Tote als Zeugen
Carl Remigius Fresenius und die forensische Analytik
Von Wiley-VCH zur Verfügung gestellt
Im Jahr 1836 entwickelte James Marsh eine Nachweismethode, mit der Arsen in Mordopfern nachweisbar war. Der analytische Chemiker Carl Remigius Fresenius arbeitete daran, Arsen und Antimon sicher zu unterscheiden. Zwei Kriminalfälle aus dem 19. Jahrhundert sind gut dokumentiert, in denen Fresenius mit seinen analytischen Arbeiten dazu beitrug, vor Gericht Schuld und Unschuld zu beweisen.
Gift ist eine der ältesten Waffen, die Menschen gegeneinander eingesetzt haben. Als die Wissenschaft fortschritt, entstand der Beruf des Toxikologen, damit zum Tod führende Substanzen identifiziert und Gegenmittel gesucht werden konnten“, schreibt die schottische Journalistin und Krimiautorin Val MacDermid in ihrem Buch „Die Anatomie des Verbrechens“.2) In der Toxikologie spielt die Chemie eine zentrale Rolle, und die chemische Analytik war und ist eine der Schlüsseldisziplinen in der Forensik.
„Keine scharfe Gränze …“ – Entwicklungen aus Liebigs Labor
Ein Meilenstein der forensischen Analytik war die von dem britischen Chemiker James Marsh (1794 – 1846) entwickelte Methode der Arsenanalytik. Schon er selbst und in den folgenden Jahrzehnten viele Kollegen erlebten, dass die Marsh-Probe nicht problemlos ist: Sie gerichtsfest anzuwenden, erfordert Erfahrung und Umsicht, sie gehört nur in die Hände erfahrener Analytiker.3) Ein solcher Analytiker war Carl Remigius Fresenius (1818 – 1897).4,5)
Im Liebigschen Labor, wo Fresenius in den Jahren 1842 bis 1845 arbeitete, verfolgte man aufmerksam die Fachliteratur, führte neue Methoden aus und unterwarf sie der Kritik. In einer seiner ersten Publikationen6) bezog sich der junge Fresenius auf eine von Max von Pettenkofer (1818 – 1901) publizierte Methode, mit dem Marsh-Apparat erhaltene Metallspiegel zu prüfen und dabei Arsen von Antimon zu unterscheiden. Pettenkofer hielt sie besonders in „mediko-legalen Fällen“ für anwendbar.7) Sie beruht auf den Farbunterschieden der Sulfide beider Metalle und auf der höheren Flüchtigkeit des Arsensulfids.
Versuche im Gießener Labor ergaben, dass Pettenkofers Methode zwar „hinreicht, Arsen von Antimon zu unterscheiden, falls man nur mit einem der Körper zu thun hat“. Doch sie genüge nie, die Anwesenheit von Arsen zu beweisen, wenn die Probe gleichzeitig Antimon enthält. Der Grund: „… zwischen mehr und minder flüchtig ist keine scharfe Gränze und gelb und orange sind nicht wie weiß und schwarz“.
Fresenius‘ weiterentwickelte Methode „Ueber ein neues Verfahren zur Unterscheidung und absoluten Trennung des Arsens vom Antimon in mit dem Marsh’schen Apparate enthaltenen Metallspiegeln“ trennt beide Elemente und weist sie mit hoher Empfindlichkeit nach. Durch Überleiten von trockenem Schwefelwasserstoffgas gelingt die verlustfreie Umwandlung der Metallspiegel in die Sulfide.
Zu Fresenius‘ Zeiten war die gründliche Kenntnis aller Stoffeigenschaften und Reaktionen für die Analytik unerlässlich: Trockenes salzsaures Gas verwandelt das Antimonsulfid in das flüchtige Antimonchlorid, das nach Einleiten in Wasser und Fällen als Sulfid klar identifizierbar ist. Arsensulfid reagiert hingegen überhaupt nicht mit Chlorwasserstoff, es löst sich jedoch in Ammoniaklösung, bei deren Verdampfung sich das Arsensulfid erneut zeigt. An Trennschärfe und damit Sicherheit übertraf Fresenius‘ neues Verfahren alle bisher bekannten.
