Gesellschaft Deutscher Chemiker

Kunstvolle Strickereien: Kristallisierende Makromoleküle

100 Jahre Makromolekulare Chemie

Erstarrt eine Polymerschmelze, dann ordnen sich die Molekülketten im Polymer an. Dabei entstehen kunstvolle Muster. So lassen sich „Schneeflocken“ und „Strickereien“ beobachten.

Makromoleküle, die kristallisieren

„Makromoleküle, wenn sie denn existieren, können nicht kristallisieren!“ – Mit dieser Behauptung sah sich Hermann Staudinger, Entdecker der Makromoleküle, anfänglich konfrontiert. Lange Zeit nahm man an, dass die Größe der Moleküle die Größe der Einheitszelle, der kleinsten Wiederholungseinheit eines Kristallgitters, bestimmt. Gleichzeitig wurden keine Einheitszellen gefunden, die der Größe der Makromoleküle entsprechen. [1] Doch schnell wurde klar, dass langkettige Makromoleküle doch kristallisieren können. Allerdings hatten die durch Elektronenbeugung [2] beobachteten Kristallstrukturen nur eine geringe Dicke, wie später auch hochauflösende mikroskopische Aufnahmen bestätigten. 

Was passiert bei der Kristallisation?

Folglich falten sich Makromoleküle während der Kristallbildung. [3,4,5] Die Polymere kristallisieren zum Beispiel, wenn die Polymerschmelze erstarrt. Dann ordnen sich die Molekülketten im Polymer an und lagern sich faltenförmig aneinander. Dies führt dazu, dass sich typische Plättchen-Strukturen ausbilden, auch Kristall-Lamellen genannt. Da die Moleküle sehr groß und lang sind, kann es auch vorkommen, dass sich einzelne Teile der Molekülkette in einem Kristall befinden und andere Teile entweder nicht kristallisieren oder in einem weiteren Kristall eingebaut werden.

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Schema zur Lamellenbildung. Foto: Rainer Ziel - Grafik selbst erstellt, Attribution, Wikimedia Commons

Verschiedene Morphologien

Für alle kristallisierenden Materialien – vom kleinsten bis zum größten Molekül – gelten die gleichen physikalischen Gesetzmäßigkeiten. So beobachtet man beispielsweise für Wasser und Makromoleküle dieselben dendritischen „Schneeflockenmuster“, die sich aus einem Wettbewerb von Transportprozessen und thermodynamisch kontrolliertem Kristallwachstum erklären lassen. [6] Für Makromoleküle ergeben sich Möglichkeiten, die einzigartige Kristallmorphologien erlauben. Man könnte fast meinen, dass kristallisierende Fadenmoleküle in der Lage seien, ähnlich wie beim Stricken, eine Fülle unterschiedlichster Muster zu erzeugen. 

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(a) Schematische Darstellung der Kristallisation von Makromolekülen, dargestellt durch Ketten von verbundenen Würfeln, die nur sequenziell in den Kristall eingebaut werden. Diese starke Einschränkung führt zur Kettenfaltung und der Bildung von lamellaren Kristallen mit amorphen Faltenoberflächen. (b) Rasterkraftmikroskopie-Höhenbild (32 × 32 μm2) eines dendritischen Kristalls aus isotaktischem Polystyrol, der in einem 8 nm dicken Film bei 150 °C gewachsen ist.[7]

Lange Polymerketten, dünne Lamellen

Die einfachsten Strukturen, die durch ihre geometrische Einfachheit bestechen, sind die dünnen Plättchen (Lamellen). Sie entstehen bei der Polymerkristallisation. Dabei besitzen die quasi-zweidimensionalen Lamellen über viele Mikrometer (entspricht manchmal dem Millionenfachen der Größe der Monomere) eine extrem gleichmäßige Dicke von oft nur einigen Dutzend Monomeren. 

Neben den dünnen Lamellen haben bereits allererste Mikroskopieaufnahmen auch Stapel aus gleich orientierten Lamellen gezeigt. [3,7,8] Aufgrund der sehr langen Polymerketten und der dazu relativ geringen Lamellendicke besteht eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass ein und dieselbe Kette in vielen übereinanderliegenden Lamellen eingebaut werden kann. Unter Umständen bleibt dabei die Orientierung der kristallinen Einheitszelle bestehen. [9] Somit lässt sich ein Polymer mit einem langen Wollfaden vergleichen, der unterschiedliche Abschnitten eines Strickmusters verbindet.
 

