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Meilensteine der Chemie 2010

Vor 350 Jahren (1660) u Der britische Naturforscher Robert Boyle (1627 — 1691) bestätigt in seinem Werk ”New Experiments Physico-Mechanical: Touching the Spring of the Air and their Effects“ die Erkenntnisse des Italieners Evangelista Torricelli (1608 — 1647) über das Vakuum. Darüber hinaus weist...

Hatten Sie heute schon Kontakt mit Wirkstoffen? Es wäre überraschend, wenn nicht, denn diese Substanzen, die schon in geringen Konzentrationen eine spezifische Reaktion des Organismus hervorrufen, begegnen uns in jeglicher Form und Situation. Sei es so offensichtlich und gewünscht wie beim Griff zur Kopfschmerztablette oder zur Tasse Kaffee, sei es so lästig wie hochtoxische Aflatoxine auf verdorbenen Pistazien.
Wirkstoffe lassen sich in Substanzen natürlichen und unnatürlichen Ursprungs unterteilen. Dies sagt aber keinesfalls etwas darüber aus, ob die Substanzen die Gesundheit positiv oder negativ beeinflussen. Allerdings ist zu konstatieren: Wirkstoffe, die aus Entwicklungsprojekten der chemischen Industrie hervorgegangen sind, haben tendenziell einfachere Strukturen als solche natürlichen Ursprungs. Diese geringe Komplexität geht aus den Hochdurchsatzverfahren der kombinatorischen, chemisch-motivierten Medizinalchemie hervor, und stellt ein grundlegendes Ziel der industriellen Wirkstoffforschung dar.
Im Gegensatz dazu ist die Struktur eines Naturstoffs evolutiv auf biologische Zielstrukturen hin optimiert. Selbst angesichts der Konkurrenz chemischer Hochdurchsatzverfahren sind Naturstoffe deshalb eine wichtige Quelle für die Wirkstoffentwicklung von Antiinfektiva, Immunosuppressiva oder Antitumormedikamenten.1 
So willkommen die bereits erfolgte Zieloptimierung eines Naturstoffs ist, so unattraktiv erscheint für die Anpassung seiner Eigenschaften die oftmals komplexe Struktur. Da die Evolution ein ungerichteter Prozess ist, sind jedoch nicht alle Strukturelemente eines Naturstoffs für seine biologische Aktivität essenziell. Dies gilt insbesondere, da die Zielmoleküle des Naturstoffs, die ihn als Leitstruktur für eine Wirkstoffentwicklung interessant machen, womöglich nicht die natürlichen Wirkorte der Struktur darstellen. Dies trifft beispielsweise auf Antitumorwirkstoffe zu. Deshalb sind Techniken notwendig, mit denen sich komplexe Naturstoffderivate erzeugen lassen, um essenzielle und veränderbare Strukturelemente zu identifizieren.