Im Jahr 1842 debütierte Frensenius mit einem Vortrag über seine analytische Methode auf der jährlichen Tagung Deutscher Naturforscher und Ärzte.8) In der Folge hielten die Anwesenden es für „dringent nothwendig“ ein Verfahren zu entwickeln, „das als Norm der chemischen Verfahrensweise zur Ausmittelung des Arseniks in legalen Fällen dienen solle“. Der Kommission, die damit beauftragt wurde, gehörte Fresenius an.9)
Seine Entwicklungen und die Überlegungen zur forensischen Analytik, die er in der Folge anstellte, konnte Fresenius bei zwei Kriminalfällen anwenden: im Fall der Anna Maria Theresia Nickel10) und in dem des Johann Wirth.11)
Der Fall Anna Maria Theresia Nickl
Im März 1859 erhielt Carl Remigius Fresenius einen Brief aus Wien. Darin wurde er darum gebeten, seine „Meinung über die chemischen Untersuchungen“ abzugeben, die zwei Gutachterpaare „mit den verschiedenen Theilen der exhumierten Leiche der Anna Maria Theresia Nickl“ vorgenommen hatten. Anna war im Alter von knapp 15 Jahren plötzlich verstorben. Der Mutter, einer aus damaliger Sicht wenig umgänglichen und moralisch zweifelhaften Person, warfen die Strafverfolgungsbehörden vor, sie habe ihr Kind vergiftet. Sie profitierte von einer Lebensversicherung, die sie für ihre Tochter abgeschlossen hatte, sodass zudem der Verdacht auf Versicherungsbetrug im Raum stand. Ein erstes Gerichtsurteil befand sie des Mordes schuldig.
Arsen oder Antimon? Kunstfehler der forensischen Analytiker
„Im Interesse der Wissenschaft“ sagte Fresenius zu, das forensische Gutachten zu prüfen. Die Aufgabe war verzwickt, war doch „das Untersuchungsmaterial durch die beiden Expertisen verbraucht, neues nicht zu beschaffen …“ Das einzige, was er tun konnte, war „zu erfahren ob die Schlüsse richtig und vollkommen zuverlässig sind, welche die Experten aus den von ihnen beobachteten Erscheinungen gezogen haben.“
Am 18. April, etwas mehr als fünf Wochen nach der Anfrage, schickte er ein 23 Seiten umfassendes Schriftstück mit einer vernichtenden Kritik der ihm vorliegenden Gutachten nach Wien.
Zunächst beschreibt er die Leichenteile einer ersten Ausgrabung, von denen das erste Gutachterpaar ein Viertel zurückschickte; es stand später dem zweiten Gutachterpaar zur Verfügung. Dieses erst wog die Teile. Daraus errechnete Fresenius, welche „Grundgesamtheit“ den Befunden des ersten Gutachtens zugrunde gelegen haben musste: ungefähr 284 Gramm plus etwa 4,8 Gramm Mageninhalt und eine unbekannte Probenmenge aus einem Schwamm, mit dem man aus Mund und Nase der Toten ausgetretene Flüssigkeit aufgesaugt hatte. Das Fehlen dieser Angabe hielt Fresenius für den ersten – so würden wir es heute nennen – Kunstfehler.
Die Gutachter teilten die 284 Gramm in zwei Portionen, aus deren erster sie organische Gifte zu bestimmen suchten; das Ergebnis war negativ. Für die anorganischen Gifte blieben ihnen etwa 141 Gramm Material, das sie mit Kaliumchlorat aufschlossen, filtrierten und mit Salzsäure auf 100 Milliliter eindampften. Dieses Material teilten sie in vier Teile, was Fresenius für einen weiteren Kunstfehler hielt, war doch ohnehin nicht viel vorhanden. Davon wurden die ersten beiden Teile auf Kupfer und Quecksilber untersucht; beides war nicht nachweisbar. Aus einem weiteren Viertel der Lösung erhielten die Gutachter mit Schwefelwasserstoff einen schwachen Niederschlag, der nach Behandeln mit Ammoniumcarbonat (dabei erwartet war Herauslösen des Arsensulfids) um 60 Milligramm abgenommen hatte. Man zog daraus den Schluss, in dem letzten Viertel der Prüflösung Arsen gefunden zu haben, schrieb demgemäß diese Gewichtsabnahme Arsen zu und errechnete daraus 0,64 Milligramm Arsensulfid. Darin erkante Fresenius den Kunstfehler Nummer drei: Es wurde nicht verifiziert, ob das wirklich Arsen gewesen war, und der in Ammoncarbonat unlösliche Feststoffrückstand wurde nicht untersucht.
