydraten zu vergleichen.</p><p>Neumanns Unternehmen steht aber vor allem einem anderen Problem gegenüber: Viele potenzielle Kunden entscheiden sich statt für eine Computervorhersage für ein experimentelles Polymorphie-Screening mit Robotern. Das kostet laut Neumann 50 000 Euro. Um ein kompliziertes Molekül, etwa aus der Pharmabranche, komplett durchzurechnen, würden allein Fixkosten für Mieten und Strom von 10 000 bis 20 000 Euro fällig – ohne Gewinn für den Anbieter der Leistung. Offensichtlich muss sich beim Finanziellen noch etwas tun, bevor die Voraussage per Computer den großen Durchbruch hat.</p><p>Die promovierte Chemikerin Brigitte Osterath ist freie Mitarbeiterin der Nachrichten aus der Chemie.</p><h2>Kristalllandkarten</h2><p>Das Unternehmen Avantgarde Materials Simulation mit Sitz in Freiburg entwickelt Software, die Kristallstrukturen berechnet. Diese Software stellt es anderen Unternehmen gegen Gebühr zur Verfügung. Alternativ führt Avantgarde Materials Simulations auch Auftragsforschungsstudien durch. „Wir erstellen Landkarten der kristallinen Formen einer Verbindung“, erklärt Unternehmensleiter Marcus Neumann. „Diese Karten zeigen die Stabilitätsinseln.“ Häufigste Anwendung ist das Polymorphie-Screening in der späten Phase einer Medikamentenentwicklung (siehe Haupttext). Viele Kunden treten auch in der frühen Phase der Entwicklung an Avantgarde Materials Simulations heran, beispielsweise wenn ein Molekül im Labor partout nicht auskristallisiert. Andere Unternehmen hoffen, dass ihnen die Kristallstrukturvorhersage bei der Formulierung eines Produkts hilft, bei Tabletten etwa. „Sie suchen eine Kristallstruktur mit besonders schönen Eigenschaften: löslich und leicht zu kristallisieren“, sagt Neumann. Daher spricht er auch davon, dass er „Schatzkarten“ erstellt.</p>
<ul><h2>Literatur</h2><li>
<sup>1 </sup><ext-link ext-link-type="uri"><a href="http://pubs.acs.org/doi/abs/10.1021/op000023y?journal" target="_blank">http://pubs.acs.org/doi/abs/10.1021/op000023y?journal</a> Code=oprdfk</ext-link></li><li>
<sup>2 </sup><ext-link ext-link-type="uri"><a href="https://www.ccdc.cam.ac.uk/News/List/post-43/" target="_blank">www.ccdc.cam.ac.uk/News/List/post-43/</a></ext-link></li><li>
<sup>3 </sup>A. Ambrosetti, A. M. Reilly, R. A. DiStasio, Jr., A. Tkatchenko, J. Chem. Phys. 2014, 140, 18A508, DOI: 10.1063/1.4865104</li></ul>


Meldung

Übernahmen boomen weiter

Überprüfung Ihres Anmeldestatus ...