Bildung + Gesellschaft

Fast seine gesamte wissenschaftliche Karriere hat der analytische Chemiker Detlef Günther an der ETH Zürich verbracht. Heute ist er Vizepräsident für Forschung der Hochschule. Ein Gespräch über gute wissenschaftliche Praxis, internationale Zusammenarbeit und die Schweiz.
Nachrichten aus der Chemie: Sie sind seit fünf Jahren Vizepräsident für Forschung der ETH Zürich. Was war bisher Ihre größte Herausforderung?Detlef Günther: Die größte Herausforderung ist die Vielfalt der Forschungsgebiete und Aufgaben. An dieser Hochschule entsteht spannende Forschung, und wir haben unzählige Interaktionen mit Förderorganisationen und der Industrie. Dafür die richtigen Rahmenbedingungen zu schaffen, ist nicht immer leicht. Da muss ich oft viele Bälle gleichzeitig in der Luft halten – so lernt man auch zu jonglieren. Aber ich lerne viel und habe extrem viel Austausch mit inspirierenden Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen.Und wie bewältigen Sie das?Ich bin fasziniert von Forschung. Ich bekomme neue Einblicke, kann mich weiterbilden, gestalten und über Neues nachdenken. Ich habe das Glück, aus der analytischen Chemie zu kommen, die viele interdisziplinäre Anknüpfungspunkte hat. Das ist ein Vorteil.Der zweite Vorteil: Ich habe in zwei Departementen gearbeitet, in der Geologie und in der Chemie. Aber als Vizepräsident habe ich eben auch mit Digitalisierung und Cybersecurity zu tun, komme mit Robotik und Engineering in Berührung, muss in die Biologie eintauchen und bin verantwortlich für ethische Richtlinien. Eine große Herausforderung ist auch die Integrität in der Forschung.Wie gehen Sie vor, wenn bei Ihnen wissenschaftliches Fehlverhalten angezeigt wird?Wir haben klare Richtlinien und Prozesse: Vertrauenspersonen machen bei einem Verdacht eine Voruntersuchung. Das Resultat lege ich der Schulleitung vor; wenn sich der Verdacht bestätigt, beauftragen wir eine Untersuchungskommission.Hat sich die Auffassung, was gute wissenschaftliche Praxis bedeutet, im Laufe der Zeit verändert?Nein, die Auffassung nicht, aber es gibt heute mehr technische Möglichkeiten, Verfehlungen aufzudecken. Das ist gut. Doch es stellt sich die Frage: Wie beurteilen wir ein Vergehen? Es ist ein wichtiges Thema und nicht leicht einzuschätzen. Deshalb bin ich froh, dass in der Schweiz auch auf nationaler Ebene daran gearbeitet wird, eine Stelle einzurichten, die diese Aufgaben völlig unabhängig begleitet.Was macht die ETH selbst dafür?Bereits bei Berufungen machen wir klar, was nicht verhandelbar ist. Gute wissenschaftliche Praxis gehört dazu. Professoren und Professorinnen haben die Pflicht, ihren Doktorierenden die Maßstäbe hierfür mitzugeben, ihnen zu vermitteln, wie man Wissenschaft dokumentiert, oder auch was Plagiieren bedeutet. Früher wurden diese Themen einfach nur erwähnt, heute sind sie zentral und schon in die Ausbildung integriert.Wie gehen Sie mit ethischen Fragen um?Wir haben eine Ethikkommission, die Anträge beurteilt und prüft, ob diese mit den Richtlinien der ETH vereinbar sind. Ich bin extrem dankbar für das Fachwissen und die Unterstützung, die ich von dort bekomme. Wenn Forschungsverträge nicht mit unseren ethischen Grundsätzen vereinbar sind, lehnen wir sie ab.Betrifft