Bildung & Gesellschaft

Prof.Dr.

Elektrochrome Fensterscheiben, smart windows, wechseln auf Knopfdruck ihre Farbe und lassen mal mehr, mal weniger Licht durch. In Gebäude eingebaut, sollen sie zur Energieeffizienz beitragen. Im Chemieunterricht zeigen selbstbeschichtete leitfähige Gläser, wie solche Fenster funktionieren.
Häufig sind die Fenster der energetische Schwachpunkt eines Gebäudes: Durch sie geht im Winter Wärme an die Umgebung verloren, oder sie heizen sich im Sommer durch die Sonneneinstrahlung auf. 30 bis 40 Prozent der weltweiten Primärenergie wird in Gebäuden für Heizung, Klimatisierung, Licht und für andere elektrische Geräte verbraucht.1)Elektrochrome Materialien ändern ihre optischen Eigenschaften, also Transmission und Reflexion, durch das Anlegen einer Spannung und den daraus resultierenden Strom.2) Somit kann eine Fensterscheibe, die mit einem solchen Material beschichtet ist, per Knopfdruck von gefärbt zu transparent oder zu einer anderen Farbe wechseln.3) Je nachdem, welches elektrochrome Material vorliegt, ändert sich die Lichttransmission zwischen 74 und 7 Prozent.4 )Elektrochrome Fensterscheiben können den Verbrauch elektrischer Energie beispielsweise für Kühlsysteme im Sommer reduzieren. Der jährliche Stromverbrauch in großen Gebäudeblöcken sinkt durch den Einbau von solchen smart windows um etwa 30 Prozent, die Energie für die Klimatisierung kann um bis zu 50 Prozent verringert werden.5)<h2>Eigenschaften und Funktionsweise</h2>Ein smart window funktioniert ähnlich wie ein Lithiumionenakkumulator: Durch eine Spannung wird das elektrochrome Material oxidiert oder reduziert, und zum Ladungsausgleich lagert das elektrochrome Material Ionen ein (Interkalation). Voraussetzung für ein elektrochromes Material ist somit eine Struktur, die Ionen einlagern kann. Zudem muss ein elektrochromes Material in mindestens einer Oxidationsstufe farbig sein. Diese Eigenschaften bringt der Eisen(II)-hexacyanoferrat(III)-Komplex, Berliner Blau, mit.Berliner Blau weist eine oktaedrische Struktur auf, bei der die Eisen(II)- und Eisen(III)-Ionen abwechselnd im Zentrum des Oktaeders positioniert sind, umgeben von Cyanid-Liganden. In die Oktaederlücken werden die Kationen zur Ladungskompensation eingelagert.6,7)Das Berliner-Blau-System eignet sich gut für den Einsatz in der Schule: Es ist unbedenklich, und die Oxidaktionsstufen des Systems unterscheiden sich erkennbar durch die unterschiedlichen Farben, was Schüler sehr motiviert.Berliner Blau lässt sich auf einem leitfähigen Glas (hier: FTO-Glas, Fluor-dotiertes Zinnoxid) bei sehr geringen Spannungen kathodisch abscheiden. Ausgangslösung ist eine wässrige Berliner-Braun-Lösung aus gleichen Teilen wässriger Eisen(III)-Salz- und Kaliumhexacyanoferrat(III)-Lösung gleicher Konzentration.8,9) Als Gegenelektrode dient eine Graphitfolie. Je nach Dauer der elektrochemischen Abscheidung sind die mit Berliner Blau beschichteten leitfähigen FTO-Gläser unterschiedlich intensiv gefärbt (Abbildung 1).<figure><img src="https://media.graphcms.com/b9Q9efBuTt6c1Hjxjx7u"><figcaption><label>Abb. 1: </label>Verschieden intensive Blaufärbungen von elektrochemisch abgeschiedenem Berliner Blau auf einem leitfähigen Glas nach 30 Sekunden, 60 Sekunden, 3 Minuten und 10 Minuten Abscheidedauer (von links).</figcaption></figure>