<h2>Zugang zu Derivaten</h2>
Das Fundament der Chemie ist es, Moleküle und Materialien mit vorab definierten Eigenschaften zu schaffen. Die organische Synthese ermöglicht prinzipiell den Zugang zu jeder denkbaren organischen Verbindung. Dies setzt allerdings die dafür nötigen Werkzeuge und Methoden voraus. Insbesondere in den letzten dreißig Jahren haben neue Reaktionstypen, Reagenzien und Katalysatoren das organisch-chemische Repertoire beträchtlich erweitert. In Einzelfällen kommen heutzutage Totalsynthesen (De-novo-Synthesen) für die industrielle Produktion selbst komplexer Naturstoffe und ihrer Derivate in Betracht, beispielsweise beim Epothilon-Derivat ZK-EPO von Bayer-Schering.
Der Vorteil totalsynthetischer Ansätze besteht darin, in jedweder Weise veränderte Naturstoffe erzeugen zu können. Zu solchen Naturstoffderivaten für vergleichende Studien der Struktur-Wirkungs-Beziehungen eines Leitmoleküls gelangte man bisher allerdings hauptsächlich über die Semisynthese, also eine chemische Modifizierung von Naturstoffen.1) Die strukturelle Komplexität der Naturstoffe begrenzt die im Rahmen von Semisynthesen durchführbaren Transformationen; es ist zum Beispiel sehr schwierig, unfunktionalisierte Positionen des Naturstoffs nachträglich zu funktionalisieren.
Außer den eher traditionell organisch-chemisch geprägten Konzepten der Total- und Semisynthese gibt es mittlerweile Strategien, die in die Biosynthese eines Naturstoffs mikrobieller Herkunft eingreifen (Kasten S. 23).2 
Eine der ältesten Strategien, um strukturelle Diversität in durch Mikroorganismen erzeugte Stoffwechselprodukte (Sekundärmetabolite) einzuführen, ist die vorläuferdirigierte Biosynthese. Hierbei wird typischerweise ein dem natürlichen Vorläufer ähnlicher Biosynthesebaustein zu Kulturen des natürlich vorkommenden Produzenten (Wildtyp) gegeben. Dies führt zur Konkurrenz des unnatürlichen Bausteins mit dem oder den endogen vorhandenen Baustein(en) um die weitere biosynthetische Prozessierung. Im Fall eines erfolgreichen Einbaus lässt sich dann ein Gemisch aus natürlichen und unnatürlichen Naturstoffderivaten isolieren. Dies erzwingt oft aufwendige Trennverfahren und geht üblicherweise mit einer geringen Ausbeute des gewünschten Naturstoffderivats einher, die sich aus der Vorläuferkonkurrenz ergibt.
Eine modernere Strategie behebt die mit der Vorläuferkonkurrenz einhergehenden Probleme, indem die Biosynthese des konkurrierenden natürlichen Bausteins durch Mutation verhindert und die endogene Zulieferung des benötigten Bausteins somit blockiert wird. Diese mutative Biosynthese (kurz: Mutasynthese) besteht nach der Definition von Rinehart aus folgenden Schritten:2d) Zuerst werden Blockmutanten der betrachteten Biosynthese erzeugt. Zu deren Kulturen werden dann im Fermenter synthetische veränderte Bausteine (Mutasynthone) gegeben (chemische Komplementation). Wenn die Mutasynthone in neue Stoffwechselprodukte eingebaut werden, entstehen Naturstoffderivate, die schließlich isoliert und biologisch charakterisiert werden.
Mittlerweile hat sich die Mutasynthese zu einem eleganten Ansatz zur Herstellung von Bibliotheken struktureller Derivate pharmakologisch interessanter Naturstoffe entwickelt. Eine entscheidende Voraussetzung dafür waren die Entwicklung und Verfeinerung der notwendigen molekularbiologischen Werkzeuge der Gensequenzierung und -manipulation.


