Gesellschaft Deutscher Chemiker

Naturstoffe: Vom Giftstoff zum Medikament

Folge 21: Aktuelle Chemie 2019 - Medizin und Gesundheit

Etwa 35 Prozent der zugelassenen Medikamente basieren auf Wirkstoffen, die auf Naturstoffe zurückzuführen sind. Gehört den Naturstoffen die Zukunft?

Heilpflanzen wie Johanniskraut, das gegen Depressionen hilft, enthalten Naturstoffe, die aufgrund ihrer Eigenschaften heilsam wirken. Diese natürlichen chemischen Verbindungen nimmt sich die Pharmaindustrie zum Vorbild, um neue Medikamente zu entwickeln. Isoliert werden die reinen Naturstoffe aus lebenden Organismen wie Pflanzen oder Mikroorganismen. Hiermit ist eine eindeutige Dosierung möglich, was in einem Pflanzenextrakt nicht immer garantiert werden kann. Ziel ist eine klinische Entwicklung des reinen Wirkstoffes, um eine Zulassung nach dem gültigen Arzneimittelgesetz zu erhalten.

Nicht zu verwechseln sind die Arzneimittel, die sich auch auf Naturstoffe zurückführen lassen, mit homöopathischen Mitteln, deren Wirkung nicht nachgewiesen ist, oder Pflanzenextrakte, die keine entsprechende Zulassung erhalten haben.
 

Vielseitige Anwendung

Achtzig Prozent aller systemischen Antibiotikaklassen, die als Medikament angewendet werden, sind auf Naturstoffe zurückzuführen. Antibiotika wie Penicillin werden aus Mikroorganismen gewonnen. Aber auch in der Krebstherapie spielen Naturstoffe eine entscheidende Rolle.

Naturstoffe selbst sind meist große, komplexe Moleküle. Als Wirkstoff dienen häufig Derivate, deren Struktur ähnlich zum ursprünglichen Naturstoff ist, oder synthetische Verbindungen, die sich von Naturstoffen ableiten.

Zum Beispiel ist Eribulin ein so genanntes Zytostatikum, das in der Therapie von Brustkrebs verwendet wird. Seine Struktur ist analog zu der des Halichondrin B, das im Meeresschwamm Halichondria okadai vorkommt. Im Gegensatz zu Halichondrin B besitzt Eribulin aber eine einfachere Struktur.
 

https://media.graphcms.com/vpSjgup1S5uszLyPMJtz

Naturstoffe besitzen große, komplexe Strukturen. Eribulin (links) wird in der Brustkrebstherapie eingesetzt. Seine Struktur gleicht dem Naturstoff Halichondrin B (rechts), allerdings ist es einfacher aufgebaut. (Bildquelle: Fvasconcellos contribsEribulincharlesy contribsHalichondrin B, als gemeinfrei gekennzeichnet, Details auf Wikimedia Commons)

Die Pazifische Eibe (Taxus breviofolia) enthält in ihrer Rinde Paclitaxel, auch als Taxol bekannt, das ebenfalls gegen Brustkrebs wirkt. Allerdings gibt es nicht genügend natürliches Paclitaxel, um den weltweiten Bedarf zu decken. Deshalb synthetisieren große Pharmaunternehmen das Molekül aus Baccatin III, das in den Nadeln der Europäischen Eibe (Taxus baccata) vorkommt. Medikamente gegen Herzinsuffizienz basieren auf Digitalglykosiden. In der Natur kommen diese im Roten Fingerhut (Digitalis purpurea) vor.

https://media.graphcms.com/V0NqlAJcQbm34QnVOKhv

Der Rote Fingerhut (Digitalis purpurea) produziert Digitalglykoside, die als Arzneistoff gegen Herzinsuffizienz helfen. (Kuebi = Armin Kübelbeck, Digitalis purpurea 01CC BY-SA 3.0)

https://media.graphcms.com/6UZtldBQmWzqmAnY3N9a

Die Pazifische Eibe (Taxus breviofolia) enthält in ihrer Rinde Paclitaxel. Dieses wirkt gegen Brustkrebs. (Jason HollingerTaxus brevifolia Blue Mts WACC BY 2.0)

https://media.graphcms.com/mDEYt4cTCCTGzUrdtgng

Paclitaxel kommt in der Rinde der Pazifischen Eibe vor. (Calvero., Taxol, als gemeinfrei gekennzeichnet, Details auf Wikimedia Commons)

https://media.graphcms.com/xD4BSqVUSkes7sbD95o2

Digitoxin, ein Digitalglykosid, stammt aus dem Roten Fingerhut. (Ed (Edgar181), Digitoxin structure, als gemeinfrei gekennzeichnet, Details auf Wikimedia Commons)

Von den Giftstoffen der Natur profitieren

Die wirksamen Naturstoffe sind überwiegend Abbauprodukte, die Pflanzen und Bakterien produzieren, um sich vor Feinden zu schützen. So wehren sich Mikroorganismen mit Antibiotika gegen andere Mikroorganismen. Pflanzen besitzen bereits eine Art Immunsystem, schützen sich allerdings mit Giftstoffen vor Fressfeinden. Diese Giftstoffe nutzt die Medizin für Arzneimittel.