Ein Blindwert mit Kaninchen-Innereien
Fresenius stellte nun analoge Versuche mit drei „Positivproben“ nach, welche die von den Gutachtern angegebene Menge Arsen, ein Zehntel davon und ein Hundertstel davon enthielten. Mit der ersten Probelösung liefert Schwefelwasserstoff einen starken, mit der letzten einen noch deutlichen Niederschlag, davon aber sehr wenig. Die von den Gutachtern angegebene Menge hätte also einen starken Arsensulfid-Niederschlag ergeben müssen, ihre Beobachtung entsprach aber etwa dem, was mit einem Hundertstel dieser Menge aufgetreten wäre.
Fresenius unterwarf nun insgesamt 83 Gramm Innereien eines „jungen, vollkommen gesunden Kaninchens“ der gleichen Prozedur, wie sie die Gutachter mit den Leichenteilen beschrieben hatten. Obwohl diese Innereien kein Arsen enthielten, entstand ein Niederschlag, der bei Auswaschen mit Ammoncarbonatlösung ebenfalls an Gewicht abnahm. „Wollte ich aus meinem Versuche einen Schluss machen, gleich dem der Herren Experten, so würde ein Kaninchen bloß in den untersuchten Eingeweiden 34 Milligramme Schwefelarsen oder 27 Milligramme arseniger Säure enthalten haben, während es doch kein Atom desselben enthielt.“
Nun nahm sich Fresenius die Ergebnisse des zweiten Gutachter-Teams vor. Dabei arbeitete er wieder mit Kontrollexperimenten heraus, dass ihr Befund einer „unwägbaren Menge Arsen“ unbegründet, die Bestimmung von Antimon hingegen vertrauenswürdig sei. Zudem widersprachen sich die Ergebnisse beider Gutachterteams beim Arsen.
Ebenso detailliert bearbeitete Carl Remigius Fresenius nun die beiden Berichte zu den Leichenteilen einer zweiten Exhumierung, wo er wieder dem ersten Team Kunstfehler beim Einsatz des Marsh-Apparates, dem zweiten nachvollziehbare Angaben zum Antimon, falsche zu den geringen Spuren an Arsen bescheinigte.
„Für Recht, Wahrheit und Wissenschaft …“
Schlussendlich erklärt Fresenius „auf Ehre und Gewissen, auch auf den Experten-Eid, welchen ich als mit den gerichtlich-chemischen Untersuchungen im Herzogthum Nassau betrauter Chemiker geleistet habe“, dass aus den Berichten in beiden Gutachten nur geschlossen werden könne, Arsen sei nicht nachweisbar. Wohl nachweisbar sei aber Antimon in einer Gesamtmenge von etwas unter 50 Milligramm. Die Anwesenheit von Antimon könne leicht durch Arzneimittel wie Antimonium crudum, Sulphur Antimonii auratum oder Tartarus emeticus (Brechweinstein, Antimontartrat) in dosisüblichen Mengen verursacht worden sein. Antimonhaltige Medikamente waren im 19. Jahrhundert weit verbreitet.
Das Gutachten schließt mit der Feststellung, dass „im vorliegenden Falle aus den berichtigten Befunden der chemischen Analyse sich nicht der entfernteste Grund zu der Annahme ergibt, die Maria Anna Theresia Nickl sei in Folge einer Vergiftung gestorben.“
Fresenius‘ Gutachten führte nach mehrfachem Hin und Her im Verfahren zum Freispruch der Mutter. Nach zwei quälenden Jahren und Haft blieb ihr lebenslang Kerker erspart.
In der Einleitung zu seinem Gutachten begründete Fresenius, warum er all die Mühen auf sich genommen hatte: „Nachdem ich einmal angefangen hatte, die Vergiftungsunterlagen genau zu studieren, hielt ich mich in der That für verpflichtet, für Recht, Wahrheit und Wissenschaft nach Kräften einzustehen“ Wenngleich diese Arbeit ihn viel Zeit gekostet habe, so bereute er sie nicht, denn „so muss wenigstens die Ehre der Wissenschaft rein dastehen, und es muss die Schande allein auf denen ruhen, welche durch leichtsinnige Arbeit mit der Chemie schnöden Missbrauch getrieben haben.“
Der Fall Johann Wirth oder: Wie viel Arsen ist in der Leiche?