<h2>Wie das Fenster die Farbe wechselt</h2>Um einen elektrochromen Farbumschlag des abgeschiedenen Berliner Blaus zu zeigen, wird das beschichtete leitfähige Glas in eine wässrige Kaliumnitrat-Lösung überführt, zwei schmale Graphitfolienstreifen bilden die Gegenelektrode (Abbildung 2). Mit dem Modellfenster als Minuspol wird das Berliner Blau, K[FeIFeIII(CN)6], zum Berliner Weiß, K2[FeIIFeII(CN)6], und die Glasscheibe verliert ihre Farbe.<figure><img src="https://media.graphcms.com/wBZpdcKSk6BhUtaiwsAz"><figcaption><label>Abb. 2: </label>Versuchsaufbau eines Modell-smart-windows mit Berliner Blau als elektrochromem Elektrodenmaterial und Graphitfolie als Gegenelektrode.</figcaption></figure>
Wird im Folgenden umgepolt und die Berliner-Weiß-Scheibe als Pluspol geschaltet, färbt sich das Glas wieder blau und im weiteren Verlauf zunächst grün: Die Zwischenoxidationsstufe Berliner Grün, K[FeIII3{FeIII(CN)6}2{FeII(CN)6}], entsteht. Schließlich bildet sich die nun vollständig oxidierte Form: das Berliner Braun, [FeIIIFeIII(CN)6] (Abbildung 3).10)<figure><img src="https://media.graphcms.com/9filEyQoQFOpT1ktW701"><figcaption><label>Abb. 3: </label>Die Farbe hängt vom Oxidationszustand ab; von links nach rechts: K2[FeIIFeII(CN)6]; K[FeIIFeIII(CN)6]; K[FeIII3{FeIII(CN)6}2{FeII(CN)6}] und [FeIIIFeIII(CN)6] auf einem leitfähigen Glas.</figcaption></figure>
Abbildung 4 (Seite 1194) zeigt den Entfärbeprozess des Modellfensters auf der Teilchenebene. Am Minuspol werden durch die Gleichspannungsquelle Elektronen in die Berliner-Blau-Schicht hinein gepumpt. Dabei wird ein Eisen(III)-Ion des Berliner Blaus zu einem Eisen(II)-Ion reduziert. Zum Ladungsausgleich werden die Kaliumionen des Elektrolyten in die Oktaederlücken der Eisenhexacyanoferratstruktur interkaliert. Am Pluspol werden Elektronen abgezogen und die Graphitfolienstreifen positiv polarisiert. Hier werden die Nitrationen aufgrund der niedrigen Spannung nicht in die Graphitstruktur interkaliert, sondern adsorbieren zum Ladungsausgleich auf der Graphitoberfläche.10)<figure><img src="https://media.graphcms.com/q9Ftv0HmRu21i8YDPlrn"><figcaption><label>Abb. 4: </label>Entfärbeprozess eines Berliner-Blau-smart-windows: Durch den Stromfluss wird die Berliner-Blau-Kathode (links) oxidiert und in die Oktaederlücken lagern sich Kaliumionen ein (rechts: Graphit-Anode).</figcaption></figure>
