Gesellschaft Deutscher Chemiker

Artikel

Analytik neu gedacht

Nachrichten aus der Chemie, Januar 2025, S. 47-49, DOI, PDF. Login für Volltextzugriff.

Von Wiley-VCH zur Verfügung gestellt

Derzeitige Entwicklungen der analytischen Chemie spiegeln das GDCh-Motto „Rethinking Chemistry“. So eröffnet es neue Sichtweisen, organische Proben mit ungerichteter Massenspektrometrie zu analysieren. Das erfordert aber auch, Arbeitsstrategien zu überdenken und die chemische Ausbildung anzupassen.

Die Chemiebranche befindet sich derzeit wegen Digitalisierung, Energiewende, steigenden Kostendrucks und Ausbildungsdilemma im Wandel. Ein guter Zeitpunkt, neue Denkweisen zuzulassen. Eine ebensolche etabliert sich gerade in der analytischen Chemie – mit dem ungerichteten massenspektrometrischen Non-Target-Screening (NTS) von organischen Molekülen. Mit solchen Screenings lassen sich Proben auf unbekannte Substanzen untersuchen, im Gegensatz zu anderen derzeitigen Verfahren, die gezielt nur nach bestimmten Stoffen suchen.

https://media.graphassets.com/dM9ascNqS3Gxa4wu7VLF
Bereiche, in denen massenspektometrisches Non-Target Screening (NTS) eingesetzt wird (links) und Informationen, die NTS liefert (rechts). Fotos: Afin-TS

Zwar ist dieser NTS-Ansatz anspruchsvoll – denn man weiß ja nicht genau, wonach man molekular sucht –, wird aber schon in etlichen Disziplinen angewandt, etwa im chemischen Prozessmonitoring, in der Umweltanalytik oder der Metabolomik (Abbildung 1).

Mit dem neuen NTS sollen Moleküle in einer Probe erkannt, erfasst und je nach analytischer Frage priorisiert werden. So lassen sich molekulare Fingerabdrücke erstellen sowie statistisch nutzen, Substanzen identifizieren und es lässt sich ermitteln, wie sich Stoffe über die Zeit oder beim Verarbeiten verändern (Abbildung 1 rechts).

Wo müssen wir analytische Chemie neu denken, wenn NTS in die Routineanalytik einziehen soll?

Instrumentelle Analytik

Um organische Proben zu analysieren, werden häufig chromatografische Trennung und ionendetektierende Massenspektrometrie kombiniert (Abbildung 2, S. 48, Kästen oben). Dabei lassen sich Moleküle quantitativ (Abbildung 2 links, grau) oder – wie bei NTS – qualitativ (Abbildung 2 rechts, grün) untersuchen.

https://media.graphassets.com/Ft6Cpp83QXGXVupFQ9QY
Workflow in der zielgerichteten quantitativen massenspektrometrischen Analytik (links) und im ungerichteten massenspektrometrischen Non-Target Screening (NTS) (rechts). Bei der quantitativen Analytik (links) lassen sich die Signale der bekannten Moleküle erfassen (mittlerer Kasten links) und über entsprechende Kalibrationen (unterer Kasten links) in quantitative Werte überführen. Im NTS werden beim Auswerten Hintergrundkorrekturen durchgeführt und Signale zusammengeführt, etwa über Peak Picking, Feature Alignment, Binning und Componentisation (mittlerer Kasten rechts). Bei der NTS-Dateninterpretation gibt es sowohl statistische Auswertemöglichkeiten als auch molekülidentifizierende (unterer Kasten rechts). So lassen sich Trend- und Cluster-Analysen, Volcano-Plots und Hauptkomponentenanalysen (principal component analysis, PCA) in der Statistik und analytische und stoffliche Datenbanken zum Identifizieren nutzen.

Die quantitative Molekülanalytik ist gerichtet. Das heißt, Laboratorien untersuchen, ob vorher festgelegte Analyten – etwa Pestizide in Lebensmitteln – in einer Probe vorhanden sind und quantifizieren diese.

Entwickelt werden die Analysen nach folgendem Prinzip: Relevante Moleküle sind vorab bekannt. Sie werden isotopenmarkiert synthetisiert und lassen sich dann als interne Standards nutzen. Das Quantifizieren erfolgt typischerweise mit Tandem-Massenspektrometern im Multiple-Reaction-Monitoring (MRM). Beim MRM lässt sich der jeweilige Übergang von Molekül- zu spezifischen Fragment-Ionen – den Quantifier- und Qualifier-Ionen – verfolgen.

