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Raumfahrt

Feste Treibstoffe für Raketen

Nachrichten aus der Chemie, Mai 2023, S. 22-25, DOI, PDF. Login für Volltextzugriff.

Von Wiley-VCH zur Verfügung gestellt

Hervorgegangen aus militärischen Entwicklungen sind Komposittreibstoffe die am häufigsten eingesetzten festen Raketentreibstoffe. Dafür müssen Binderpolymere, Oxidationsmittel, Brennstoffe und Additive zusammen hohen Schub erzeugen.

Anfang des Jahres fand im bayerischen Aschau am Inn eine Premiere statt: Nach sechs Jahren Entwicklungsarbeit wurde eine der weltweit größten Feststoffraketen auf deutschem Boden hergestellt. Der „Red Kite“ genannte Raketenmotor soll künftig bis zu 200 Kilogramm wissenschaftliche Nutzlasten auf eine Höhe von zirka 240 Kilometer bringen, um Experimente in der Schwerelosigkeit durchzuführen. So lassen sich beispielsweise Erkenntnisse zur Physik und Chemie verschiedener Atmosphärenschichten gewinnen oder biologische Phänomene in der Schwerelosigkeit erforschen. Nach einem Testflug kommenden September sollen damit regelmäßig Forschungsmissionen laufen. Das energetische Kernstück von „Red Kite“ besteht aus über 900 Kilogramm Komposit-Festtreibstoff, wie er in anderen zivilen und militärischen Systemen zum Einsatz kommt.

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Brennender Festtreibstoff.

Polymeres Grundgerüst als Basis

Komposit-Festtreibstoffe bestehen aus einem polymeren Netzwerk, in das kristalline Oxidationsmittel und, je nach Rezeptur, pulverförmige Metalle sowie weitere Additive eingearbeitet sind. Die polymere Matrix, der Binder, dient dabei gleichzeitig als Reduktions- und Bindemittel, das die Festigkeit und Elastizität sicherstellt. Die Konsistenz dieser Mischung ist der eines handelsüblichen Radiergummis ähnlich (Foto rechts oben).

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Probe eines typischen, ausgehärteten Komposittreibstoffs. Die hellen Partikel sind grobkörniges Ammoniumperchlorat, die Bindermatrix ist durch fein verteiltes Eisenoxid rot gefärbt. Alle Fotos: Bayern-Chemie

Basis des Binders sind langkettige, flüssige Präpolymere, die mit Vernetzern, den Härtern, zu einem quervernetzten Netzwerk aushärten. Die am häufigsten verwendeten Vertreter dieser Binderpolymere sind Polybutadiene (PB), zum Beispiel hydroxylterminiertes PB (HTPB, Grafik).

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Strukturen gängiger Treibstoffkomponenten.

Hydroxygruppen an Kettenende und Seitenketten des Präpolymers reagieren während der Aushärtung mit Isocyanaten der Härterkomponente, wodurch ein dreidimensional additionsvernetztes Polyurethan entsteht. In den meisten Fällen greift man dabei auf aliphatische Isocyanate zurück, ein typischer Vertreter ist Isophorondiisocyanat (IPDI, Grafik). Seltener werden Polymere verwendet, die durch Vernetzung von Carbonsäuren mit Aziridinen und/oder Epoxiden entstehen. Aus toxikologischer Sicht ist es günstiger, Polyurethane statt dieses Grundgerüsts zu verwenden.

In Spezialanwendungen gibt es Azidpolymere wie Glycidylazidpolymer (GAP, Grafik): Zersetzen sich die Azidgruppen zu molekularem Stickstoff, entstehen viel Energie und große Gasvolumina.1) Angewendet wird das beispielsweise für ein Rettungssystem in U-Booten: Der Treibstoff soll dort keinen Schub erzeugen, sondern ähnlich wie bei einem Kfz-Airbag in kurzer Zeit eine große Menge inerter Gase freisetzen. Diese drücken Wasser aus den Ballasttanks und ermöglichen im Notfall ein schnelles Auftauchen des U-Boots. Je nach Zusammensetzung sind Treibstoffe mit GAP empfindlicher in der Handhabung als andere.