Vor 1842 war die quantitative Bestimmung von Arsen in der forenischen Analytik keinesfalls regelhaft und auch später in ihrer Bedeutung umstritten. Fresenius hielt sie jedoch für „absolut nothwendig“ und begründete dies im Jahr 1867 in seiner Zeitschrift unter dem Titel „Beiträge zur gerichtlichen Chemie“ mit einem Mordfall im Taunus.11)
Anfang des Jahres 1860 war Johann Wirth verstorben. Vier Jahre später führten Gerüchte zu einer amtlichen Exhumierung des Toten. Leichenteile, Erd- und Sargholzproben gelangten auf Fresenius‘ Labortisch. „Der Geruch des Magens, der Gedärme und des Bauchfelles war stark moderig. Magen und Gedärme konnten im Einzelnen nicht mehr sicher unterschieden werden, relativ wohlerhalten dagegen zeigte sich das Muskelfleisch sammt äusserer Bauchhaut (Portion 1). Die ganze Masse hatte etwas Weiches, sie war zum Theil weiss, fett- oder wachsartig.“
Arsenige Säure als Pulver fand Fresenius nicht, es gelang ihm aber, „aus der Hälfte der oben genannten Leichentheile 0,0035 Grm. reines Dreifach-Schwefelarsen abzuscheiden.“ Aus Herz und Leber („Portion 2, faulig und widerlich riechend“) erhiehlt er weitere 0,047 g.
Fresenius unterwarf ein Viertel der Leichenteile der ersten Portion einer Dialyse nach Graham mit reinem Wasser als äußere Flüssigkeit und wies so lösliches dreiwertiges Arsen in diesen Geweben nach.
Blindwerte aus Friedhofserde und Sargholz
Er nahm zudem jeweils „1/2–1 Pfund“ Erdproben von ober- und unterhalb des Sarges sowie Holz vom Sargdeckel und -boden und fand darin kein Arsen. Allein die aus den Portionen 1 und 2 erhaltene Arsenmenge, berechnet auf Arsen(III), belief sich auf insgesamt 0,08123 Gramm. In der gesamten Leiche, so schrieb der Autor, musste es also erheblich mehr gewesen sein.
In gleicher Weise untersuchte der Forensiker die zusätzlich exhumierte Leiche des kleinen Sohnes von Johann, Heinrich, und fand Milligrammmengen Arsen. Davon fanden sich allerdings auch Spuren in der Ockerfarbe des Sargdeckels und in Erdproben.
Die Witwe des Ermordeten gestand, sie habe ihrem Mann kleinere Portionen Arsen im Kaffee verabreicht. Von denen blieb das meiste offenbar im Kaffeesatz zurück, den das Opfer nicht zu sich nahm. Dann habe sie, da er nur kränkelte, das Gift einer dicken Suppe beigemischt. Ihr Sohn war eines natürlichen Todes gestorben.
„Den Zweifel des Laien zu beheben …“
Bereits im Jahr 1844 hatte Fresenius als noch nicht 26-jähriger Gießener Dozent kritische Gedanken über die Anforderungen von Gerichten, Verteidigern und Öffentlichkeit an Gerichtschemiker veröffentlicht.14) Er beleuchtet deren Aufgaben sowohl aus fachlicher als auch aus juristischer und gesellschaftlicher Perspektive. Die „Ausmittelung der Gifte in gerichtlich-chemischen Fällen“ hat „die Aufmerksamkeit der Chemiker in besonderem Maße in Anspruch genommen; eine Sache, die in der hohen Wichtigkeit des Gegenstandes, in seiner Bedeutung für das sociale Leben leicht ihre Erklärung findet.“
Drei Problemfelder und dazu formulierte Botschaften des Autors sind auch heute noch aktuell.
Was dem Chemiker „zugemuthet“ werden kann
Fresenius schlug vor, Gifte nicht wie gewöhnlich nach Herkunft und Wirkung zu unterscheiden. Er unterteilte sie vielmehr in zwei Gruppen: in solche, „welche ihrer Materie nach giftig sind“ und solche, „bei welchen die Materie nur in dem Zustande giftig ist, indem sie sich eben befindet.“ Zu den ersteren zählte er die metallischen Gifte, bei denen er jedoch auf die unterschiedliche Bioverfügbarkeit verschiedener Spezies hinwies: Während schwerlösliches Kalomel kaum toxisch ist, sind schwefelsaures oder Chloridsalz von zweiwertigem Quecksilber höchst giftig. Zu den letzteren Stoffen gehören insbesondere solche, die bioabbaubar sind oder im Körper leicht metabolisiert werden.
