Bildung & Gesellschaft

<p>Verblüffendes, Skurriles, Informatives, fast Vergessenes: Die Serie Zahlenstatistik des Monats liefert Fakten aus 150 Jahren – in diesem Monat zur Chemie im Alltag.</p>
<figure><img src="https://media.graphcms.com/AyoKQaDRxuWnYJRn98G3"><figcaption><label>Abb. 1: </label></figcaption></figure>
<p>Grad Celsius an der Luft hält die Legierung aus 80 Prozent Nickel und 20 Prozent Chrom stand, die Albert L. Marsh 1906 patentierte. Ab 1909 wurden aus Chromel Heizdrähte für den neu erfundenen Toaster hergestellt.</p><figure><img src="https://media.graphcms.com/kIYJoEt0TZeLyFG001P0"><figcaption><label>Abb. 2: </label></figcaption></figure>
<p>gelang Wilhelm Haarmann zum ersten Mal die Synthese von Vanillin, und zwar aus Coniferin, das im Rindensaft von Nadelbäumen vorkommt. Synthetisches Vanillin, der mengenmäßig wichtigste Aromastoff weltweit, steckt unter anderem im Vanillepudding von Dr. Oetker. Dieser Kochpudding ist der beliebteste und seit dem Jahr 1894 im Sortiment des Herstellers.</p><figure><img src="https://media.graphcms.com/UTfJ072MRp2AtnKv6frx"><figcaption><label>Abb. 3: </label></figcaption></figure>
<p>präsentierte die Internationale Feuerlösch-Gesellschaft in Berlin den ersten Schnell-Trocken-Feuerlöscher mit einem Druckgas als Löschmittel. Bis dahin waren drucklose Feuerlöscher mit Tetrachlorkohlenstoff gefüllt, das noch bis in die 1950er Jahre für Brände von Flüssigkeiten und elektrischen Anlagen eingesetzt wurde.</p><figure><img src="https://media.graphcms.com/e0zQTjPVT2UGNwVCyuqC"><figcaption><label>Abb. 4: </label></figcaption></figure>
<p>kam der Tintenkiller auf den Markt, ein mit einem Reduktionsmittel wie Natriumdithionit- oder Natriumsulfitlösung getränkter Faserstift, der blaue Tinte bleicht. Lösungen mit ähnlicher Funktion gab es bereits ab dem Jahr 1901. Schüler wissen: Nach einiger Zeit an der Luft wird die ursprüngliche Schrift wieder sichtbar.</p><figure><img src="https://media.graphcms.com/EysLb0TRaijQKSwYUWQQ"><figcaption><label>Abb. 5: </label></figcaption></figure>
<p>Gramm des Pyrethroids Empenthrin enthält Mottenpapier heute pro Kilogramm. Früher verbreiteten Mottenkugeln den typischen Geruch nach Naphthalin, der Motten verscheucht – denn anders als Pyrethroide wirkt es nicht besonders insektizid. Seit dem Jahr 2008 ist in der EU Naphthalin in Mottenkugeln verboten.</p><figure><img src="https://media.graphcms.com/So9qw953QwKrkFLj1pqk"><figcaption><label>Abb. 6: </label></figcaption></figure>
<p>Milliarden Euro sind die Fünf-Pfund-Noten wert, die letztes Jahr in England eingeführt wurden. Ihre Besonderheit: Sie sind aus einem Polymer. Welches, darüber schweigt die Bank of England. Nur so viel: Die Banknoten schrumpfen bei 120 Grad Celsius, dürfen also nicht gebügelt werden. Seit Mitte September sind auch die Zehn-Pfund-Noten aus Kunststoff.</p><figure><img src="https://media.graphcms.com/ItP39BU4R4mgqrkjtX3p"><figcaption><label>Abb. 7: </label></figcaption></figure>
<p>Prozent Harnstoff enthält Adblue. Die wässrige Lösung kauft der Dieselfahrer für aktuell mehr als 1 Euro pro Liter an der Tankstelle und schüttet sie in den Tank mit dem blauen Einfüllstutzen. In der richtigen Menge dosiert (das regelt die Software), reagiert sie in der Abgasreinigungsanlage mit Stickoxiden zu Stickstoff und Wasser. Nach dem Weltmarktpreis für Harnstoff liegt der Wert von Adblue übrigens nicht höher als 6 Cent pro Liter.</p><figure><img src="https://media.graphcms.com/Io2B6hPvTvq4BtrSqDvG"><figcaption><label>Abb. 8: </label></figcaption></figure>