Hauptbestandteil: Oxidator

Mit bis zu 85 Prozent den größten Anteil an Festtreibstoffen hat das Oxidationsmittel. Hier kommt oft Ammoniumperchlorat (APC) zum Einsatz. APC bringt hohe Leistung, ist preisgünstig, und Treibstoffeigenschaften wie Abbrandgeschwindigkeit und Verarbeitungsviskosität lassen sich über Korngrößenänderungen oder auf APC ausgerichtete Katalysatoren einstellen. Das Perchlorat bildet beim Abbrand Salzsäure : Zirka 30 Massenprozent der Abbrandprodukte eines klassischen Komposittriebwerks bestehen daraus. Nicht nur aus ökologischer Sicht ist das bedenklich – in der militärischen Verwendung sorgt die am Abgasstrahl kondensierende Luftfeuchtigkeit für einen Nebel (Foto rechts). So lassen sich Startplattform und Flugkörper schnell aufklären und bekämpfen.

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Abbrand eines Testmotors am Raketenprüfstand. Pro Sekunde setzt der Motor zirka 100 Kilogramm Treibstoff um; es entstehen Rauch und Nebel.

Aus diesen Gründen wird seit Jahren an alternativen Oxidatoren geforscht. Einen Stoff zu finden, der alle Anforderungen ähnlich gut wie APC erfüllt, ist allerdings schwierig. Strontium- oder Ammoniumnitrat (AN) kommen in manchen Spezialanwendungen zum Einsatz. Sie erreichen jedoch einen geringeren Schub. Zudem stören Effekte wie die Phasenübergänge in NH4NO3.

Verhältnismäßig neu ist Ammoniumdinitramid (ADN, Grafik) als Oxidator – diverse Hürden durch die Kristallform und mechanischen Eigenschaften machen einen Einsatz schwierig. Forschungs- und Entwicklungsarbeiten haben Fortschritte hin zur kommerziellen Anwendung gebracht (Fotos, S, 24).

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Oben: Ein lose brennendes Komposittreibstoffstück mit Ammoniumperchlorat; weiße Funken stammen von brennenden Aluminiumpartikeln. Unten: Treibstoffstück, auf Ammoniumdinitramid basierend.

Kneten, Gießen, Härten

Neben der chemischen Zusammensetzung beeinflusst das Herstellverfahren die späteren Eigenschaften. Angefangen wird meist mit Vorlegen der flüssigen Komponenten (außer dem Härter), in die dann schrittweise alle Feststoffe eingearbeitet werden. Damit sich die Komponenten gut durchmischen, werden industrielle Kneter verwendet, die hohe Scherkräfte aufbauen (Foto, S. 25).

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Einblick in die großtechnische Treibstoffherstellung. Ineinandergreifende Mischerschaufeln liefern homogene Mischergebnisse.

Prozessparameter wie Dosierrate oder Mischzeiten können die späteren mechanischen und ballistischen Eigenschaften beeinflussen, also die Abbrandgeschwindigkeit und deren Abhängigkeit von Druck und Temperatur. Hier müssen Treibstoffchemiker und Prozessingenieure eng zusammenarbeiten.

Im letzten Prozessschritt wird der flüssige Härter eingemischt, und die zähflüssige Masse kann schließlich in die Brennkammer gegossen werden. Bei Temperaturen von 40 bis 80 °C härten die Treibstoffe für zirka fünf bis zehn Tage aus; nach Demontage der Gießwerkzeuge ist der Treibstoff fertig.

Durch die Kombination reaktiver Oxidations- und Reduktionsmittel sind Raketentreibstoffe klassische Explosivstoffe. Alle Maschinen, Gebäude und Werkzeuge in der Herstellung und Bearbeitung müssen daher besonderen Anforderungen entsprechen. Neben großen Sicherheitsabständen ist das Arbeiten „unter Sicherheit“ zentraler Bestandteil: Möglichst viele Prozesse werden ferngesteuert ohne direkt anwesende Mitarbeiter durchgeführt. Bei Explosion oder ungewollter Entzündung ist so lediglich mit Sachschäden, aber nicht mit Verletzten oder gar Toten zu rechnen.