Diesen für quantitative Nachweise typischen analytischen Prozess zeigt Abbildung 2 (links, grau).

Mit ungerichteten Ansätzen wie dem NTS erfassen Laboratorien meist mehrere tausend Signale in Proben. Diese stammen von Analyten, aber teils auch aus dem Proben- oder Laborhintergrund: Die Messung verläuft unabhängig vom Wissenstand der Anwender:innen sowie ohne Vorauswahl der Analyten. Es wird ein Gesamtbild der Probe aufgenommen, das auf den erfassbaren Molekülionen basiert. Die Messungen liefern die Retentionszeiten, akkurate Massen und zum Teil auch Fragmentspektren der Analyten in der Probe. Hieraus lassen sich die Polarität der Moleküle, Summenformelvorschläge und Strukturinformationen ableiten – teilweise automatisiert, teilweise von den Anwender:innen. Abbildung 2 (rechts, grün) zeigt den gesamten Prozess eines typischen ungerichteten, qualitativen Ansatzes.

Interne Standards dienen auch in NTS der Qualitätssicherung und dazu, unterschiedliche Proben zu vergleichen. Neu identifizierte Moleküle eignen sich als neue Referenzsubstanzen, die später eventuell auch für die quantitative Analytik nutzbar sind.

Die Analysegeräte, die für NTS nötig sind – etwa Geräte für Hochleistungsflüssigchromatografie (HPLC) und hochauflösende Massenspektrometrie (HRMS) –, nutzen etliche Laboratorien bereits routinemäßig. Somit können Geräte und Messweisen bei der instrumentellen Analytik gleich bleiben, aber in den folgenden Schritten wird eine andere Sichtweise nötig.

Daten auswerten

In der quantitativen Analytik organischer Moleküle ist die Datenauswertung automatisierbar – und zügig durchführbar. Die Geräte werden mit Referenzsubstanzen kalibriert, entsprechende Retentionszeiten und Massensignale hinterlegt (Abbildung 2, mittlerer Kasten links). Für die Dateninterpretation – häufig läuft diese automatisch während des Messens – lassen sich die gespeicherten Daten nutzen (Abbildung 2, unterer Kasten links). Gleich nach Abschluss der Analyse liegen die quantitativen Ergebnisse vor.

Bei NTS ist die Datenauswertung grundsätzlich neu zu denken. Für ungerichtete NTS ist es nötig, dass Anwender:innen Daten anders auswerten. Denn hier ist nicht vorgegeben, nach welchen Signalen zu suchen ist. Die Massensignale aller Molekülionen werden bei der Messung nicht gemeinsam erfasst, sondern als Einzelsignale. Somit sind bei der Datenauswertung zunächst Signale, die sich vom Hintergrund und vom Rauschen unterscheiden – beispielsweise chromatografische Peaks –, zu erkennen und zu demselben Molekül gehörige Ionenspuren zusammenzufassen (Abbildung 2, mittlerer Kasten rechts).

Beim Analysieren unbekannter Substanzen in einer Probe bedarf es zudem aussagekräftiger Hintergrund- und Vergleichsmessungen, um relevante von irrelevanten Signalen zu unterscheiden.

Für NTS wurden wegen der neuen Anforderungen eigenständige Softwares zur Datenanalyse entwickelt. Methoden wie Peak-Picking, Componentisation, Binning und Alignment sind in NTS-Auswertungen gängig.

Viele NTS-Softwares basieren auf unterschiedlichen Werkzeugen – teilweise liefern sie unterschiedliche Ergebnisse und sind schwer nachvollziehbar. In manchen Disziplinen sind parallel Softwares für die gleiche Anwendung entstanden. Daher formen sich immer mehr (interdisziplinäre) Konsortien, die die verschiedenen Werkzeuge harmonisieren, kombinieren und verständlich machen.

Für beide, gerichtete und ungerichtete Analytik, sind die Softwares zum Messen und Auswerten käuflich. Wegen der Produktvielfalt müssen sich Anwender:innen der ungerichteten Analysen damit auseinandersetzen, wie eine Auswertesoftware funktioniert, welche Möglichkeiten sie bietet, wie vergleichbar die Ergebnisse – auch mit verschiedenen Softwares – sind. Zudem muss über Hintergrundmessungen und Probenstrategien nachgedacht werden. Somit braucht es Expert:innen, die Auswertestrategien vermitteln und helfen, spezielle Lösungen für bestimmte Anwendungen zu entwickeln.