<p>bis 660 Milligramm lineare Alkylbenzolsulfonate finden sich in einem Kilogramm Hausstaub und gehören damit zu den Chemikalien mit höherem Anteil. Seit dem Jahr 1964 ersetzen diese biologisch abbaubaren Tenside in Waschmitteln das Tetrapropylenbenzolsulfonat, eine schwer abbaubare Substanz, die zu Schaumbergen auf Flüssen führte.</p><figure><img src="https://media.graphcms.com/LKKPp06CR7SCEXeBxt6y"><figcaption><label>Abb. 9: </label></figcaption></figure>
<p>bis 30 Gramm ist die tödliche Dosis Coffein für einen Menschen. 125 Milligramm stecken in einer Tasse Kaffee. Ludwig Roselius vermutete, sein Vater habe sich durch seinen Kaffeekonsum vergiftet. Daher entwickelte er das erste Entcoffeinierungsverfahren – mit Benzol als Extraktionsmittel – und meldete es im Jahr 1906 zum Patent an.</p><figure><img src="https://media.graphcms.com/5JgE5rPBTiKdrhbWJMLc"><figcaption><label>Abb. 10: </label></figcaption></figure>
<p>Milligramm 4-(Dimethylamino)azobenzol, besser bekannt als Buttergelb, durfte in Deutschland ein Pfund Butter enthalten. Im Jahr 1949 verbot die Frankfurter Verwaltung für Ernährung und Landwirtschaft endgültig, Molkereierzeugnisse mit chemischen Farbstoffen zu färben. Wenige Wochen vorher hatte der Biochemiker Adolf Butenandt über die krebserregende Wirkung von Buttergelb berichtet: 10 mg täglich führten bei Ratten nach 100 Tagen zu Lebertumoren.</p><figure><img src="https://media.graphcms.com/ajuAaewQFWor0VPYgo1w"><figcaption><label>Abb. 11: </label></figcaption></figure>


Artikel

einhundertundfünfzig

Verblüffendes, Skurriles, Informatives, fast Vergessenes: Die Serie Zahlenstatistik des Monats liefert Fakten aus 150 Jahren – in diesem Monat zur Chemie im Alltag. Abb. 1: Grad Celsius an der Luft hält die Legierung aus 80 Prozent Nickel und 20 Prozent Chrom stand, die Albert L. Marsh 1906 pate...

<p>Nach dem Zweiten Weltkrieg teilte der Eiserne Vorhang nicht nur Familien, sondern auch die Chemiker in West und Ost voneinander. Unter der SED-Diktatur arbeitete die Chemische Gesellschaft der DDR daran, die Forscher im Osten Deutschlands zu vernetzen.</p>
<p>Die Geschäftsstelle der Chemischen Gesellschaft (CG) der DDR befand sich keine hundert Meter von der Berliner Mauer entfernt. „Wenn in den 80er Jahren mal ein Rockkonzert im Westen war, mussten wir früher nach Hause gehen, damit wir das bloß nicht mithören“, erzählt Renate Kießling, letzte Geschäftsführerin der Chemischen Gesellschaft der DDR, und lacht.</p><p>Ihre Arbeitsstätte war die Clara-Zetkin-Straße 105, heute Dorotheenstraße 99 in Berlin-Mitte – dort war seit dem Jahr 1964 die Geschäftsstelle der Chemischen Gesellschaft untergebracht. „In der Mittagspause konnte man Unter den Linden flanieren“, sagt Kießling.</p><figure><img src="https://media.graphcms.com/XDbfmnyTnqWvOM6tZrLg"><figcaption><label>Abb. 1: </label>Die Geschäftsstelle der Chemischen Gesellschaft der DDR befand sich im Erdgeschoss der jetzigen Dorotheenstr. 99 in Berlin (weißes Gebäude in der Mitte). <named-content>Fotos: Brigitte Osterath</named-content></figcaption></figure>