Für kommerzielle elektrochrome Fensterschreiben eignet sich jedoch nur das Berliner-Weiß-Berliner-Blau-System.11) Die Oxidation zu Berliner Braun beansprucht das Ionengitter mechanisch zu stark, so dass die Zyklenzahl abnimmt.<h2>Lichtdurchlässigkeit messen</h2>Um im Chemieunterricht anschaulich zu zeigen, dass ein smart window mit Berliner-Blau-Schicht weniger durchlässig für Sonneneinstrahlung ist als eine Berliner-Weiß-Scheibe, eignet sich ein Smartphone als Messinstrument. Dazu braucht man eine App, welche die Lichtintensität misst, zum Beispiel die Physics Toolbox Light Sensor App. Dazu sollte das Smartphone über eine Frontkamera mit eingebautem Lichtsensor verfügen. Die Physics Toolbox Light Sensor App visualisiert die Messwerte direkt in einem Diagramm, bei dem auf der X-Achse die Zeit und auf der Y-Achse die Beleuchtungsstärke in der Einheit Lux aufgetragen ist. Daher eignet sich diese Software für die Schule.Im Experiment wird das Modellfenster von vorne mit einer Lampe bestrahlt, um eine besser definierte Lichteinstrahlung zu erreichen. Positioniert man nun das Smartphone während der Reduktion des Berliner Blau hinter dem Fenster, so ist ein deutlicher Anstieg der Lichtintensität im Diagramm sichtbar (Abbildung 5 links). Wird das Berliner-Weiß-Glas nun als Pluspol geschaltet und wieder oxidiert, sinkt die Lichtintensität deutlich. Dieses Experiment setzt das Smartphone als Luxmeter ein und zeigt den Schülern, dass das elektrochrome Fenster im aufgehellten Zustand lichtdurchlässiger ist als im abgedunkelten Berliner-Blau-Zustand.12)<figure><img src="https://media.graphcms.com/C6GX5O7iRs67COIqkuMB"><figcaption><label>Abb. 5: </label>Ein Smartphone mit Lichtsensor und App misst die Beleuchtungsstärke; links: Aufhellung, Berliner Blau wird zu Berliner Weiß reduziert; rechts: Abdunkelung, Berliner Weiß wird zu Berliner Blau oxidiert.</figcaption></figure>
Die experimentell-konzeptionell ausgerichtete chemiedidaktische Forschung hat zum Ziel, zukunftsweisende Themen für Schüler im Chemieunterricht zugänglich zu machen. In loser Folge stellen Forscher dazu in den Nachrichten aus der Chemie ihre Ergebnisse vor.<h2>Quergelesen</h2>Eine Scheibe aus leitfähigem Glas lässt sich elektrochemisch mit Berliner Blau beschichten und bildet so das Modell für ein elektrochromes Fenster.Wird die Beschichtung elektrochemisch reduziert, wird sie farblos. Wird sie oxidiert, ändert sich ihre Farbe über Blau und Grün zu Braun.Schüler können über eine Smartphone-App messen, wie sich die Lichtdurchlässigkeit der Glasscheibe verändert.<h2>Vitakasten</h2>Marco Oetken studierte an der Universität Oldenburg Chemie und Biologie für das Lehramt an Gymnasien und legte im Jahr 1994 das 1. Staatsexamen ab. 1997 promovierte er im Arbeitskreis von Walter Jansen. Das 2. Staatsexamen legte er im Jahr 2000 ab. Im gleichen Jahr wurde er Akademischer Rat für Didaktik der Chemie an der Universität Oldenburg und habilitierte sich 2001. Nach Vertretungsdozenturen an der Pädagogischen Hochschule Weingarten und der Universität Wuppertal erhielt er 2004 einen Ruf auf eine C3-Professur für Chemie und ihre