Meinungsbeitrag
Lasst uns groß denken
Von Wiley-VCH zur Verfügung gestellt
Die Chemie ist gut darin, im Labor spezifische Lösungen zu finden. Wir schaffen neue Moleküle und Materialien, die – als Wirk- und Werkstoffe eingesetzt – unser Leben und unsere Welt verändern. Doch in Anbetracht hoher Energiepreise, fragiler Lieferketten, globalen Wettbewerbs und des Klimawandels muss sich auch die Chemie wandeln und kreislauffähig werden. Damit diese Transformation gelingt, müssen wir mehr Zusammenarbeit wagen, innerhalb unseres Fachs, mit anderen Disziplinen und mit Forschenden aus Akademie und Industrie. Ebenso brauchen wir motivierende gemeinsame Nenner. Das menschliche Genom entschlüsseln, unbekannte Elementarteilchen entdecken oder die Vision „in einem Jahrzehnt zum Mond“ – diese Projekte haben ihre Wissenschaftsgebiete sprungartig vorangebracht. In der Chemie gab es bislang kein Moonshot-Projekt, also ein der Mondlandung der 1960er Jahre ähnlich ambitioniertes Ziel, das Forschende verschiedener Hintergründe motiviert und zusammenbringt. Mit dem neu entstehenden Großforschungszentrum „Center for the Transformation of Chemistry“ (CTC) gehen wir die Generationenaufgabe an und orientieren unsere Forschung an zwei Herausforderungen: dem komplett recycelbaren Auto und dem vollautomatisierten Labor.
In der EU werden zwar 95 Gewichtsprozent der verschrotteten Autos verwertet. Allerdings vermittelt diese Zahl einen trügerischen Optimismus, denn sie enthält auch Downcycling und energetische Verwertung, also Verbrennung. Von den hunderten Materialien in Autos sind es vor allem Stahl, Aluminium und Kupfer, die weiterverwendet werden. Kunst- und Klebstoffe oder kritische Ausgangsstoffe wie Neodym, Nickel, Kobalt oder Phosphor werden selten in einer Qualität recycelt, die eine Wiederverwendung ermöglicht. Deshalb werden für die Autoindustrie permanent neue Rohstoffe importiert. Unser Ziel ist es, ein vollständig recycelbares und damit im regionalen Kreislauf produzierbares Auto zu erforschen. Dafür wollen wir eine neue Generation von Materialien entwickeln, die von Anfang an dem Prinzip Design to Recycle folgen, nichtfossilen Ursprungs sind und sich im industriellen Maßstab wirtschaftlich produzieren lassen. Kritische Ausgangsstoffe sollen recycelt, Additive, Kleb- und Schmierstoffe aus nachwachsenden Rohstoffen hergestellt werden.
Unser zweiter Moonshot adressiert die Automatisierung – hier gibt es viel unausgeschöpftes Potenzial. In vielen Hochtechnologiefeldern rationalisiert die Automatisierung Prozesse, reduziert menschliche Fehler sowie Unfälle und beschleunigt Experimente und Analysen. Und in der Chemie? Reaktionen ließen sich präzise steuern und Hochdurchsatzexperimente durchführen. Daten ließen sich in einem noch nie dagewesenen Umfang sammeln und KI-unterstützt auswerten. Roboter könnten Experimente auch unter Umgebungsbedingungen ausführen, die für Menschen nicht tolerierbar sind, und so neue chemische Reaktionen entdecken. All das würde Chemikerinnen und Chemiker von sich ständig wiederholenden Aufgaben entlasten und Freiraum für Kreativität schaffen. Die chemische Forschung würde so zu einer effizienteren, datengesteuerten und wissensreicheren Disziplin. Unsere Idee: ein vollautomatisiertes, aus der Ferne steuerbares Chemielabor. Es soll für chemische Experimente und Prozesse flexibel einsetzbar sein und reproduzierbare Ergebnisse liefern.
Beide Ziele sind ambitioniert. Wir können sie am CTC nicht alleine erreichen. Kooperation mit anderen Forschenden – durch gemeinsame Berufungen, gemeinsame Nachwuchsgruppen, gemeinsame Projekte – wird essenziell sein, um die Chemie zu transformieren. Deshalb, liebe Kolleginnen und Kollegen: Lassen Sie uns die Aufgabe gemeinsam angehen.
Prof. Peter H. Seeberger (Max-Planck-Institut für Kolloid- und Grenzflächenforschung Potsdam) ist Gründungsdirektor des Center for the Transformation of Chemistry (CTC) in Delitzsch und Merseburg
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