Beispielhaft führte er an, dass in einem Raben, der eine mit Arsen vergiftete Maus gefressen hat, das Gift noch nachweisbar ist. Schwefelkalium (K2S) hingegen wird verstoffwechselt und ist dann nicht mehr nachweisbar. Die Folgeprodukte, so schrieb Fresenius, seien nicht mehr toxisch.
Aus all dem folgt, dass Gerichtschemiker Gifte der ersten Gruppe in den meisten Fällen wohl nachweisen können – Ausnahmen sah Fresenius insbesondere dann, wenn die Giftmenge sehr gering ist. Bei Giften der zweiten Sorte seien die Nachweise nicht sicher.
Welche Beweise der Richter fordern kann
Fresenius sah bei der ersten Gruppe von Giften deren Auffindung als Beweis, die Nichtauffindung als Gegenbeweis für eine Vergiftung. Bei der zweiten Gruppe dagegen sei die Auffindung Beweis, die Nichtauffindung jedoch in den meisten Fällen kein Gegenbeweis. Auf jeden Fall müssten aber Arzt und Chemiker sich „zur Erforschung des Thatbestandes die Hände bieten.“
Trotzdem, so sah es der selbstkritische Chemiker, sei die Lage für ihn nicht einfach. Wählte er eine ältere Methode, würde man ihn fragen, wieso er nicht den Marsh-Apparat einsetzte. Täte er das und fände Arsen, könne der Verteidiger sagen, zu dieser Methode würden in rascher Folge Verbesserungen publiziert, weil es so viele mögliche Fehlerquellen gebe. Teilte hingegen der Gerichtschemiker sein Probenmaterial in so viele Portionen, als er Methoden hat, und fände in keinem Fall Arsen, könnte der Einwand heißen, mit so geringen Probemengen sei er unter der Nachweisgrenze.
Dies brachte Fresenius zu seiner letzten Frage: „Ob es nicht möglich sey, den gerichtlichen Chemiker auf irgend eine Weise gegen Tadel und Vorwurf von Außen sicher zu stellen?“
Kein Tadel für den Gutachter
Der Gerichtschemiker, meinte Fresenius, könne sich als Biedermann wahrnehmen, der nach Pflicht und Gewissen und im besten Glauben handele und sich um Einwände nicht schere. So aber sei den Zweifeln des Laien nicht wirksam zu begegnen, der an den Methoden zweifelt, „welche zu Beweisen führen sollen, von denen die Freiheit oder das Leben eines Nebenmenschen abhängig gemacht wird.“
Weiter fragte Fresenius: „Was muss die Menge von den Beweisen einer Wissenschaft halten, die der Gefahr der Verdächtigung in so hohem Grade ausgesetzt sind.“ Dazu hatte er einen Vorschlag: Er bezog sich dabei auf die Normen, die der Staat für pharmazeutische Präparate und ihre Herstellung erlassen hat (Dispensatorien, Pharmacopöen): Wer nach diesen Normen Arzneimittel herstelle, sei „gerechtfertigt“. Seien die Vorschriften hingegen schlecht, so sei nicht der Einzelne, sondern „die Sanitätsbehörde, der Staat dafür verantwortlich.“
Nach diesem Vorbild schlägt Fresenius vor, für die Forensik gerichtliche „Normalmethoden auszumitteln“. Er regte zudem an, der Staat müsse sie wie andere Gesetze überwachen und Sorge tragen, „dass sie abgeändert werden, wenn die Wissenschaft zur Aufstellung besserer das Mittel bietet.“ Als möglichen Versuch in dieser Richtung beim Arsens verwies er auf seine direkt im Anschluss publizierte Methode.
INFO: Fresenius und die forensische Analytik heute
Am 1. Mai 1848, also vor nunmehr 175 Jahren, gründete Carl Remigius Fresenius12) sein eigenes Chemisches Laboratorium in der Kapellenstraße in Wiesbaden, das heute eine historische Stätte der Chemie ist. Das Jubiläum nehmen wir zum Anlass, einen weniger bekannten Teilaspekt der Tätigkeiten des Gründervaters in den Blick zu nehmen: Seine Forschungen und Arbeiten auf dem Gebiet der Forensik. Sie weisen alle Elemente dessen auf, was wir heute Validierung nennen.Fresenius erstes chemisches Laboratorium in Wiesbaden.