Um als Arzneistoff in Frage zu kommen, muss der Naturstoff einen neuen Wirkungsmechanismus aufweisen oder eine wesentlich bessere Wirkung versprechen, im Vergleich zu bereits zugelassenen Wirkstoffen. Ist dies der Fall, wird die Verbindung ausgehend von ihrer Struktur optimiert. Diese kann einen oder mehrere Angriffspunkte besitzen, an denen das Molekül mit anderen Verbindungen reagieren und folglich seine Struktur verändern kann. Je größer ein Molekül ist, desto mehr Angriffspunkte gibt es. So verursachen Naturstoffe mit ihren komplexen Strukturen neben ihrer eigentlichen Wirkung statistisch gesehen mehr unerwünschte Nebenwirkungen wie rein chemisch synthetisierte kleinere Arzneistoffe. Die Pharmaunternehmen verändern sie in ihrer Struktur, damit sie besser wirksam und verträglich sind.
 

Die Nebenwirkungen minimieren

Die Nebenwirkungen gehen nicht nur direkt von der Verbindung selbst aus. Oft sind Abbauprodukte im Stoffwechsel dafür verantwortlich. So ist Benzol selbst nicht krebserregend, seine oxidierte Form Epoxid, ein Abbauprodukt, hingegen schon. Bevor die Pharmaunternehmen den isolierten Stoff als Wirkstoff einsetzen, minimieren sie zunächst die Nebenwirkungen, indem sie die chemische Struktur des Naturstoffs anpassen. Hierfür ist es entscheidend, welche Angriffspunkte eine Reaktion ermöglichen, die das Molekül verändert und Nebenwirkungen zur Folge hat. Die schädlichen Punkte werden ersetzt oder vollständig abgespalten. Es können auch bestimmte Elemente eingefügt werden, die dann eine schädliche Reaktion verhindern.

Die Rolle der Naturstoffe in Zukunft

Experten sind sich einig, dass die Naturstoffe auch in Zukunft eine bedeutende Rolle in der Entwicklung neuer Arzneimittel spielen werden.

„Die großen Pharmaunternehmen sind bereits aus der Naturstoffforschung ausgestiegen. Angesichts der Grenzen, die wir zum Beispiel in der Entwicklung neuer Antibiotika erreicht haben, sind neue Ansätze nötig“, betont Professor Dr. Peter Hammann, Senior Vice President Infestious Diseases Natural Products, Evotec. Heute seien Sequenzanalysen von bakteriellen Genen möglich, die es in Zukunft erlauben, neue Strukturen anhand der Genomsequenz vorherzusagen. Peter Hammann ist sicher: „In zirka zehn Jahren werden wir hundertmal mehr neuartige Stoffe identifizieren und isolieren können, als uns heute bekannt sind.“ 

Professor Dr. Markus Kalesse, Institut für Organische Chemie an der Leibniz-Universität Hannover, ist ebenfalls überzeugt, dass auch in Zukunft weiter an Naturstoffen geforscht wird: „Es wird immer an Naturstoffen geforscht werden. In Zukunft wird man versuchen, alle möglichen Wirkungsmechanismen der Stoffe systematisch aufzuklären.“ Die Forschung suche bereits nach Naturstoffen, die als Pharmaka indirekt wirken. Statt Antibiotika könnten so Patho-Blocker bakterielle Erkrankungen bekämpfen. Diese töten im Gegensatz zu Antibiotika die Bakterien nicht, sondern hindern sie lediglich daran, ihrem Wirt zu schaden. In der Tumortherapie sollen Stoffe den Tumor sichtbar machen, sodass das Immunsystem auf ihn aufmerksam wird und ihn selbst bekämpft. Künftig könnten die Naturstoffe außerdem in der Therapie von Autoimmunkrankheiten wie Multiple Sklerose eine wichtige Rolle einnehmen. Markus Kalesse sieht einen klaren Vorteil der Naturstoffe als Arzneistoffe: „Die Naturstoffe besitzen bereits eine hohe Aktivität. Sie zeigen uns Mechanismen, wie wir Erreger bekämpfen können. Wir müssen keine neuen Strukturen erfinden, sondern sie nur optimieren.“

Wissenschaftliche Beratung: Prof. Dr. Peter Hammann (Senior Vice President bei Infectious Diseases Natural Products, Evotec) und Prof. Dr. Markus Kalesse (Institut für Organische Chemie an der Leibniz-Universität Hannover)

https://media.graphcms.com/uvvoBpoQc1E9dEZQmUwh

Lisa Süssmuth

Volontärin, Gesellschaft Deutscher Chemiker

Dieser Artikel erschien zuerst auf faszinationchemie.de.

Faszination Chemie

Überprüfung Ihres Anmeldestatus ...

Wenn Sie ein registrierter Benutzer sind, zeigen wir in Kürze den vollständigen Artikel.