<p>Das Haus steht heute unter Denkmalschutz; es existiert also noch, im Gegensatz zu vielen anderen Gebäuden in der Straße, die nach der Wende abgerissen wurden. Heute ist die Dorotheenstraße 99 ein Bürohaus für Abgeordnete; an die Chemische Gesellschaft erinnert nichts mehr. Sie ist genauso verschwunden wie die Berliner Mauer um die Ecke.</p><h2>Wie alles begann</h2><p>Weiter außerhalb, in Berlin-Adlershof, erinnert ein Straßenname an den Mann, der nach dem zweiten Weltkrieg die Gründung der Chemischen Gesellschaft der DDR vorantrieb: Erich Thilo.</p><figure><img src="https://media.graphcms.com/XeQTcZYnRsixpoYUkS0F"><figcaption><label>Abb. 2: </label>Erich-Thilo-Straße in Berlin-Adlershof, benannt nach dem Organiker und Gründervater der Chemischen Gesellschaft der DDR.</figcaption></figure>
<p>Thilo übernahm nach Kriegsende das Ordinariat am Chemischen Institut der Berliner Universität und war von 1951 bis 1967 Direktor des Instituts für Anorganische Chemie an der Akademie der Wissenschaften der DDR. „Er war einer der ersten Chemiker der DDR“, sagt Dietmar Linke, bis 1991 Professor für anorganische Chemie an der Akademie und derzeit stellvertretender Vorsitzender der GDCh-Fachgruppe „Geschichte der Chemie“. Thilo war Spezialist für Silikatchemie, daher gaben ihm seine Kollegen den Spitznamen „Kiesel-Erich“.</p><p>Sechs Jahre lang kämpfte Erich Thilo gegen bürokratische Hürden, um die Chemiker im Ostteil Deutschlands zu einer Gesellschaft zu vereinen.<sup>1–3)</sup> Im Jahr 1953 war es soweit: Am 11. Mai trafen sich die DDR-Chemiker zur Gründungsversammlung an der Universität Leipzig, und am 3. Juni bestätigte der Minister für Volksbildung Paul Wandel den Antrag. Laut Statut diente die Gesellschaft der „Pflege der besten Traditionen der chemischen Wissenschaft, zur Förderung und Entfaltung der chemischen Wissenschaft, die dem Frieden und der Einheit Deutschlands dient.“ Von 1953 bis 1955 war Thilo Vorsitzender der Chemischen Gesellschaft.</p><p>Die Gesellschaft wuchs schnell: Bereits ein halbes Jahr nach Bestehen zählte sie 800 Mitglieder, zum Zeitpunkt der Auflösung im Jahr 1990 waren es 4500. Auch Dietmar Linke trat bald nach seiner Diplomprüfung im Jahr 1963 ein. „Wir sind schon als Studenten immer zu den Kolloquien der Chemischen Gesellschaft gegangen“, erzählt er. „Und da wollte man natürlich auch Mitglied sein.“</p><h2>Chemisierung der Volkswirtschaft</h2><p>Die Chemie spielte in der DDR eine extrem wichtige Rolle, erläutert Historiker Stefan Wolle, wissenschaftlicher Leiter des DDR-Museums in Berlin. Denn die DDR verfügte über so gut wie keine Rohstoffe; auf ihrem Gebiet lag aber das mitteldeutsche Chemiedreieck Leuna-Buna-Bitterfeld. „Die Idee war es, auf die Chemie zu setzen und aus dem Erdöl der UdSSR mit der überlegenen Technik und den Fachleuten der DDR Produkte für den Weltmarkt zu entwickeln.“ Diese Produkte waren vor allem Kunststoffe: Plaste und Elaste. Es war eine „wirtschaftspolitisch richtige Entscheidung“, meint Stefan Wolle – immerhin waren die Chemiewerke im Chemiedreieck „weltweit führend“.</p><figure><img src="https://media.graphcms.com/DPB5n6RZyHMTsrWOHQjg"><figcaption><label>Abb. 3: </label>Chemiker – ein extrem wichtiger Beruf in der rohstoffarmen DDR. Schautafel im DDR-Museum in Berlin.</figcaption></figure>
<figure><img src="https://media.graphcms.com/UWkBfCRYQ0WVLMumf0Tm"><figcaption><label>Abb. 4: </label>Plaste und Elaste – DDR-Produkte. Ausgestellt im DDR-Museum in Berlin.</figcaption></figure>