<h2>Beispiele erfolgreicher Mutasynthesen</h2>
Welches Potenzial ein mutasynthetischer Ansatz zur Leitstrukturoptimierung besitzt, zeigte bereits im Jahr 1991 das Beispiel der wurmabtötend (anthelmintisch) wirkenden Avermectine (1) (Abbildung 1).3 Bei diesen von Streptomyces avermitilis produzierten Makrolid-Antibiotika verhinderte ihre strukturelle Komplexität einen einfachen Zugang zu neuen Derivaten über Semi- oder Totalsynthese. Durch Verwendung eines mutierten Produzenten, der die natürliche Polyketidsynthase(PKS)-Startereinheit S-2-Methylbutansäure (2) nicht aus dem biosynthetischen Vorläufer Isoleucin (3) bilden kann, konnten über Mutasynthese neue, an C-25 modifizierte Avermectine erzeugt werden. Auf Grund der breiten Substrattoleranz der Avermectin-Ladedomäne gelang so der Einbau von etwa 40 verschiedenen Carbonsäuren. Ein Resultat der Studien war Doramectin (4), der erste über Mutasynthese erhaltene, kommerziell genutzte Wirkstoff.
Mit fortgeschrittenen genetischen Manipulationstechniken gelang Reynolds und Mitarbeitern ein eleganter Zugang zu Doramectin.4 Dieser Ansatz wird als kombinatorische Biosynthese bezeichnet. Sie transferierten den für die Biosynthese von Cyclohexylcarbonyl-CoA kodierenden Gencluster aus dem Ansatrieninproduzenten Streptomyces collinus in die Blockmutante von Streptomyces avermitilis. Dadurch wurde die Zugabe von Cyclohexylcarbonsäure während der Fermentation unnötig.
Das Glykopeptid Vancomycin ist ein klinisch genutztes Breitbandantibiotikum und unterscheidet sich von dem in Abbildung 2 gezeigten Balhimycin (5) durch das Glycosylierungsmuster. Die Zunahme von Resistenzen bei einigen Bakterienstämmen sind der Grund für die intensiven Bemühungen, neue, auf Vancomycin basierende Derivate zu entwickeln. Semisynthetische Ansätze zielen hier größtenteils auf den glycosidischen Teil, wobei das Aglycon mit einigen wenigen Ausnahmen unverändert bleibt.5 Diese klassischen Methoden der Semi- und Totalsynthese komplementiert ein mutasynthetischer Ansatz, den Süssmuth, Wohlleben und Mitarbeiter verfolgten.6 Hierbei nutzten sie unterschiedliche Blockmutanten des Actinomyceten Amycolatopsis balhimycina, der das Antibiotikum Balhimycin (5) produziert. Das Ausschalten der b-Hydroxytyrosin-Biosynthese (6) ermöglicht strukturelle Veränderungen der 3-Chlor-b-hydroxytyrosinuntereinheiten. Auf diesem Weg wurden Varianten des trizyklischen Aglycons zugänglich, so beispielsweise die ersten fluorierten Derivate (z. B. (7), Abbildung 2). Zusätzliche Diversität entsteht durch Verwendung einer weiteren, in der Biosynthese von 3,5-Dihydroxyphenylglycin (8) blockierten Mutante. Dadurch ist es auch möglich, den AB-Makrozyklus zu modifizieren (siehe (9a-d)).7 
Ein weiteres, ideales Ziel für einen mutasynthetischen Ansatz ist die ungewöhnliche PKS-Startereinheit p-Nitrobenzoat (10) (PNBA) in der Biosynthese des Polyketid-Shikimat-Hybridmetaboliten Aureothin (11). Hertweck und Mitarbeiter generierten eine Blockmutante des Aureothin-Produzenten Streptomyces thioluteus, indem sie die PNBA-Biosynthese auslöschten.8 Von zahlreichen, para-substituierten PNBA-Surrogaten wird lediglich p-Cyanobenzoat (12) inkorporiert, wobei das daraus erhaltene Aureonitril (13) erstaunlicherweise signifikant verbesserte wachstumshemmende (antiproliferative) Wirkungen zeigt (Abbildung 3).
Wenn bereits die Ausgangsverbindungen biologisch hoch aktiv sind, sind daraus generierte Substanzbibliotheken besonders vielversprechend. Dies ist beispielsweise der Fall bei den hochzytotoxischen Antitumorwirkstoffen Ansamitocin P-3 (14)9) und Geldanamycin (15)10) (Abbildung 4) mit Aktivitäten im pico- bis nanomolaren Bereich. Diese Substanzen aus der Klasse der Ansamycin-Antibiotika teilen sich das strukturelle Merkmal eines benzenischen Chromophors, der an zwei meta-ständigen Positionen durch eine aus der Polyketidbiosynthese hervorgehende Seitenkette verknüpft ist (griechisch ansa = Henkel). Zudem lassen sich diese Ansamycin-Antibiotika anhand der Charakteristika ihrer Biosynthese definieren. Der Initiationsbaustein ist ein speziell für diese Stoffwechselwege synthetisiertes Substrat: 3-Amino-5-hydroxybenzoesäure (16) (AHBA) (Abbildung 4).11) Somit ist es möglich, die AHBA-Biosynthese zu blockieren, ohne störend in den Primärmetabolismus oder andere, sekundäre Stoffwechselwege einzugreifen. Folglich lassen sich Defizienzmutanten erzeugen, bei denen die Ansamycinproduktion durch externe Zugabe des natürlichen Vorläufers oder analoger Initiationsbausteine wiederherstellbar ist. Über diesen mutasynthetischen Zugang entstand eine große Zahl neuer Ansamycine (Abbildung 5).12) Die Biosyntheseapparate zeigten sich hierbei als außerordentlich flexibel, so dass ein breites Spektrum von 4— oder 5-substituierten 3-Aminobenzoesäuren zu neuen Derivaten prozessiert wurde.
Führen die Mutasynthone neue chemische Funktionalitäten in die Grundstruktur eines Naturstoffs ein, ergeben sich neue Möglichkeiten der chemischen Derivatisierung. Ein Beispiel ist die Einführung eines arylischen Brom-Substituenten in die Ansamitocin-Grundstruktur über einen Mutasyntheseansatz mit 4-Brom-3-aminobenzoesäure (17) (Abbildung 6). Das erhaltene Ansamitocin-Derivat (18) eröffnet die Möglichkeit zur weiteren semisynthetischen Veränderung über palladiumkatalysierte Kreuzkupplungen, beispielsweise im Rahmen der Stille-Chemie.12b)