Sicherheit und Funktionalität

Als Explosivstoff müssen Treibstoffe sicher im Umgang sein: Die Empfindlichkeit gegen mechanische und thermische Lasten darf von den ersten Herstellschritten bis zum Abbrand nie zu groß werden.

Ein Treibstoff muss Schub erzeugen. Gemessen wird der im spezifischen Impuls Isp [N·s·kg–1], der angibt, wie viel Schub in Ns pro kg Treibstoffmasse sich erreichen lassen. Der Isp hängt direkt ab von der Brennkammertemperatur beim Abbrand – je exothermer die Verbrennungsreaktion, desto höher der Schub. Umgekehrt verhält es sich mit der mittleren Molmasse der Abbrandprodukte Mw: Je kleiner Mw, desto mehr Schub.2)

Wichtig sind zudem die mechanischen Eigenschaften: Das Kompositmaterial muss hohe Ansprüche an Dehnfähigkeit, Spannung und Elastizitätsmodul erfüllen, damit während des gesamten Lebenszyklus weder Risse noch Verformungen entstehen. Speziell im militärischen Bereich ist das eine hohe Hürde, weil diese Anforderungen in einem Temperaturband von –54 bis +71 °C und auch nach jahrelanger Alterung erfüllt werden müssen. Im selben Temperaturband müssen die ballistischen Eigenschaften passen (Grafik).

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Abbrandraten eines Treibstoffs bei verschiedenen Druck- und Temperaturniveaus. Bei Festtreibstoffen hängen sie maßgeblich von der Temperatur des Treibstoffs und dem Druck in der Brennkammer ab.

Für den Herstellprozess soll die Treibstoffmasse direkt nach Mischende noch fließfähig sein, darf danach aber weder zu schnell noch zu langsam aushärten. Erreicht werden diese und weitere Anforderungen durch Katalysatoren und Additive, die meist in mehrere Eigenschaften gleichzeitig eingreifen.

Nicht selten wird bei kleinen Änderungen ein Parameter verbessert, während ein anderer dabei deutlich schlechter wird. Für jedes System hier die richtige Balance zu finden, ist die Kunst des Treibstoffchemikers. Aus militärischer Sicht sollte ein Raketenmotor zusätzlich die Eigenschaften als insensitive Munition (IM) erfüllen, darf also beispielsweise bei Beschuss nicht detonieren.

Festtreibstoffe im Weltraum

Nicht nur auf dem Weg dorthin, sondern auch direkt im Weltraum kommen Feststoffmotoren zum Einsatz. Das Material muss dann etwa die enorme, teilweise jahrelange Belastung mit ionisierender Strahlung und den Einschlag hochenergetischer Mikrometeoriten aushalten. Zusammen mit der Europäischen Raumfahrtagentur ESA hat der Raketenhersteller Bayern-Chemie in einem Forschungs- und Entwicklungsprogramm experimentell nachgewiesen, dass die harschen Weltraumbedingungen selbst nach langer Zeit Qualität und Leistung von Feststoffantrieben nur wenig beeinträchtigen.

Geplant ist eine Anwendung vor allem an Bord von Satelliten: Mit einem Feststoffraketenmotor können Satelliten am Ende ihrer Lebensdauer kontrolliert zum Absturz gebracht werden. Dies verhindert Weltraumschrott im Orbit, der sonst gefährlich für bestehende und künftige Missionen ist.4)

Fest, flüssig oder beides?

Raketenantriebe lassen sich je nach Bauart in Systeme mit flüssigen, festen oder hybriden Treibstoffen unterteilen. Flüssige Antriebssysteme liefern pro Masseneinheit Treibstoff sehr hohen Schub: die Kombination aus flüssigem Sauerstoff (Lox) und Wasserstoff LH2 zirka 4700 Ns·kg–1. Allerdings muss die Rakete spezielle Tanks und ein komplexes System aus Förderleitungen und Spezialpumpen mit sich führen. Die Leistung von Flüssigantrieben ist regelbar. Viele der Oxidator-Brennstoffkombinationen sind dabei entweder extrem tiefgekühlt, etwa Lox/LH2, oder es sind aggressive, toxische Verbindungen notwendig wie Hydrazin und rauchende Salpetersäure.