<p>So initiierte Walter Ulbricht im Jahr 1959 das Chemieprogramm unter dem Motto „Chemie gibt Brot, Wohlstand und Schönheit“, das DDR-weit propagiert wurde. Das Schulsystem der DDR war stark mathematisch-naturwissenschaftlich orientiert, Chemieunterricht gab es ab der 7. Klasse. Auch die Ausbildung für Chemiker und Ingenieure galt als sehr gut. Die Produkte, die in der chemischen Industrie entstanden, hatten laut Wolle Weltniveau, „wurden aber zu Dumpingpreisen im Westen verkauft.“ Auf die Dauer konnte das Konzept daher nicht aufgehen.</p><h2>Forschungsfreiheit?</h2><p>Anwendungsorientierte Forschung in Zusammenarbeit mit der Industrie hatte in der DDR immer Vorrang. „Die Forschung war stark praxisorientiert, das war das ständige Mantra an der Universität“, berichtet Stefan Wolle. „Es sollten nicht irgendwelche abstrakten Sachen entwickelt werden. Man hat Wissenschaftler kritisiert, die sich irgendwo im stillen Kämmerchen der Grundlagenforschung widmeten.“</p><p>Egon Fanghänel, von 1971 bis 1993 Professor für organische Chemie an der Technischen Hochschule Leuna-Merseburg und von 1985 bis 1988 Vorsitzender der Chemischen Gesellschaft der DDR, bestätigt dies, schränkt allerdings ein: Wer „geschickt, klug und weise“ war, konnte auch unter der SED-Diktatur seine eigenen Interessen inklusive Grundlagenforschung verfolgen. „Man musste nur bereit sein, Kompromisse zu schließen.“</p><p>Fanghänel selbst etwa war dafür vorgesehen, in der Filmfabrik Bitterfeld-Wolfen stellvertretender Forschungsdirektor zu werden. Aber: „Das hat mir gar nicht geschmeckt, ich wollte nicht in die Mühlen der Industrieverantwortlichkeit geraten.“ Lieber wollte er an der Hochschule bleiben. Er schlug einen Kompromiss vor: Drei Tage pro Woche Wolfen, die restlichen drei Tage Hochschule – „so konnten beide Seiten das Gesicht wahren.“ Sein Vorschlag wurde angenommen.</p><p>Historiker Stefan Wolle erstaunt das nicht. „Universitätsprofessoren haben sich nicht von jedem Parteiheini auf der Nase herumtanzen lassen. Wer internationales Renommee hatte, den konnte man nicht drangsalieren.“ Aber statt sich öffentlich dem Regime entgegenzusetzen, haben sich viele Wissenschaftler im Stillen ihre Forschungsfreiheit erarbeitet. Wie Fanghänel es ausdrückt: „Man musste seinen eigenen Weg finden, manchmal mit dem Kopf durch die Wand und manchmal einfach die Klappe halten.“</p><h2>Der Fall Havemann</h2><p>Dass es aber auch renommierten Chemikern in der DDR an den Kragen ging, wenn sie in ideologischen Fragen zu selbstständig wurden, zeigt das Beispiel Robert Havemann. Er war seit 1950 Direktor des Instituts für Physikalische Chemie an der Humboldt-Universität Berlin und arbeitete als SED-Mitglied und überzeugter Kommunist eng mit dem KGB und dem Ministerium für Staatssicherheit zusammen.</p><p>Solchermaßen privilegiert erhält Havemann Einsichten in Vorgänge, die seine Überzeugungen erschüttern, etwa die Straf- und Arbeitslager in der Sowjetunion. „Havemann sah Sachen, die er nicht wahrhaben wollte“, erklärt Bernd Florath von der Behörde des Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen. Doch schließlich äußert Havemann sich zunehmend kritisch über die Art des Kommunismus, den die DDR praktiziert. Außerdem lässt er sich von oben nicht in „seine“ Naturwissenschaften reinreden; dass die Unschärferelation beispielsweise nicht zur Parteiideologie passt, stört ihn nicht. „Wir nannten ihn Robbi Muckauf“, erzählt Wissenschaftshistoriker Hans-Georg Bartel, der unter Havemann studiert hat.</p><p>Im Wintersemester 1963/64 schließlich knallt es. Havemann hält die Vorlesungsreihe „Naturwissenschaftliche Aspekte philosophischer Probleme“, deren Inhalt mit SED-Ideologie nicht vereinbar ist, in welche die Studenten aber nur so strömen. „Die Leute kamen dafür sogar aus Erfurt angereist“, erzählt Bartel. „Der Emil-Fischer-Hörsaal war mit 600 Leuten proppenvoll.