das auch Grundlagenforschung oder nur Kooperationen mit der Industrie?Wenn die ethischen Standards eingehalten werden, mische ich mich so wenig wie möglich in die Grundlagenforschung ein. Natürlich braucht es für alle Tierversuche und Versuche an und mit Menschen eine gesonderte Bewilligung. Aber sonst muss die Grundlagenforschung in alle Richtungen gehen können. Bei der Kooperation mit der Industrie stellen sich natürlich viele Fragen, wie diese Zusammenarbeit jeweils ausgestaltet sein soll. Wir denken immer von der Grundlagenforschung her und überlegen, wie mit Lizenzierungen oder Spin-off-Gründungen der Wissenstransfer am besten gelingt.Wie gehen Sie vor, wenn es bei einem Projekt ethische Bedenken gibt?Dann gibt es die klaren Empfehlungen der Ethikkommission, und die Projekte müssen entsprechend geändert werden. Industrieprojekte evaluiert der Stab „ETH transfer“ und macht mir Empfehlungen. Schwierige Fälle diskutiere ich in der Schulleitung der ETH, wo wir entscheiden, welches die nächsten Schritte sind.Also auch Sie müssen sich die Konsequenzen eines Projekts überlegen.Ja, das ist unsere Aufgabe, und wir kommunizieren das transparent. Ich habe bisher noch nie erlebt, dass Forschende den Eindruck hatten, wir würden ihnen im Weg stehen. Einen sehr positiven Fall habe ich in der Biologie erlebt: Eine Professorin informierte mich darüber, dass ihre Ergebnisse einen heiklen Dual-Use-Aspekt haben und empfahl, der Industrie keine Lizenz zu erteilen.Bevor Sie Vizepräsident für Forschung wurden, waren Sie Departementsvorsteher der Chemie hier an der ETH. Was brauchten Sie dafür?Ich war vorher Institutsvorsteher, Mitglied in der Strategiekommission und im Tenure-Komitee der ETH, was eine gute Vorbereitung für diese neue Aufgabe war. Jeden Schritt bin ich mit Respekt angegangen. Ich musste mich intensiv einarbeiten, lernte wichtige Entscheidungen schnell zu treffen und musste Verhandlungsgeschick entwickeln.Es gibt neben der ETH Zürich in der Schweiz als zweite Bundesuniversität die École Polytechnique Féderale in Lausanne. Wie ist das Verhältnis der beiden Hochschulen?Konstruktiv. Die EPFL und die ETH Zürich haben viele gemeinsame Projekte. Die ETH wurde vor 165 Jahren gegründet, die EPFL vor 50 Jahren. Beide Hochschulen waren schon von Beginn an sehr international, was auch mit der Größe des Landes zu tun hat. Wir sind heute an einem Punkt, an dem die Konkurrenz von außerhalb der Schweiz kommt, etwa bei Datenwissenschaften, Ernährung und Katalyse, und da arbeiten wir hervorragend zusammen. Aber es gibt auch einige Gebiete, in denen die ETH und EPFL im Wettbewerb stehen; ohne diesen würden wir uns nicht weiterentwickeln.Betrifft das auch die Forschungsinfrastrukturen?Wenn die Schweiz State-of-the-art-Equipment in allen Forschungsbereichen haben möchte, dann können Sie diese Instrumente nicht in jeder Forschungsgruppe installieren. Dafür hat die ETH ein Plattformkonzept – Infrastrukturen für die gemeinsame Nutzung.Aber in der Schweiz gibt es auch das Paul-Scherrer-Institut mit fantastischer Infrastruktur, hervorragenden Ingenieuren und Ingenieurinnen, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern mit Verbindungen zu vielen Institutionen im In- und Ausland. Dadurch haben wir