Ausgeforscht

Marie Curie, Clara Immerwahr, Dorothy Hodgkin, Rosalind Franklin, Ada Yonath … das vorige Jahrhundert hat erfolgreiche Chemikerinnen hervorgebracht. Viele mussten erst einmal massive Vorurteile der Gesellschaft überwinden, um sich überhaupt mit Chemie befassen zu dürfen. Doch jetzt, im 21. Jahrhundert, sind diese Vorurteile längst in Vergessenheit geraten, nicht wahr?
Nun, anscheinend konnten sie in einem hartnäckigen Widerstandsnest in Großbritannien allen Gleichberechtigungstendenzen trotzen und bis heute überleben. Sie manifestieren sich neuerdings an unerwarteten Stellen, zum Beispiel bei der Kategorisierung von Spielzeugen. Gleich drei große britische Handelsketten sind in den letzten Monaten dafür unter Beschuss gekommen, dass sie wissenschaftliche Waren, darunter Chemie-Experimentierkästen, als Spielzeuge für Jungen (toys for boys) kennzeichneten.
Den erste Fuß im Fettnäpfchen hatten Marks &amp; Spencer. Kurz vor Weihnachten machte die Kampagne “Let toys be toys” (<ext-link ext-link-type="uri"><a href="https://www.lettoysbetoys.org.uk" target="_blank">www.lettoysbetoys.org.uk</a></ext-link>) darauf aufmerksam, dass in M&amp;S-Filialen alle wissenschaftlichen Spielzeuge mit “für Jungen” gekennzeichnet waren. Darunter befand sich auch die gesamte Produktpalette des Londoner Science Museum — dort war man über diese Halbierung der Zielgruppe auch nicht beglückt. Die Kette reagierte prompt und entfernte die meisten beanstandeten Kennzeichnungen, aber die Konkurrenten hatten offenbar nicht aufgepasst: 
Die Drogeriekette Boots machte sich weiterhin desselben Vergehens schuldig, was insofern ironisch ist, als der Firmengründer John Boot Mitte des 19. Jahrhunderts seine Karriere damit begann, Heilkräuter aus der Produktion seiner Mutter zu verkaufen. Nach seinem frühen Tod führte seine Witwe die Firma weiter, die sie dann dem gemeinsamen Sohn Jesse Boot übergab. Die Gründerinnen wären wohl nicht damit einverstanden, dass unter ihrem Namen Chemiekästen als Jungensache gekennzeichnet werden. Erst nachdem sich die Verbrauchersendung BBC Watchdog der Sache annahm, zog Boots die Kennzeichnung zurück.
Der Wachhund hatte aber offenbar nicht laut genug gebellt, um den größten Dinosaurier des Einzelhandels auf den britischen Inseln aufzuwecken. Jedes siebente im Vereinigten Königreich ausgegebene Pfund, so lautet die Faustregel, klingelt in den Kassen von Tesco. Und bis vor kurzem konnte man auf deren Website Chemie-Experimentierkästen bestellen, die — Sie haben es erraten — nur für Jungen sind.
Eine erzürnte Chemikerin schrieb einen vor Sarkasmus triefenden offenen Brief an die Firma und erhielt zur Antwort, dass die Kategorisierung lediglich die Gewohnheiten und Wünsche der Kunden reflektiere. Erst nach breiterer Medienaufmerksamkeit machte Tesco einen Rückzieher und änderte die Kennzeichnung des Chemiekastens. Bei anderen Spielzeugen, etwa Baukästen, blieb die Firma zuerst bei der geschlechtsspezifischen Markierung. Im Verlauf einiger Monate verschwand sie Geschlechtskategorie aber völlig.
Spielzeugküchen hingegen sind immer noch als Mädchenkram gekennzeichnet — auch wenn die Mädchen vielleicht lieber im Labor kochen als in der Küche und manche Jungen vielleicht den Chefköchen im Fernsehen nacheifern wollen. Notfalls kann man in einem Lebenslauf auch beides unterbringen, wie meine Großmutter, Jahrgang 1908, das tat. Sie ließ sich nicht von gesellschaftlichen Vorurteilen abhalten, Chemie, Biologie und Physik bis zum Staatsexamen zu studieren, aber sie wirkte letztlich doch überwiegend in Haus und Garten.
Vor 100 Jahren, als Oma in die Schule kam, wäre die eingrenzende Kennzeichnung natürlich und ganz normal gewesen. Vor 40 Jahren hätten derartige Verfehlungen in der Bundesrepublik Alice Schwarzer auf den Plan gerufen (in Großbritannien vielleicht Germaine Greer oder Spare Rib). Aber im Jahr 2013? Allein der Umstand, dass solche Dinge heute überhaupt noch angesprochen werden müssen und dass die betroffenen Firmen sich erst unter Mediendruck einsichtig zeigen, legt nahe, dass der Fortschritt sich nicht unbedingt immer nach vorne bewegt, obwohl Druck von der Kundschaft helfen kann, ihm Beine zu machen (<ext-link ext-link-type="uri"><a href="http://lego.cuusoo.com/ideas/view/15401" target="_blank">http://lego.cuusoo.com/ideas/view/15401</a></ext-link>).
Michael Groß
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Chemie nur für Jungs?

Marie Curie, Clara Immerwahr, Dorothy Hodgkin, Rosalind Franklin, Ada Yonath … das vorige Jahrhundert hat erfolgreiche Chemikerinnen hervorgebracht. Viele mussten erst einmal massive Vorurteile der Gesellschaft überwinden, um sich überhaupt mit Chemie befassen zu dürfen. Doch jetzt, im 21. Jahrhu...

Chemie nur für Jungs?

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