“ Nachdem eine westdeutsche Zeitung noch ein kritisches Interview mit Havemann abgedruckt hatte, schließt die SED ihn aus, und die Universität entlässt ihn. Er bekommt Hausverbot. Eine Tafel am Emil-Fischer-Gebäude in der Hessischen Straße 1–2 erinnert heute an das Ereignis.</p><figure><img src="https://media.graphcms.com/5keWhYqxStyF7mEKtMWY"><figcaption><label>Abb. 5: </label>Eine Tafel am Emil-Fischer-Haus in der Hessischen Straße in Berlin erinnert an Robert Havemann, Chemiker und Regimekritiker in der DDR.</figcaption></figure>
<p>Havemann „wollte einfach kein unpolitischer Chemiker sein“, sagt Florath. Dafür zahlt er einen hohen Preis, Havemann wird „rausgesäubert“, erzählt Florath. „Er war ein lebendiger Toter.“ Von 1966 an ist er arbeitslos, seine Karriere als Chemiker ist vorbei. Nirgendwo wird er erwähnt, er darf nichts veröffentlichen. Die Akademie der Wissenschaften baut sogar Havemanns Forschungsgebiet ab, die Photochemie.</p><p>Von 1962 bis 1964 war Havemann Vorstandsmitglied der Chemischen Gesellschaft der DDR, berichtet Renate Kießling. Der Vorstand befasste sich erstmals 1964 mit seinen kritischen Äußerungen. Im Protokoll der Vorstandssitzung vom 6. Mai heißt es: „Die Vorstandsmitglieder müssen die leichtfertige Verhaltensweise Herrn Professor Havemanns missbilligen.“ Damals sieht der Vorstand allerdings noch keine Veranlassung, ihn von der Mitarbeit an der Zeitschrift für Chemie, herausgegeben von der Chemischen Gesellschaft, auszuschließen. Das ist erst am 20. Januar 1966 der Fall. Später taucht Havemanns Name nicht mehr auf, sagt Kießling. „Ich kann aber nicht nachvollziehen, ob er dann freiwillig aus der CG austrat oder ausgeschlossen wurde. Dazu gibt es keine Unterlagen mehr.“</p><h2>Offiziell frei – aber nicht so ganz</h2><p>Renate Kießling erinnert sich nicht, dass die Chemische Gesellschaft zu ihrer Zeit, also nach 1979, ein Mitglied aus politischen Gründen ausschloss. „Das passierte nur, wenn jemand die Mitgliedsbeiträge nicht bezahlte.“</p><p>Unterstellt war die Chemische Gesellschaft seit den 70er Jahren dem Büro für wissenschaftliche Gesellschaften, das der Akademie der Wissenschaften angegliedert war. Das Büro saß im Magnus-Haus am Kupfergraben 7, dem ehemaligen Wohnhaus des Physikers Gustav Magnus. „Es hieß zwar, die Gesellschaften seien frei in ihren Entscheidungen, aber das waren wir natürlich nicht“, sagt Kießling. Jeden Monat gab es eine Sitzung mit dem Geschäftsführer des Büros. „Wir mussten beispielsweise vorlegen, welche Wissenschaftler wir zu Tagungen einladen wollten.“ Abgelehnt hat das Büro, soweit Kießling sich erinnern kann, zwar niemanden, aber für jeden Wissenschaftler aus dem westlichen Ausland mussten zwei Wissenschaftler aus sozialistischen Ländern kommen. „Da haben wir manchmal ein bisschen getrickst. Wenn ein Forscher aus der DDR nicht kam, obwohl er eingeladen war, war das ja nicht unsere Schuld.“</p><figure><img src="https://media.graphcms.com/FgZKYobNTNG5sDRYe2jv"><figcaption><label>Abb. 6: </label>Magnus-Haus gegenüber der Museumsinsel in Berlin. Hier befand sich zu DDR-Zeiten das Büro für wissenschaftliche Gesellschaften.</figcaption></figure>