Zugang zur Swiss Light Source (SLS) oder zum Freie-Elektronen-Laser. In der Zukunft müssen wir insgesamt noch mehr in Richtung „gemeinsamer Unterhalt von Forschungsinfrastrukturen“ denken.Nicht jeder Lehrstuhl kann sein eigenes Großgerät haben, sondern die Forscher teilen sich die Geräte, auch wenn es sich nicht um eine Synchrotron-Quelle, sondern um ein Massenspektrometer handelt?Wenn wir biologische Strukturen mit Kryoelektronenmikroskopie aufklären wollen, können wir nicht für jede Professur ein Gerät kaufen. Dafür gibt es zum Beispiel das ScopeM, unser Elektronmikroskopiezentrum. Die ETH investiert jedes Jahr sehr viel Geld, damit wir neuste Technologien für unsere Forschung nutzen können. Schon meine Vorgänger haben stark in diese Richtung gewirkt.Wenn wir die strategischen Ziele definieren, hinterfragen wir auch die notwendige Infrastruktur. Was sind unsere Prioritäten, und was können wir uns leisten? Meine Analyse einiger Universitäten zeigt, dass es durchaus Ähnlichkeiten in den strategischen Ausrichtungen gibt. Der wesentliche Unterschied liegt in der Qualität und der kritischen Masse.Was verstehen Sie unter kritischer Masse?Wesentliche Beiträge kann jede und jeder in der Wissenschaft hervorbringen. Aber wenn eine Universität einen Forschungsschwerpunkt zum Beispiel auf künstliche Intelligenz legen möchte und in dem Gebiet nur zwei Professuren hat, dann fehlt die gegenseitige Befruchtung und Interaktion. In Computer Science hat die ETH im letzten Jahr acht Professuren neu berufen. Das ergibt mit den bereits etablierten Kolleginnen und Kollegen eine kritische Masse, die ein starkes Momentum erzeugt.Wo sehen Sie international Ihre größten Wettbewerber?Darüber muss man nicht sprechen, die kennt man. Es gibt hervorragende Hochschulen in den USA, in Deutschland, in England, um nur einige zu nennen. Mit über 9000 Institutionen kooperiert die ETH weltweit. Asiatische Universitäten wachsen schnell und werden stark. Im Jahr 2015 haben 7,5 Millionen Chinesen einen Hochschulabschluss gemacht. Allein an diesen Zahlen kann man erkennen, dass Europa für die Zukunft umdenken und schnell strategischer handeln muss. An Potenzial fehlt es nicht.Um eine kritische Masse zu erreichen, müssen die Wissenschaftler aus dem Ausland freiwillig an die ETH kommen.Das tun sie gern, und die ETH ist deshalb eine der internationalsten Hochschulen weltweit. Die Doktorierenden kommen zu über 70 Prozent aus dem Ausland, das gibt eine gute Mischung von Kulturen. Diejenigen, die hierherkommen, sind sich größtenteils bewusst, dass sie hier viel bekommen, aber auch viel geben müssen.Welche Rolle spielt denn die Herkunft in der Schweiz?Es hängt immer davon ab, ob und wie man die Eigenarten des Landes respektiert und wie man versucht, sich einzubringen. Wer versucht, sich der Schweizerischen Mentalität etwas anzupassen, wird auch respektiert. Für mich war es sehr positiv, selbst die Erfahrung zu machen, Ausländer zu sein. Ich hatte keine Probleme im Privaten, an der Hochschule, mit den Studierenden, der Forschungsgruppe oder für die Kinder an den Schulen. Die Lebensqualität in Zürich ist sehr hoch – immerhin bin ich nun schon 25 Jahre geblieben und fühle mich hier zuhause.Inwieweit beeinflusst das politische System in