Didaktik an die Pädagogische Hochschule Freiburg. Seit 2007 ist er W3-Professor für Didaktik der Chemie an der Pädagogischen Hochschule Freiburg. <a href="mailto:Marco.Oetken@ph-freiburg.de">Marco.Oetken@ph-freiburg.de</a> Corina Wagner studierte von 2009 bis 2013 an der Pädagogischen Hochschule Freiburg für das Lehramt an Realschulen in den Fächern Chemie, Sport und Mathematik und schloss das Studium im Jahr 2013 mit dem 1. Staatsexamen ab. Seit Oktober 2013 promoviert sie im Arbeitskreis von Marco Oetken. Im Projekt „Erneuerbare Energien“ entwickelt sie Experimente für die Themen Elektrochromie und elektrochemische Speichersysteme. <a href="mailto:corina.wagner@ph.freiburg.de">corina.wagner@ph.freiburg.de</a><div><img src="https://media.graphcms.com/IRizhKoTXCZdZ33Wi3Bh">

</div><div><img src="https://media.graphcms.com/zf0nKU0UTeiiY3CD40Wm">

</div>
<ul><h2>Literatur</h2><li>
1 C. G. Granqvist, Thin Solid Films 2014, 564, 1–38.</li><li>
2 N. M. Rowley, R. J. Mortimer, Sci. Prog. 2002, 85, 243–262.</li><li>
3 R. J. Mortimer, Electrochim. Acta 1999, 44, 2971–2981.</li><li>
4 A. Azens, C. Granqvist, J Solid State Electrochem. 2003, 7, 64–68.</li><li>
5 S. Papaefthimiou, E. Syrrakou, P. Yianoulis, Thin Solid Films 2006, 502, 257–264.</li><li>
6 D. Ellis, M. Eckhoff, V. D. Neff, J. Phys. Chem. 1981, 85, 1225–1231.</li><li>
7 K. Itaya, I. Uchida, V. D. Neff, Acc. Chem. Res. 1986, 19, 162–168.</li><li>
8 P. R. Somani, S. Radhakrishnan, Mater. Chem. Phys. 2003, 77, 117–133.</li><li>
9 R. J. Mortimer, Chem. Soc. Rev. 1997, 26, 147–156.</li><li>
10 C. Wagner, M. Oetken, Chemkon 2016, 23, 11–119.</li><li>
11 D. R. Rosseinsky, R. J. Mortimer, Adv. Mater. 2001, 13, 783–793.</li><li>
12 C. Wagner, M. Oetken, Prax. Naturwiss., Chem. Sch. 2014, 63, 33–41.</li>Weiterführende Informationen und Quellen, etwa für FTO-Gläser, sowie konkrete Versuchsbeschreibungen zu den aufgeführten Experimenten sind als Online-Ergänzung verfügbar: <ext-link ext-link-type="uri"><a href="https://www.nachrichtenausderchemie.de/" target="_blank">www.nachrichtenausderchemie.de/</a> downloads</ext-link>Wir danken dem Bundesministerium für Bildung und Forschung und dem Fonds der Chemischen Industrie für die finanzielle Unterstützung dieser Arbeit.</ul>

Artikel

Berliner Blau: Elektrochromie in der Schule

Elektrochrome Fensterscheiben, smart windows, wechseln auf Knopfdruck ihre Farbe und lassen mal mehr, mal weniger Licht durch. In Gebäude eingebaut, sollen sie zur Energieeffizienz beitragen. Im Chemieunterricht zeigen selbstbeschichtete leitfähige Gläser, wie solche Fenster funktionieren. Häufig...

Vietnamesische Lehrer hatten im Chemieunterricht fast ausschließlich Faktenwissen zu vermitteln. Bildungsreformen sollen diese Praxis verändern. Doch neue Ansätze wie mehr Experimentalunterricht und Selbstständigkeit der Lernenden verändern auch traditionelle Vorstellungen von Bildung, der Rolle des Lehrers und des Schülers.