Carl Remigius Fresenius verstand Analytik auch als das Gewinnen von fachlich, ökonomisch und gesellschaftlich relevanten Informationen, insbesondere im Bereich der Forensik. Was sie aus den Medien dazu erfahren, fasziniert junge Menschen: Fingerabdrücke oder DNA-Spuren sichern, um Mörder zu überführen, für eine bessere Welt.
Was Fresenius und seine Zeitgenossen nicht erlebten, sind Verbrechen in der digitalen Welt – Stichwort Cybercrime. Die Hochschule Fresenius hat es sich zum Ziel gesetzt, junge Menschen ganzheitlich in die Welt der Forensik einzuführen. Sie umfasst neben der klassischen Forensik, vor allem der chemischen Analytik, die fachgerechte und gerichtsfeste Datenanalyse. Mit dem Studiengang „Analytische und Digitale Forensik“ haben Studierende die Möglichkeit, sich eine umfassende Grundlage zu erarbeiten, um den Tatort materielle Welt und den digitalen Tatort zu begreifen und zu analysieren. Nicht nur Mordkommissarinnen – auch Fachleute für Cybersicherheit sind gesucht.
Weitere Quellen über Fresenius‘ Arbeiten zur forensischen Analytik:
R. Fresenius, „Ueber die Einwirkung von Salzsäure auf Arsensäure in der Siedehitze“, Zeitschrift für Analytische Chemie 1862, 1, 448–450
„Zur Nachweisung des Arsens mittelst des Marsh’schen Apparates“, Fres. Z. Anal. Ch. 1872, 11, 434437
R. Fresenius, „Ueber die Nachweisung von durch Meconium (Kindspech) entstandenen Flecken bei gerichtlich-chemischen Untersuchungen“, Annalen der Chemie und Pharmacie 1850, 75 (1), 116–120
C. Neubauer, „Vergiftung mit einer Mischung von Morphin und Strychnin“ Zeitschrift für Analytische Chemie 1870, 9, 240–242
Bericht: Specielle Analytische Methoden. 3. Auf gerichtliche Chemie bezügliche…. Zeitschrift für Analytische Chemie 1876, 15, 507
Interessant aus Frankfurter Sicht: Im WS 1888/89 ist Georg Popp (1861 – 1943) als „Hospitant“ in den Matrikeln des Chemischen Laboratoriums verzeichnet, der 1889 in Frankfurt ein Institut für gerichtliche Chemie und Mikroskopie gründete und maßgeblich zur Weiterentwicklung der Kriminaltechnik beitrug. Er war Gutachter in zahlreichen, auch Aufsehen erregenden Prozessen und gehörte zu den Mitbegründern der Forensik an der Universität in Frankfurt. 1928 sagte er in einem Festvortrag in Wiesbaden, sein Lehrer Fresenius habe ihn „für die speziellen Aufgaben meines Berufes als öffentlicher Analytiker vorbereitet“.
Der Autor
Leo Gros studierte Chemie in Mainz und promovierte bei Helmut Ringsdorf. Gros lehrte von 1981 bis 2016 an der Hochschule Fresenius in Idstein. Er war von 1997 bis 2013 ihr Vizepräsident und ist jetzt Mitglied des Hochschulrats. Seit mehreren Jahren baut er das Archiv der Hochschule auf und forscht zu ihrer Geschichte.
- 1 R. Fresenius, L. v. Babo, „Ueber ein neues, unter allen Umständen sicheres Verfahren zur Ausmittelung und quantitativen Bestimmung des Arsens bei Vergiftungsfällen.“ Annalen der Chemie und Pharmacie, 1844. 49, 287–313
- 2 V. McDermid, Forensics – The Anatomy of Crime. Profile Books, London 2014, Seite 119. Das Zitat im Titel steht auf Seite 124 (ISBN 978–1–84765–990–3) Im Kapitel 5 (Toxikologie) geht die Autorin auf Arbeiten von Mathieu Orfila ein und auf damals spektakuläre Mordfälle mit dem von den Franzosen „poudre de succession“ – Erbschaftspuder – genannten Arsengift.