der Schweiz mit den vielen Referenden Ihre Arbeit?Ich bekomme meinen Schweizer Pass diesen Sommer, dann darf ich an Abstimmungen teilnehmen.Die Schweiz hat eine lange Tradition der direkten Demokratie. Die Bürger gehen nicht nur alle vier Jahren zu Wahlen und rechnen dann mit der Regierung ab, wie man dies teilweise in Deutschland beobachten muss. Hier gibt es einen permanenten Dialog. Und der führt immer wieder auch zu Entscheidungen, über die ich erstaunt bin. Als es zur Abstimmung kam, mehr Ferien zu bekommen, hat das Stimmvolk „nein“ gesagt. In einer direkten Demokratie gibt es aber auch Abstimmungsergebnisse, die für die Forschung schwierig sind.Sie denken an die Initiative gegen Masseneinwanderung aus dem Jahr 2014?Ja, genau. Als 49,7 Prozent gegen die Begrenzung der Freizügigkeit mit der EU gestimmt haben und 50,3 Prozent dafür. Für die Schweizer Wissenschaft bedeutete dies eine enorme Einschränkung. Wir hoffen natürlich, dass wir am EU-Forschungsrahmenprogramm Horizon Europe auch teilnehmen können. Die Forscherinnen und Forscher der ETH wollen sich auch weiter mit den Besten messen und natürlich an den akademischen „Europameisterschaften“ teilnehmen.Frauke Zbikowski traf Detlef Günther in seinem Büro im Hauptgebäude der ETH Zürich. Vom Bahnhof zum Hauptgebäude sind es nur etwa zehn Gehminuten – und das, obwohl Zürich die größte Stadt der Schweiz ist.<figure><img src="https://media.graphcms.com/7oczlsH4QnaFJcNlKcZD"><figcaption><label>Abb. 1: </label>Beschreibt die Integrität der Forschung als eine der größten Herausforderungen: Detlef Günther, Vizepräsident der ETH Zürich. Fotos: Frauke Zbikowski</figcaption></figure>
<h2>Zur Person: Detlef Günther</h2>Detlef Günther hat an der Universität Halle-Wittenberg studiert und im Jahr 1990 in analytischer Chemie promoviert. Nach einem Postdoc-Aufenthalt an der Memorial University of Newfoundland, Kanada, kam er im Jahr 1995 an die ETH Zürich und forschte dort am Institut für Geochemie und Petrologie. Im Jahr 1998 wurde er Assistenzprofessor, 2003 wurde er auf eine außerplanmäßige Professur für Spurenelement- und Mikroanalytik am Laboratorium für anorganische Chemie der ETH Zürich berufen, 2008 auf eine reguläre Professur. Von 2010 bis 2012 leitete er das Departement für Chemie und Angewandte Biowissenschaften an der ETH. Seit 2015 ist er Vizepräsident für Forschung und Wirtschaftsbeziehungen der Hochschule. In seiner Forschung befasst er sich mit Laserablation mit Plasma-Massenspektrometrie (LA-ICP-MS). Seit 2014 ist er Mitglied der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina.

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"Jeden Schritt mit Respekt": Detlef Günther, Vizepräsident der ETH Zürich

Fast seine gesamte wissenschaftliche Karriere hat der analytische Chemiker Detlef Günther an der ETH Zürich verbracht. Heute ist er Vizepräsident für Forschung der Hochschule. Ein Gespräch über gute wissenschaftliche Praxis, internationale Zusammenarbeit und die Schweiz. Nachrichten aus der Chemi...

Das wissenschaftliche Verlagswesen und die wissenschaftliche Kommunikation sind wie kaum eine andere Branche im Umbruch. Technischer Fortschritt, Open Access und Open Science haben einen disruptiven Prozess in Gang gesetzt.