In Vietnam ist das Bildungssystem im Umbruch. Der Reformprozess hat im Jahr 2013 begonnen und bricht mit Traditionen der bisherigen Bildungspraxis.1) Sie ist gekennzeichnt durch Auswendiglernen von Fachinhalten, algorithmische Problemlösungen, Wiederholungen und Einübungen, chemische Rechenaufgaben, chemische Formelsprache und Nachhilfeunterricht.Die Reform ist der Versuch einer bildungspolitisch beabsichtigten, vorsichtigen Deregulierung. Bis zum Jahr 2020 soll sie abgeschlossen sein. Vietnam sucht Anschluss an internationale Forschungen vor allem zu Theorie und Praxis naturwissenschaftlicher Allgemeinbildung, grundsätzlich Bildungsauswahl und Bildungsprozesse betreffend. Naturwissenschaftliche Bildung zu intensivieren, hat höchste Priorität.Wie Beispiele aus der Tageszeitung „Vietnam News“ zeigen (Abbildung), diskutieren Medien und Öffentlichkeit zurzeit Strukturen und Problemlagen des Bildungssystems wie<figure><img src="https://media.graphcms.com/xvTTTt7GSrSNnxfqSZ91"><figcaption><label>Abb. 1: </label>Bildung in der öffentlichen Diskussion: Artikelüberschriften aus der englischsprachigen Tageszeitung Vietnam News.</figcaption></figure>
<list list-type="simple"><list-item></list-item></list>die starke Ausrichtung des Unterrichts auf Prüfungen,<list-item>den lehrerzentrierten und leistungsorientierten Fachunterricht,</list-item><list-item>die Theorielastigkeit schulischer Curricula,</list-item><list-item>die geringe Berücksichtigung von Schülerbedürfnissen,</list-item><list-item>die auf methodologisch-methodische Kompetenzen ausgerichtete Lehrerausbildung (in Vietnam: teacher training),</list-item><list-item>die Dominanz rezeptiver Aktivitäten der Lernenden.</list-item>Hintergrund der Reformen sind<list list-type="simple"><list-item></list-item></list>die positive wirtschaftliche Entwicklung von Vietnam in den letzten Jahren,<list-item>die außenpolitische Bereitschaft zum Dialog in alle politischen und kulturellen Richtungen,</list-item><list-item>der Ausbau von Handelsbeziehungen und weltweiten Kooperationen sowie</list-item><list-item>selbstbewusstes Auftreten der staatlichen Repräsentanten in internationalen Zusammenhängen.</list-item>Die Reformen sind zwar weitsichtig, Diskrepanzen zwischen Ansprüchen und Realitäten jedoch unvermeidbar.Derzeit intensiviert Vietnam Handels- und Kulturbeziehungen mit Deutschland, begleitet von wissenschaftlichen, ökonomischen, technischen und umweltrelevanten Kooperationen. Die Bereitschaft, ausländische Wissenschaftler an Hochschulen – auch an lehrerausbildenden Universitäten – zu beschäftigen, ist vorhanden, der Staat mobilisiert dafür Ressourcen.<h2>Chemische Bildung – Realität und Absichten</h2>Auch Chemielehrer in Vietnam teilen den pädagogischen Anspruch, im Bildungsgeschehen auf die Lernenden einzugehen. Dies ist unser Eindruck in Diskussionen unter Kollegen in und außerhalb von Ho-Chi-Minh-Stadt, in Seminaren und Vorlesungen an der Pädagogischen Universität in Ho-Chi-Minh-Stadt, in unseren Lehrerfortbildungsveranstaltungen und im Rahmen unserer naturwissenschaftlichen Freizeitprojekte an allen Schulstufen. Und wir haben erfahren, dass enorme Belastungen der Chemielehrkräfte verhindern, entsprechende Anregungen aufzugreifen wie<list list-type="simple"><list-item></list-item></list>konzeptionelle Vielfalt im Unterricht, beispielsweise im Sinn von Kontext- und Alltagsorientierungen,<list-item>Intensivierung von Experimentalunterricht und Schülerversuchen,</list-item><list-item>problem- und anwendungsorientierte Lernanlässe,</list-item><list-item>individuelle Förderung von Selbstständigkeit der Lernenden,</list-item><list-item>fachaufweitender Chemieunterricht oder integrierter Naturwissenschaftsunterricht2) und</list-item><list-item>emotional gesteuerte Lernanlässe, um Interessen zu wecken und zu fördern.