<p>Für Besucher aus dem westlichen Ausland waren Betreuer festzulegen, die nach der Tagung Berichte zu verfassen hatten. Darin stand, was der Besucher vorgetragen hatte und wie beispielsweise seine Haltung zur Wissenschaftspolitik der DDR war. „Die Berichte waren natürlich durchweg positiv“, berichtet Renate Kießling und lacht. „Man suchte sich ja von vornherein jemanden aus, von dem man wusste, er ist zum einen wissenschaftlich ein Ass und wird zum anderen keinen Ärger machen.“</p><p>Die Chemische Gesellschaft musste zudem ein Posteingangsbuch führen „und jeder Brief, der aus dem Westen kam – sei es auch nur die Antwort auf eine Einladung – musste dem Büro vorgelegt werden“, sagt Kießling. Nach der Wende habe sie von Professoren erfahren, die aus Leitungsfunktionen genommen wurden, weil sie nicht systemkonform waren. Auch kam oft jemand von der Akademieleitung zu Tagungen, um für die Stasi alles zu beobachten, berichtet Kießling. „Ich wusste immer genau, wer von ‚Horch und Guck‘ kommt.“ Im Großen und Ganzen aber habe sie ihre Arbeit mit Abstrichen selbstständig ausführen können. „Wir haben versucht, das Maximale rauszuholen. Wir waren im System eingebunden und wussten, wie wir mit wem umzugehen hatten.“</p><p>Unter diesen Bedingungen blieben Ost-West-Kontakte jedoch schwierig. Helmut Schwarz, Professor am Institut für Chemie der TU Berlin, berichtet von einem Erlebnis Ende der 80er Jahre, nachdem er mehrere theoretisch-chemische Arbeiten von Angela Merkel in westlichen Journals gelesen hatte. „Ich wollte unbedingt Kontakt mit ihr aufnehmen, weil wir auf ähnlichem Gebiet arbeiteten – das war schier unmöglich.“ Der Aufwand wäre immens gewesen, und Schwarz befürchtete zudem, dass sich sein Bemühen nachteilig auf die ostdeutsche Physikerin auswirken könnte. Der Ausweg: „Man reiste in neutrale Orte wie Prag und traf sich da mit Kollegen, die man kennenlernen wollte.“</p><h2>International aktiv – so gut es ging</h2><p>Die Chemische Gesellschaft vernetzte vor allem die Chemiker innerhalb der DDR miteinander, pflegte aber auch Beziehungen zu den chemischen Gesellschaften der Ostblockstaaten wie der Sowjetunion, Polen, Tschechien und Ungarn. Eine wissenschaftliche Zusammenarbeit mit westlichen Wissenschaftsgesellschaften war hingegen kaum möglich. „Wissenschaftliche Kooperationen mit den USA, Großbritannien und Westdeutschland hat die DDR-Obrigkeit nicht gerne gesehen“, sagt Egon Fanghänel.</p><figure><img src="https://media.graphcms.com/sOLoCdrlQ4Gxiszn3xkf"><figcaption><label>Abb. 7: </label>Entdeckt im Archiv der GDCh: Der Verein ungarischer Chemiker gratuliert der Chemischen Gesellschaft der DDR zum 25jährigen Bestehen.</figcaption></figure>
<p>Immerhin: In den 1970er Jahren wurde die DDR Mitglied in der Iupac. Fanghänel setzte sich dann als Vorsitzender der CG dafür ein, dass die DDR auch in die FECS (Federation of European Chemical Sciences, Föderation der europäischen chemischen Gesellschaften) eintrat, der Vorgängerorganisation der Euchems. „Daran haben sich einige Vorsitzende vor ihm die Zähne ausgebissen“, sagt Renate Kießling. Eine Mitgliedschaft lehnte die Akademie der Wissenschaften der DDR immer ab, mit der Begründung, die Mitgliedschaft habe keinen ökonomischen Nutzen.</p><p>„Ich fand, es war ein Skandal, dass die DDR als wichtiges Chemieland nicht in der FECS vertreten war“, sagt Fanghänel. Mit wirtschaftlich-ökonomischen Argumenten schaffte er es schließlich, die Akademieführung zu überzeugen – auf diesen Erfolg ist er noch heute stolz. „Ich hab gesagt, wir schädigen die DDR, wenn wir nicht in der FECS sind, weil dort Normen festgelegt oder empfohlen werden, und das hat einen direkten Einfluss auf unsere Position in der Industrie.