Im Jahr 1665 wurden die beiden ersten wissenschaftlichen Zeitschriften gegründet, das Journal des sçavans und die Philosophical Transactions of the Royal Society. Seither veröffentlichen Forschende ihre Ergebnisse als Paper in solchen Zeitschriften, denn dieses Kommunikationsformat hat sich über Jahrhunderte ohne größere notwendige Systemanpassungen bewährt.Kleinere Veränderungen brachte erst das 20. Jahrhundert. Bibliometrische Analysen – die erste übrigens für Chemiezeitschriften – sollten Bibliotheken die Auswahl der Zeitschriften erleichtern, denn deren Zahl war exponentiell gestiegen. Der Impact Factor gewann schnell an Bedeutung.Größere Veränderungen brachte dann das Internet. E-Journals machten Paper überall verfügbar und leicht zu teilen. Die Paper ließen sich durch den Digital Object Identifier (DOI) verlinken und über die Open Researcher and Contributor ID (Orcid) Autoren zuordnen. Mit den heute elektronisch verfügbaren Daten wurden und werden immer mächtigere Datenbanken und Retrievalsysteme geschaffen – insbesondere für die Chemie.Das Geschäftsmodell der Zeitschriftenverlage blieb dagegen gleich: Forschende treten zum Publikationszeitpunkt die Rechte an ihrem Beitrag an den Verlag ab. Dieser wiederum verkauft den Zugang zu den Zeitschriften an die Forscher zurück, meist über die Universität oder deren Bibliothek, die das Budget bereitstellt und verwaltet. Das ging so lange gut, wie die Zahlen der Forschenden, der Zeitschriften und der Paper überschaubar blieben. Seit den 1980er-Jahren stiegen allerdings alle drei stark, nicht aber die Budgets der Bibliotheken.Dass bei E-Journals keine Druckkosten anfallen, ließ Bibliotheken auf eine Stabilisierung der Kosten hoffen – ein Trugschluss. Der stetig steigende wissenschaftliche Publikationsausstoß, die Kosten der Umstellung auf elektronisches Publizieren und die steigenden Renditeerwartungen der Verlage hielten die Kosten nicht einmal auf gleichem Niveau, sondern ließen sie sogar steigen – die Serials Crisis war da. Sie führte zu immer weiteren Abbestellungen von Zeitschriften. Manche Autoren hatten nun keinen Zugang zu ihrem Paper mehr.<h2>Entstanden aus der Zeitschriftenkrise: die Open-Access-Bewegung</h2>Die Open-Access(OA)-Bewegung, die daraufhin entstand, forderte freien Zugang zu allen Zeitschrifteninhalten und formulierte dieses Ziel im Jahr 2003 in der Berliner Erklärung. Dieser freie Zugang sollte idealerweise über den Goldenen Weg (Golden Open Access) erfolgen. Dabei zahlt nicht mehr der Leser oder die Bibliothek, sondern der Autor fürs Publizieren, nämlich über Article Processing Charges (APC). Beim Grünen Weg erscheint der Beitrag klassisch in einer zu abonnierenden Zeitschrift, aber eine weitere Version des Betrags – vor oder nachdem Peer-Review – wird über eine Selbstarchivierungsplattform frei verfügbar gemacht. Dies kann, gerade wenn viele Autoren gemeinsam ein Paper verfasst haben, zu vielen, leicht unterschiedlichen Versionen und – im Fall von nicht korrigierten Fehlern – zu Problemen führen.In der Folge entstanden viele OA-Zeitschriften und -Repositorien zur Selbstarchivierung. PLoS One wurde im Jahr 2006 das erste OA-Mega-Journal, das Inhalte aus allen Bereichen der Wissenschaft veröffentlicht – bis zu 35 000 Beiträge erscheinen jährlich.Der erhoffte schnelle und vollständige Wechsel zu Open Access und damit die Revolution des Verlagswesens blieb aber aus.