</list-item>Möglicherweise sind entsprechende Reformabsichten noch nicht im Bewusstsein der Lehrkräfte verankert.Ressourcen für ein erneuertes Bildungsgeschehen sind in Vietnam zudem ungleich verteilt: Vor allem in Hanoi und auch in Ho-Chi-Minh-Stadt sind die Bedingungen deutlich besser als in ländlichen Gegenden. Eine Diskussion über die Qualität der Hochschullehre richtet sich immer wieder auf die didaktischen Fähigkeiten der Hochschullehrer. Intensive Lehrerfortbildung soll Defizite ausgleichen.2)Die Lehrerausbildung (teacher training) an den pädagogischen Universitäten steht vor der Herausforderung, neue Schulcurricula zu berücksichtigen, die sich weniger an Examensergebnissen und am Gehorsamsprinzip orientieren4) als die bisherigen Lehrpläne. Die Hochschuldidaktik hat die Aufgabe,<list list-type="simple"><list-item></list-item></list>das Selbstvertrauen und die Selbstwirksamkeit der Lehramtsstudierenden zu stärken,<list-item>ihre methodischen Kompetenzen im Interesse effektiven Unterrichts zu erweitern und</list-item><list-item>ihr lernpsychologisches Grundlagenwissen über Denkoperationen und Emotionen der Lernenden zu vertiefen.</list-item>Die methodologische Forschung ist stärker an der Realität auszurichten als bisher. In der angloamerikanischen und westeuropäischen Wissenschaftlergemeinde geläufige Theoriekonstrukte wie Schülerorientierung, Bildung und Bildungsprozess, Lernschwierigkeiten, Vorstellungen, Konzeption, Kontext bleiben aufgrund der vorherrschenden methodisch-phänomenologischen Betrachtungsweisen von Chemieunterricht weitgehend unberücksichtigt.5) Möglicherweise ist zu hinterfragen, inwieweit die vietnamesische Sprache diese abstrakten Begriffe ausdrücken kann.Das Schlagwort „Science in practice”, also didaktisches Theoriewissen im Unterricht zu nutzen, gilt erst recht für die Lehrerausbildung. Slogans wie „learn-to-learn-methods”, also dass Lernende lernen zu lernen, oder „creative activities”, also naturwissenschaftliche Fähigkeiten schöpferisch zur Problemlösung und Gestaltung anzuwenden, zeigen die Ansprüche an Lehrerverhalten und zielen darauf, die Unterrichtspraxis zu verändern.6) Die Medien wiederholen diese Slogans.<h2>Ausgangslage der Reformen – Pros und Contras</h2>Unsicherheit und Skepsis, wie die Reformen umzusetzen sind, sind groß. Ihre pädagogische und fachdidaktische Notwendigkeit ist unbestritten. So fixieren die Reformvorhaben eine veränderte Auffassung der Lehrer-, aber auch der Schülerrolle.Die Auffassungen stehen heute nach wie vor in der kulturellen Tradition, dass Lehrer zunächst effektive Wissensvermittler sind. Sie bereiten durch Unterricht und Nachhilfeunterricht Schüler auf zahlreiche Prüfungen vor, insbesondere auf das für ein Studium qualifizierende Zulassungsexamen parallel zum Abitur. Sie schöpfen ihre Professionalität aus dem kulturell legitimierten Anspruch, einen chemischen Wissenskanon zu lehren.Nachhilfeunterricht war bisher bedeutsam für die Qualitätssicherung von Unterricht, und die Lehrer besserten damit ihr Gehalt auf. Die Abschaffung des Nachhilfeunterrichts im Rahmen der Reform bedeutet nicht nur den Bruch mit dieser Haltung, sondern auch erhebliche Einkommenseinbußen. Dazu kommt der Prestigeverlust im Vergleich zu anderen Berufsgruppen wie Ärzten oder Rechtsanwälten.Insgesamt sind die Reformen auch eine große Herausforderung für Lernende. Bisher haben sie nicht gelernt, sich aktiv am Unterricht zu beteiligen.Allerdings können sich die Reformen zunutze machen, dass Chemieunterricht in Vietnam geschätzt wird.4) Erfolge und Preise von Schülern