“</p><h2>Ende und Neuanfang</h2><p>Als die Mauer fiel und Ost und West sich vereinten, wurde es für viele ostdeutsche Forscher schwer. Nicht nur, dass beispielsweise die Akademie der Wissenschaften mit ihren 24 000 Beschäftigten aufgelöst wurde – viele traf auch die im Westen verbreitete Meinung hart, dass die DDR nur minderwertige Wissenschaft betrieben habe.</p><p>Gut gelaufen – da sind sich alle Befragten einig – sei aber die Eingliederung der Chemischen Gesellschaft in die GDCh. Eine Vereinigung beider Gesellschaften war laut Statuten nicht vorgesehen, daher musste sich die CG zum 31.12.1990 offiziell auflösen. Ihre 4500 Mitglieder konnten dann der GDCh beitreten. „Die GDCh hat alles getan, um das reibungslos zu gestalten“, sagt der Chemiehistoriker Dietmar Linke. Und so gingen sehr viele diesen Schritt: 3500 neue Mitglieder gewann die GDCh im Jahr 1991.</p><p>Die promovierte Chemikerin Brigitte Osterath arbeitet als Wissenschaftsjournalistin in Bonn. <a href="https://www.writingscience.de" target="_blank">www.writingscience.de</a></p><h2>Nachrichten-Pendant im Osten: das Mitteilungsblatt</h2><p>Vielen ostdeutschen Chemikern wurde es nicht genehmigt, zu GDCh-Veranstaltungen zu fahren. Über die Arbeit der GDCh und die Chemie im Westen Deutschlands informierten sie sich über die Nachrichten aus Chemie und Technik. Die Chemische Gesellschaft bezog von jeder Ausgabe 25 Exemplare und verteilte sie.</p><p>Auch die Chemische Gesellschaft brachte eine Mitgliederzeitschrift heraus: Zwölfmal im Jahr erschien das Mitteilungsblatt Chemische Gesellschaft der Deutschen Demokratischen Republik. Im Jahr 1983 verordnete die DDR-Führung eine Papiereinsparung, und das Mitteilungsblatt sollte eingestellt werden. Lothar Kolditz, anorganischer Chemiker und seit 1982 Mitglied des Staatsrates der DDR, nutzte seinen Einfluss: Er sorgte dafür, dass die Chemische Gesellschaft ihr Mitteilungsblatt fortführen konnte – wenn auch fortan im DIN-A5-Format, erstmal nur mit 16 Seiten und ohne Umschlag. Erst ab 1985 stieg die Seitenzahl wieder auf 24 (es blieb aber beim A5-Format), und im Jahr 1988 bekam das Mitteilungsblatt den Umschlag zurück.</p><p>Chemiegeschichte hatte in der DDR und damit auch im Mitteilungsblatt eine größere Bedeutung als im Westen Deutschlands.</p><p>Wolfgang Girnus verfasste beim Mitteilungsblatt die Rubrik „Kalendarium/Meilensteine“. Er ist stolz darauf, dass er die „Meilensteine“ – eigentlich eine Einrichtung aus dem Mitteilungsblatt – bis in die Nachrichten aus der Chemie herüber retten konnte.</p><p>Bis heute erscheinen die „Meilensteine der Chemie“ – ein Überblick zu Jubiläen bedeutender Ereignisse der Chemie und zu Geburts- und Todestagen berühmter Chemiker – alljährlich im Januarheft der Nachrichten.</p><h2>Serie Spurensuche</h2><p>In diesem Jahr feiert die GDCh 150 Jahre chemische Gesellschaften in Deutschland. Die Chemikerin und Wissenschaftsjournalistin Brigitte Osterath ist für die Nachrichten aus der Chemie auf Spurensuche an den Orten, die für die Geschichte der GDCh und ihrer Vorgängerorganisationen von Bedeutung waren.</p><div><img src="https://media.graphcms.com/x02r5qPlR6m84RxrI6L7">

</div><p></p>
<ul><h2>Literatur</h2><li>
<sup>1 </sup>R. Kießling, Nachr. Chem. 2013, 61, 1216.</li><li>
<sup>2 </sup>R. Kießling, Mitteilungen, GDCh / Fachgruppe Geschichte der Chemie 2013, Frankfurt am Main, Bd. 23, 145.</li><li>
<sup>3 </sup>W. Ruske, 100 Jahre Deutsche Chemische Gesellschaft, Verlag Chemie, Weinheim 1967.</li></ul>


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