<h2>Open Access 2021: volle Kraft voraus</h2>Um diesen Wechsel zu forcieren, gab es in den letzten Jahren Anstrengungen aus der Politik und von Forschungsorganisationen sowie Bibliotheken. Im September 2018 publizierte die Coalition S, ein Zusammenschluss aus 18 (inter)nationalen Forschungsförderern sowie der Europäischen Kommission und dem Europäischen Forschungsrat, ihren Plan S. Das ist eine Zehn-Punkte-Strategie, um das wissenschaftliche Publikationssystem bis zum Jahr 2020 vollständig auf OA umzustellen. Gemäß Plan S ist es Pflicht, staatlich finanzierte Forschungsergebnisse ab dem Jahr 2020 in für die Öffentlichkeit frei zugänglichen OA-Zeitschriften oder -Repositorien zu publizieren. Ausgeschlossen ist die Veröffentlichung in hybriden Zeitschriften, also solchen, die OA nur als Möglichkeit anbieten. Laut Robert-Jan Smits, dem EU-Beamten, der maßgeblich Plan S konzipierte, könne das „S“ in Plan S für: „science, speed, solution, shock“ stehen.Aufgrund des eng gesteckten Zeitplans, der unklaren Umsetzung und der Einschränkung der dann noch zur Verfügung stehenden Zeitschriften haben viele Wissenschaftler, insbesondere Chemiker, dieses Vorhaben kritisiert. Ein weiterer Kritikpunkt war, dass speziell Fachgesellschaften oft mit den Erlösen aus dem Verlagsgeschäft ihre Organisation finanzieren. Die Kritik führte zu einer Überarbeitung der Kernpunkte von Plan S und zu einer ins Jahr 2021 verschobenen Umsetzung.Parallel wird seit einigen Jahren und zunehmend erfolgreich sowohl auf nationaler Ebene als auch von Forschungsinstitutionen versucht, mit den Verlagen Read-and-Publish-Lizenzen auszuhandeln. Mit diesen Lizenzen publizieren Forschende ohne (direkte) Bezahlung der APCs in den Zeitschriften eines Verlags, egal ob dies reine OA- oder Hybridzeitschriften sind; bei letztgenannten soll das Ziel allerdings ebenfalls die Umstellung auf reine OA-Zeitschriften sein.In Deutschland verhandelt solche Lizenzen das Projekt Deal, ein von der Allianz der deutschen Wissenschaftsorganisationen angestoßener Interessenverbund. Die Verhandlungen starteten mit den drei größten Wissenschaftsverlagen Wiley, Elsevier und Springer Nature. Mit Wiley und Springer Nature sind die – öffentlichen – Verträge bereits abgeschlossen, mit Elsevier wurden die Verhandlungen abgebrochen. Umgekehrt ist es in der Schweiz: Hier will der Zusammenschluss Swissuniversities den Vertrag mit Elsevier zuerst unterschreiben, mit Wiley wird noch verhandelt, die Verhandlungen mit Springer Nature stockten [aktuelle Entwicklung: Meldung auf S. 15]. In anderen Ländern gibt es ähnliche Bestrebungen und teils schon mehrjährige Erfahrungen mit solchen Verträgen. So hat das niederländische Konsortium bereits ab dem Jahr 2016 solche Verträge mit Elsevier und Wiley abgeschlossen, wie auch Österreich 2017 mit verschiedenen Verlagen, etwa Taylor &amp; Francis und IOP Publishing.Wie sich die Kosten der deutschen Deal-Lizenzen auf die Institutionen aufteilen, ist mittelfristig ungeklärt. Universitäten oder Forschungsgruppen, die viel publizieren, werden bei einer Weiterverrechnung mehr bezahlen müssen als jene, die wenig veröffentlichen. Die forschende Industrie, insbesondere Chemie und Pharma, die im klassischen Publikationsmodell einen hohen finanziellen Beitrag leistet – nämlich für E-Journals und Sonderdrucke für Marketing – profitiert von der Umstellung auf Open Access: Die Industrie nutzt zwar Zeitschriften stark, publiziert aber wenig und meist nur Patente.