bei internationalen naturwissenschaftlichen Leistungswettbewerben und Chemieolympiaden bedeuten zudem einen enormen Prestigegewinn für das System. Für die jungen Preisträger ist die Beschäftigung mit Naturwissenschaft wertexpressiv, also Ausdruck ihrer persönlichen Vorlieben und Geisteshaltungen. Insofern sind die Reformen eine Chance, durch Unterricht verstärkt Interessen aufzubauen und weiter zu entwickeln.5)Es ist allerdings nicht absehbar, inwieweit sich wissenschaftliche Standards, wie sie die internationale Wissenschaftlergemeinschaft vertritt und fordert,7) gegen traditionelle kulturelle Wertsysteme behaupten können. Insofern ist die Orientierung an fremden Standards problematisch. Diese Situation hat eine internationale Didaktik, die sich als Weltdidaktik darstellt,8) zu beachten und zu bedenken, wenn sie nicht gegen das eigene didaktische Theorem der Bedingtheit von Unterricht, also die totale Voraussetzungsgebundenheit jedweden Unterrichtens, verstoßen will.<h2>Quergelesen</h2>Vietnam sucht im Bildungssystem Anschluss an die internationale Forschung.Die Veränderungen in Schule und Unterricht stellen besondere Anforderungen an die Ausbildung der Chemielehrer.Wie stark die vietnamesische Gesellschaft die Öffnung und Deregulierung des Bildungssystems diskutiert, zeigt sich in den Tageszeitungen und anderen öffentlichen Medien.<h2>Vitakasten</h2>Hans-Jürgen Becker hat seit September eine Gastprofessur für Chemiemethodologie an der Pädagogischen Universität in Ho-Chi-Minh-Stadt, Vietnam, im Rahmen des Johann-Gottfried-Herder-Programms inne. Seit 1995 ist er Professor für Chemiedidaktik an der Universität Paderborn. Davor war er an der TU und der FU Berlin sowie im Berliner Schuldienst tätig. Im Jahr 1978 hat er bei Wolfgang Glöckner promoviert und sich 1992 an der FU Berlin habilitiert. Seine Forschungsschwerpunkte sind konzeptionelle und hochschuldidaktische Themen, die Grundlegung einer systematischen Chemiedidaktik sowie interkulturelle Fragen.Minh Quang Nguyen studierte Chemie und Mathematik auf Lehramt an der Universität Paderborn. Er promoviert bei Hans-Jürgen Becker mit einer Arbeit über chemische Bildung in Vietnam und arbeitet seit September als Lehrer an der International German School in Ho-Chi-Minh-Stadt.
<ul><h2>Literatur</h2><li>
1 H. J. Becker, M. Q. Nguyen, Nachr. Chem. 2012, 60, 1058–1061.</li><li>
2 H. H. Dao, H.-J. Becker, M. Q. Nguyen, Journal of Science (Ho Chi Minh City University of Education), 2015, H. 11, 158 – 167</li><li>
3 M. Q. Nguyen, „Day hoc dinh huong ngoui hoc – Lien ket hhung kinh hghiem hang hgay voi cac thi hghien don gian. Reader zur Lehrerfortbildung in Long Xuyen (Mekong-Delta)“, Juli 2016.</li><li>
4 H. H. Dao, „Thoughts on Chemistry Education in Vietnam.“ Thesenpapier eines Vortrags an der HCMCUE. März 2016</li><li>
5 H.-J. Becker, M. Q. Nguyen, Journal of Science (Ho Chi Minh City University of Education). 2014, H. 1, 18–28</li><li>
6 H.–J. Becker, M. Q. Nguyen, Journal of Science (Ho Chi Minh City University of Education).2015, H. 6, 20–22.</li><li>
7 S. Markic, I. Eilks, D. Di Fuccia, B. Ralle in: „Inquiry-based Learning – Forschendes Lernen GDCP-Jahrestagung“. Hannover 2012, Tagungsband 2013, 665–668.</li><li>
8 I. Eilks, Avi Hofstein (Eds), „Teaching Chemistry a Studybook. A practical guide and Textbook for Student Teachers, Teacher Trainees, Teachers.“ Sense publisher, Rotterdam/Boston/Taipeh. 2013.</li>Dank an den Deutschen Akademischen Austauschdienst (DAAD), der seit September 2016 unser Projekt „Chemische Bildung in Vietnam” unterstützt. Das Projekt läuft seit Anfang 2011.</ul>

Artikel

Berliner Blau: Elektrochromie in der Schule

Überprüfung Ihres Anmeldestatus ...