Selbstinduziertes Wachstum

Neuere Arbeiten [7,10] zeigen, dass Makromoleküle mittels einer Art von selbst-getriggerter Keimbildung immer wieder neue Kristallschichten auf bereits vorhandenen kristallinen Bereichen wachsen lassen können. Folglich kommt es zur selbstinduzierten Bildung von quasi-epitaktisch wachsenden Strukturen aus Lamellenstapeln. [7] Wird dieser Prozess mit gerichtetem Transport von Polymeren gekoppelt, wie dies beispielsweise in dünnen Filmen geschieht, können dabei sehr komplexe Kristallstrukturen mit periodisch wiederkehrenden Mustern entstehen. [10]

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(a) Schematische Darstellung zur Entstehung von gestapelten Lamellen. (b) Rasterkraftmikroskopie-Höhenbild (16 × 16 μm2) eines Lamellenstapels aus isotaktischem Polystyrol der in einem 20 nm dicken Film bei 195 °C gewachsen ist. [7] (c) Optische Mikrokopie-Aufnahme (300 × 220 μm2) einer periodischen Morphologie eines Kristalls, der in einem 220 nm dicken Film aus isotaktischen Polystyrol für 12 h bei 200 °C gewachsen ist. [10]

Offene Fragen in der Forschung

Auch nach vielen Jahrzehnten intensiver Untersuchungen zu grundlegenden Prozessen der Polymerkristallisation bleiben noch viele Fragen offen, zum Beispiel in Bezug auf ein reversibles Gedächtnis. [11,12,13] Das Wechselspiel von Entropie und Enthalpie bei der Kristallisation von Makromolekülen wird daher auch in Zukunft neben den faszinierenden Mustern noch viele einzigartige Phänomene und damit verbundene innovative Eigenschaften ergeben, die zu vielfältigen Anwendungsmöglichkeiten inspirieren werden.

Autor: Günter Reiter (Physikalisches Institut, Albert-Ludwigs-Universität Freiburg)
Redaktionelle Bearbeitung: Lisa Süssmuth, GDCh

[1] Herman F. Mark [Aus den frühen Tagen der Makromolekularen Chemie, Naturwissen-schaften 1980 67, 477- 483] zitiert eine für diese Zeit wohl typische Aussage, die Professor Paul Niggli bei der „Abschieds-Vorlesung“ von Staudinger 1926 an der ETH m

[2] K.H. Storks, An Electron Diffraction Examination of Some Linear High Polymers, J. Amer. Chem. Soc. 1938, 60, 1753-1761.

[3] E.W. Fischer, Stufen- und spiralförmiges Kristallwachstum bei Hochpolymeren, Z. Naturforschung A 1957, 12, 753-754.

[4] A. Keller A note on single crystals in polymers: Evidence for a folded chain configuration, Phil. Mag. 1957 2, 1171-1175; A, Keller, Polymer Crystals. Rep. Prog. Phys. 1968, 31, 623–704.

[5] M. Muthukumar, Commentary on theories of polymer crystallization; Eur. Phys. J. E 2000, 3, 199 – 202.

[6] G. Reiter, Some unique features of polymer crystallization, Chem. Soc. Rev. 2014, 43, 2055 – 2065.

[7] H. Zhang, M. Yu, B. Zhang, R. Reiter, M. Vielhauer, R. Mülhaupt, J. Xu, G. Reiter, Correlating Polymer Crystals via Self-Induced Nucleation, Phys. Rev. Lett. 2014, 112, 237801.

[8] H. D. Keith, W. Y. Chen, On the Origins of Giant Screw Dislocations in Polymer Lamellae. Polymer 2002, 43, 6263–6272.

[9] S. Hong, W.J. Macknight, T.P. Russell, S.P. Gido, Orientationally Registered Crystals in Thin Film Crystalline/Amorphous Block Copolymers. Macromolecules 2001, 34, 2398 – 2399.

[10] P. Poudel, S. Majumder, S. Chandran, H. Zhang, G. Reiter. Formation of Periodically Modulated Polymer Crystals, Macromolecules 2018, 51, 6119–6126.

[11] J. Zhou, S. A. Turner, S. M. Brosnan, Q. Li, J.-M. Y. Carrillo, D. Nykypanchuk, O. Gang, V. S. Ashby, A. V. Dobrynin, S. S. Sheiko, Shapeshifting: Reversible Shape Memory in Semicrystalline Elastomers, Macromolecules 2014, 47, 1768−1776.

[12] M. Muthukumar Theory of melt-memory in polymer crystallization, J. Chem. Phys. 2016, 145, 031105.

[13] J. Xu, Y. Ma, W. Hu, M. Rehahn, G. Reiter. Cloning Polymer Single Crystals through Self-seeding, Nat. Mater. 2009, 8, 348-353.

Die Makromolekulare Chemie feiert in diesem Jahr hundert Jahre. Jeder von uns ist Makromolekülen schon begegnet, zum Beispiel in Form von Kunststoff. Zum Jubiläum zeigen unsere Beiträge dieses Jahr, wo Makromoleküle vorkommen.

Dieser Artikel erschien zuerst auf faszinationchemie.de.

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