<h2>Open Science: Konzepte und Innovationen</h2>Open Access ist nur eines von mehreren Prinzipien, die das Ziel haben, unter dem Überbegriff Open Science Wissenschaft einer größeren Zahl von Menschen einfacher zugänglich zu machen. Die EU hat dies im Jahr 2016 in dem Buch „Open Innovation, Open Science, Open to the World – a Vision for Europe“ beschrieben.Die Online-Enzyklopädie Wikipedia definiert Open Science anhand von sechs Prinzipien: Open Access, Open Data, Open Source, Open Methodology, Open Peer Review und Open Educational Resources. Allerdings gibt es wie für Open Access auch für Open Science keine einheitliche Definition.Die Schweizer Akademie der Wissenschaften beispielsweise sieht Open Science als einen Ansatz, neue Wege der Wissensgenerierung durch kooperatives Arbeiten zu erschließen. Unter deren acht Elementen ist etwa zusätzlich das Element Open Notebooks, also elektronische Laborjournale, die nicht nur Zugriffe innerhalb der Forschungsgruppe erlauben, sondern bei denen im Sinn einer Citizen Science auch Fachfremde mitwirken. Inwieweit solche Ansätze in der Chemie durchsetzbar sind, sei dahingestellt.Ein weiteres Element sind Scientific Social Networks. Dazu gehören Plattformen wie Preprintserver, aber auch Blogs und Netzwerke wie Research Gate oder Twitter. Gerade jüngere Wissenschaftler nutzen Twitter aktiv, um ihre Ergebnisse, auch als Preprints, innerhalb ihrer Community zu verbreiten. Dies ermöglicht eine Wissenschaftskommunikation, die weit über das klassische Publizieren in Zeitschriften hinausgeht, denn sie ist öffentlich und schafft Zugang für Journalisten und Forschungsförderer. Auch fachfremde Bürger bekommen als Twitternutzer so Einblick in die Forschungsarbeit. Alternative Metriken bilden auch diese Kommunikation ab.Über Preprintserver lassen sich Manuskripte bereits vor Einreichen und Publikation bei einer Zeitschrift veröffentlichen und zur Diskussion stellen. Sie werden auch in der Chemie immer populärer – insbesondere seit chemische Fachgesellschaften beschlossen haben, bereits als Preprint publizierte Manuskripte nun doch zur Veröffentlichung in einer Zeitschrift anzunehmen.Mit Open Access verlieren wissenschaftliche Bibliotheken Aufgaben, mit Open Science gewinnen sie welche. Die neuen Möglichkeiten für Management, Retrieval und Discovery wissenschaftlicher Informationen und Daten verlangen neue Daten- und Informationskompetenzen, die Forschenden und Lehrenden zu vermitteln sind.<h2>Der Weg zu Open Data und Open Science</h2>Derzeit liegt der Schwerpunkt auf der Förderung von Open Data. Hier gibt es unterschiedliche Bestrebungen, Forschungsdaten so vollständig wie möglich zur Nachnutzung für Citizen Science zur Verfügung zu stellen. Diese Bestrebungen werden auf institutioneller, nationaler oder beispielsweise europäischer Ebene verfolgt. Zudem erweitern Universitätsbibliotheken ihre bereits vorhandenen und für den grünen Open-Access-Weg notwendigen universitären Publikationsserver so, dass auch Primärdaten hinterlegt und publiziert werden können. Für diese zur Verfügung gestellten Daten soll das Fair-Prinzip gelten. Dieses Akronym steht für: findable, accessible, interoperable und re-usable. Deshalb sind dafür korrekte und vollständige Metadaten notwendig.In der Chemie ist es seit langem üblich, Forschungsdaten als Supplementary Material zu publizieren. Dies ist in der Regel jedoch nur eine Auswahl. Bei Open Data sollen – zumindest nach den Vorstellungen einiger – die gesamten im Projekt erzeugten Daten verfügbar gemacht werden.In Deutschland soll dies über das Projekt Nationale Forschungsdateninfrastruktur (NFDI) erfolgen, einer Initiative des Rats für Informationsinfrastrukturen und der Gemeinsamen