Aufwendige Architektur und komplexe Betankungsvorgänge gibt es bei Feststoffmotoren nicht. Einmal hergestellt, sind Feststoffantriebe im Prinzip jederzeit einsatzbereit. Ein Großteil der Masse und des Volumens des Feststoffantriebs besteht aus reinem Treibstoff, der auf die Masse bezogen jedoch weniger Schub liefert als im direkten Vergleich mit Flüssigantrieben. Eine Regelung oder Abschalten ist hier nicht möglich: Einmal entzündet, brennt der Motor mit seinem vorgegebenen Schubprofil vollständig ab.

Gewissermaßen das Bindeglied zwischen beiden Antriebsarchitekturen sind Hybrid-Triebwerke: Hier wird ein flüssiger oder gasförmiger Oxidator wie hochkonzentriertes Wasserstoffperoxid oder Flüssigsauerstoff über eine feste Brennstoffoberfläche geführt. Sie besteht aus Kohlenwasserstoffen wie Polyethylen oder Paraffin. Der Aufbau ist hier weniger komplex als in klassischen Flüssigantrieben, und die Leistung lässt sich regeln.

Weniger toxisch und 3-D-Druck

Der technische Grundstein der Komposittreibstoffe wurde in den 1960er und 1970er Jahren gelegt. Verbesserungen und Weiterentwicklungen haben sich seitdem ergeben, getrieben von zivilen und militärischen Projekten.

Standen zunächst möglichst viel Leistung und ein besseres Verständnis der viskoelastischen Eigenschaften im Vordergrund, legen Forschung und Entwicklung zunehmend den Schwerpunkt auf Umweltverträglichkeit (weniger toxische Treibmittel mit höherer Leistung, green propellants). Beispielsweise ergeben Oxidationsmittel wie ADN seit einigen Jahren völlig neue Systeme. Neue Katalysatorkonzepte und Polymere werden ebenfalls getestet.

Nicht nur die chemische Zusammensetzung, auch für die Herstellverfahren gibt es neue Ansätze: Auf Akustik-Resonanz basierende Mischverfahren wie das Resonant Acoustic Mixing (RAM)5) sollen die Mischzeiten von Tagen auf wenige Minuten kürzen. Additive Fertigungsverfahren werden erforscht: 3-D-Druck ermöglicht neue Geometrien und Treibstoffe mit variablen Zusammensetzungen. Nachdem dabei keine klassische Polyurethanchemie mehr stattfindet, muss die polymere Grundstruktur hierfür neu erdacht und untersucht werden.

Der Autor

Marcel Holler ist Technical Expert Energetic Materials im Chemical Development, BCT2, bei Bayern-Chemie, einem Unternehmen für Lenkflugkörper- und Raumfahrtantriebe in Aschau am Inn. Er ist Pyrotechniker und hat an der Ludwigs-Maximilians-Universität München in Chemie promoviert.https://media.graphassets.com/Tnd3qtU2RuC5cdVmDzsQ

www.bayern-chemie.com

  • 1 A. Davenas, Solid Rocket Propulsion Technology, Elsevier Newnes, 2012
  • 2 G. P. Sutton, O. Biblarz, Rocket Propulsion Elements, 9th ed., Wiley, 2016
  • 3 S. Sims, S. Fischer, C. Tagliabue, Prop., Explos., Pyrotech. 2022, 47, e20220002
  • 4 M. Holler et al., 8th Space Propulsion Conference, Estoril, Portugal, May 2022
  • 5 P. C. Smith, J. P. Huf, C. A. Williams, Prop., Explos., Pyrotech. 2022, 47, e202100028

Industrie + TechnikSchlaglichtthema: Chemie im Weltraum

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