- 3 S. H. Webster, „The Development of the Marsh Test for Arsenic“, J. Chem. Ed. 1947, 24, 487–490
- 4 R. K. Müller, „Die Anfänge der forensischen Toxikologie im 19. Jahrhundert“. In: R .K. Müller, K. Lohs( Hrsg) .Beiträge zur Geschichte der Toxikologie. Fachverband Toxikologie der Chemischen Gesellschaft der DDR. Leipzig 1981, 49–52
- 5 S. Poth, „Carl Remigius Fresenius (1818–1897). Wegbereiter der analytischen Chemie.“ Heidelberger Schriften zur Pharmazie- und Naturwissenschaftsgeschichte, Stuttgart 2007
- 6 R. Fresenius, „Ueber ein neues Verfahren zur Unterscheidung und absoluten Trennung des Arsens vom Antimon in mit dem Marsh’schen Apparate erhaltenen Metallspiegeln“, Annalen der Chemie und Pharmacie, 1842, 43, 361–364. Über diese Befunde berichtet Fresenius übrigens kurz im September 1842 in Mainz, siehe: W. Czysz, „140 Jahre Chemisches Laboratorium Fresenius Wiesbaden. 1. Teil: 1848–1945“. Jb. Nass. Ver. Naturk. 1988, 110, 35–110
- 7 M. Pettenkofer, Buchner’s Repertorium 2. Reihe 26=76, Heft 3, 289–307
- 8 „Fresenius CR. Über das Thun und Treiben im chemischen Laboratorium zu Giessen, mit besonderer Berücksichtigung der Ergebnisse des letzten Jahres.“ In: Gröser, Bruch (Hrsg.), Amtlicher Bericht über die zwanzigste Versammlung der Gesellschaft deutscher Naturforscher und Ärzte zu Mainz im September 1842, Mainz 1843, 92–101: archive.org/stream/amtlicherbericht20gese/amtlicherbericht20gese_djvu.txt. Stand 09.05.2022
- 9 Dritte Sitzung, am 23. September. Punkt 11. Amtlicher Bericht über die zwanzigste Versammlung deutscher Naturforscher und Ärzte in Mainz im September 1842. Mainz 1843, 108–110; Fresenius kam die Aufgabe zu, über die Ergebnisse des Forschungsauftrags zu berichten. Dazu sollten ihm bei der Folgetagung in Graz Unterlagen „poste restante“ vorliegen – was nicht geschah. Er hatte aber inzwischen mit von Babo das Problem gelöst und berichtete darüber: über einen unter allen Umständen sicheren Gang, Arsen bei gerichtlich chemischen Untersuchungen zu ermitteln und quantitativ zu bestimmen. In: Amtlicher Bericht über die einundzwanzigste Versammlung deutscher Naturforscher und Ärzte in Gratz im September 1843. Gratz 1844, 212–227
- 10 R. Fresenius in: Der Korneuburger Vergiftungsprozess (1857–1859). Dargestellt von einem praktischen Juristen und bereichert durch die Sammlung der wichtigsten darauf bezüglichen Aktenstücke und der nicht zur öffentlichen Gerichtsverhandlung gelangten medicinisch-chemischen Gutachten. Druck von Karl Ueberreuter, Wien 1859, 192–216, digital.onb.ac.at/OnbViewer/viewer.faces?doc=ABO_%2BZ257039306 (Stand 18.04.2023)
- 11 R. Fresenius, „Beiträge zur gerichtlichen Chemie. I. Quantitative Bestimmung des abgeschiedenen Giftes, insbesondere des Arsens. II. Zur Behandlung des rohen (mit organischen Substanzen verunreinigten) durch Schwefelwasserstoff erhaltenen Niederschlag“, Zeitschrift für Analytische Chemie 1867, 6, 195–205
- 12 L. Gros, „Das Making of eines Analytikers“, Nachr. Chem. 2018, 66, 1178–1181
- 13 Druck der „Thesen, welche Samstag den 27ten Januar, Vormittags um 10 Uhr, öffentlich zu vertheidigen gedenkt Dr. R. Fresenius. Giessen.“ Druck der Universitäts-Buchdruckerei von G. F. Heyer, Vater.
- 14 R. Fresenius, „Ueber die Stellung des Chemikers bei gerichtlich-chemischen Untersuchungen und über die Anforderungen, welche von Seiten des Richters an ihn gemacht werden können“, Annalen der Chemie und Pharmacie, 1844, 49, 275–286
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