Wissenschaftskonferenz. Mit dieser Initiative soll ein bundesweites Netzwerk von Diensten und Beratungsangeboten für das Forschungsdatenmanagement zur Verfügung gestellt werden. Die entsprechende Bund-Länder-Vereinbarung wurde im November 2018 geschlossen. Der vereinbarte Förderumfang beläuft sich auf bis zu 90 Millionen Euro pro Jahr im Zeitraum von 2019 bis 2028. Für die Chemie geschieht dies im Rahmen der Nationalen Forschungsdateninfrastruktur für Chemie NFDI4Chem. Über den Antrag des Konsortiums soll im Sommer 2020 entschieden werden.In der Schweiz gibt es ähnliche Bestrebungen: Hier versucht die Stiftung Switch, die Betreiberin des Schweizer Wissenschaftsnetzes der Hochschulen ist, mit dem Projekt Konnektom eine Plattform aufzubauen und verfügbar zu machen. Damit sollen Forschungsdaten verknüpft, geschützt und für alle Adressaten zugänglich und nutzbar gemacht werden. Auch auf EU-Ebene gibt es zahlreiche übergreifende Projekte, etwa die European Open Science Cloud.<h2>Ausblick</h2>Noch immer ist für die meisten Forschenden ihr Paper mit abgeschlossenem Peer-Review das Endprodukt des Forschungsprozesses. Mit den Prinzipien von Open Science verändert sich aber der Prozess und die Art des Austauschs. Zudem eröffnet der Zugriff auf Volltexte und auf gesamte Datensätze inklusive Negativresultate neue Möglichkeiten. Heute erscheinen jährlich über fünf Millionen Paper – Informationsmengen, die sich nicht mehr bewältigen lassen. Mit neuen Formaten werden die Informationsbausteine noch weiter fragmentieren. Die anstehenden Veränderungen bieten jedoch Potenzial für Verlage wie Fachgesellschaften, sich neue Dienstleistungen in der wissenschaftlichen Information zu erschließen und so – auch jenseits der klassischen Zeitschrift – weitere 350 Jahre relevant zu bleiben.<figure><img src="https://media.graphcms.com/6inH7AycSPy5lQ2Qswxt"><figcaption><label>Abb. 1: </label>Die Elemente von Open Science und Open Innovation werden unterschiedlich definiert.</figcaption></figure>
<h2>AUF EINEN BLICK</h2>Nach Jahren der Diskussion über den besten Weg nimmt Open Access nun Fahrt auf. Initiativen wie Plan S oder das Projekt Deal verändern die Verlagswelt.Neben Open Access rückt das übergeordnete Prinzip, die Open Science, in den Mittelpunkt. Wissenschaft und wissenschaftliches Publizieren sollen dadurch an Transparenz gewinnen.Als Element von Open Science wird Open Data zunehmend wichtiger. Ziel ist es, alle Primärdaten der Forschung frei verfügbar zu machen.<figure><img src="https://media.graphcms.com/p6JBvxVS6x71Iu6dzPLA"><figcaption><label>Abb. 2: </label>Lesen, Arbeiten und Publizieren – alles frei und in der Cloud. Illustration: Somjai Jaithieng/<a href="https://stock.adobe.com" target="_blank">stock.adobe.com</a></figcaption></figure>
<h2>Die Autoren</h2>Oliver Renn leitet seit 2012 das Informationszentrum Chemie | Biologie | Pharmazie an der ETH Zürich. Daneben ist er Dozent, Leiter der Öffentlichkeitsarbeit und Leiter der Wissenschaftskommunikation des Departements Chemie &amp; Angewandte Biowissenschaften. Seit 2014 ist er im Verlagsbeirat der GDCh und seit 2019 im Beirat von ChemRxiv.<div><img src="https://media.graphcms.com/ZlRdV3SB6EKRgOxTbUVQ">

</div>Leo Betschart ist seit dem Jahr 2018 Information Consultant Chemistry am Informationszentrum Chemie | Biologie | Pharmazie an der ETH Zürich. Seit 2018 ist er auch im Beirat von Science of Synthesis tätig.<div><img src="https://media.graphcms.com/tLDEArVlQD6QKBrwRPAr">

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