<h2>Drittes Standbein der Naturstoffsynthese</h2>
Insbesondere das zuletzt erwähnte Beispiel der Kombination aus Muta- und Semisynthese zeigt, dass die Mutasynthese auf dem Weg ist, zum dritten Standbein der Naturstoffsynthese zu werden. Chemiker sind aufgerufen, sich gegenüber den Biowissenschaften zu öffnen und aus deren Portfolio diejenigen Methoden zu übernehmen, welche die organische Synthese sinnvoll ergänzen. Hierzu gehören beispielsweise die hier diskutierten Defizienz- oder Blockmutanten von Mikroorganismen, die pharmakologisch relevante und komplexe Naturstoffe produzieren, sowie synthetisch ungewöhnliche enzymatische Transformationen wie spezielle Oxidationen und Makrocyclisierungen.


<h2>— — — Biosynthese von Naturstoffen und -derivaten</h2>
Im Gegensatz zur natürlichen Biosynthese (oben) wird bei der Vorläufer-dirigierten Biosynthese (Mitte) ein unnatürlicher Vorläufer B* zu einem Wildtyporganismus gegeben (Supplementierung). Er konkurriert dadurch mit dem natürlichen Vorläufer B. Bei der mutativen Biosynthese (Mutasynthese) wird ein Mutasynthon B* zu einem Mutantenorganismus supplementiert (unten), dessen Biosynthese des natürlichen Vorläufers B blockiert ist.


<h2>— — — QUERGELESEN</h2>
Blockmutanten der mikrobiellen Naturstoffproduzenten dienen als Werkzeuge für die Mutasynthese.
Eine Blockmutante kann durch genetische Inaktivierung bestimmter Biosynthesewege spezielle, für einen Naturstoff benötigte Vorläuferbausteine nicht selbst produzieren.
Die Zugabe von natürlichen oder analogen Vorläuferbausteinen kann die Biosynthese eines Naturstoffs wiederherstellen (chemische Komplementation).
Solche analogen Vorläufer ermöglichen ungewöhnliche Naturstoffderivate, die für die Wirkstoffforschung nützlich sind.


— — — Andreas Kirschning, Jahrgang 1960, ist Professor für organische Chemie und geschäftsführender Direktor am Institut für organische Chemie der Universität Hannover. Seine Forschungen sind den Naturstoffen mit antitumoralen und antiinfektiven Eigenschaften, dem Biopolymerdesign für regenerative Therapien sowie der Mikroreaktionstechnik gewidmet.
<a href="mailto:andreas.kirschning@oci.uni-hannover.de">andreas.kirschning@oci.uni-hannover.de</a>
Tobias Knobloch, Jahrgang 1982, studierte Biologie und Life Science an der Universität Hannover und beendet derzeit seine Doktorarbeit bei Andreas Kirschning. Sein Forschungsinteresse gilt der Derivatisierung von Ansamitocinen über biologische und chemische Verfahren, sowie der inhärenten Flexibilität des entsprechenden Biosyntheseapparats in Actinosynnema pretiosum.
Florian Taft, Jahrgang 1980, studierte Chemie an der Universität Hannover. Er promovierte bei Andreas Kirschning zur Ansamitocin-Biosynthese und zur Synthese tumorspezifischer Ansamitocin-Derivate über Muta- und Semisynthese. Seit dem Jahr 2009 arbeitet er bei Macherey-Nagel in der Forschung und Entwicklung von HPLC-Materialien.



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