Daten interpretieren

Zusätzlich zur Datenauswertung, bei der Moleküle erkannt werden, ist in NTS die Dateninterpretation wichtig. Hier muss erfasst werden, ob die Molekülsignale für die zu beantwortende Frage relevant sind. Schwerpunkt ist oftmals, bisher unbekannte Moleküle zu finden und identifizieren. Statistisches Auswerten mit Hauptkomponenten-, Trend- und Cluster-Analyse sowie Volcano-Plots (Abbildung 2, unterer Kasten rechts) kann zukünftig weitere Analysefelder erschließen, etwa die Analyse von Rückständen oder gefährlichen Substanzen in Produkten, Herkunfts- oder Authentizitätsnachweise, Trendanalysen oder das Erstellen molekularer Fingerabdrücke (Abbildung 1 rechts).

Wie bei der Datenauswertung erfordert auch die -Interpretation bei NTS Neuerungen. Das führt dazu, dass die Auswertearbeit am Schreibtisch deutlich länger dauert als die Laborarbeit.

Fachkräfte ausbilden

Als Mitglieder in unterschiedlichen GDCh-Fachgruppen mit analytischem Fachwissen, auch im NTS, tragen wir die Strategien der instrumentellen Analytik sowie die damit einhergehende veränderte Sichtweise in der Datenauswertung und -interpretation immer mehr in die Ausbildung von Menschen, die sich beruflich für Chemie interessieren. Wir sind nun seit über 20 Jahren in der (nicht)akademischen Ausbildung aktiv und haben so einige Änderungen erlebt.

Wir müssen alle Berufe in den unterschiedlichen Branchen der analytischen Chemie als gleichberechtigt verstehen: von technischen Fachkräften wie chemisch-technischen Assistent:innen (CTAs) und dual ausgebildeten Chemielaborant:innen über Chemietechniker:innen und Chemieingenieur:innen der Hochschulen sowie dual Studierende bis hin zu universitär ausgebildeten Chemiker:innen – ohne oder mit Promotion.

In Zeiten des Fachkräftemangels plädieren wir dafür, vor allem die nicht akademisch ausgebildeten Fachkräfte verstärkt in die digitalen Bereiche, etwa die Datenauswertung und -interpretation, einzubinden, sie dahingehend auszubilden und selbst tätig werden zu lassen. Hierbei kann die Digital-Native-Generation mit ihren Kenntnissen Ideen einbringen, wie sich Daten verarbeiten und nutzen lassen. Helfen die älteren Laborexpert:innen, die oft Digital Immigrants – also ohne digitale Medien aufgewachsen – sind, mit ihrer Erfahrung in der Chemie und praktischen Durchführung, so kann das kombiniert zu wertvollen neuen Ideen und Entwicklungen in der analytischen Chemie führen. Wir freuen uns auf diesen Wandel.

AUF EINEN BLICK

Das massenspektrometrische Non-Target-Screening (NTS) erlaubt, Proben auf unbekannte Substanzen zu untersuchen, etwa in der Umweltanalytik oder Metabolomik.

Geräte und Messweisen für das NTS entsprechen denen der gerichteten quantitativen Massenspektrometrie.

Bei der Datenauswertung und -interpretation im NTS braucht es eine neue Sichtweise, Anwender:innen sind dahingehend gezielt auszubilden.

Die Autoren

Den Beitrag haben Thomas Letzel (oben) und Stefan Bieber verfasst. Letzel ist promovierter Umweltanalytiker und Privatdozent für analytische Chemie und Bioanalytik an der Technischen Universität München (Tum). Bieber promovierte an der Tum in instrumenteller Analytik. Beide haben 2018 das Analytische Forschungsinstitut für Non-Target-Screening (Afin-TS) mitgegründet, sind dort als Forscher sowie Berater tätig und bieten unter anderem Kurse in instrumenteller Analytik an. Zudem sind sie aktiv in der Wasserchemischen Gesellschaft der GDCh, Letzel engagiert sich auch in der Fachgruppe Analytische Chemie und war bis November 2024 Vorsitzender der Arbeitsgruppe Berufliche Bildung.https://media.graphassets.com/FInh3nq5TE2A6f48EZdFhttps://media.graphassets.com/6YdBh1PjRRKRiNbucHBt

info@afin-ts.de

Industrie + Technik

Überprüfung Ihres Anmeldestatus ...

Wenn Sie ein registrierter Benutzer sind, zeigen wir in Kürze den vollständigen Artikel.