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Trendbericht Theoretische Chemie 2023 (3/3)

Dynamik beobachten – explizite Beschreibung der Pulseigenschaften

Nachrichten aus der Chemie, November 2023, S. 67-69, DOI, PDF. Login für Volltextzugriff.

Von Wiley-VCH zur Verfügung gestellt

Maschinelles Lernen: Bisher zielten Anwendungen vor allem auf das Lernen von Potenzialenergiehyperflächen, derzeit zeigen sich viele neue Forschungsrichtungen. Molekülschwingungen in der Thermodynamik: Berechnung in Theorie und Simulation. Ultrakurze Laserpulse zum Beobachten molekularer Dynamik: Da die Bewegung von Elektronen genauso schnell ist wie die zeitliche Ausdehnung der Pulse, sind die Pulseigenschaften bei Simulationen explizit zu berücksichtigen.

Dynamik beobachten – explizite Beschreibung der Pulseigenschaften

Um Reaktionen zu veranschaulichen und die Vorzugsrichtungen plausibel zu machen, nutzen wir in der Chemie Elektronenverschiebungspfeile1). Was wäre aber, wenn man die hinter diesen Pfeilen stehenden Bewegungen der Elektronen und Atomkerne in Echtzeit beobachten könnte?

Sowohl aufgrund der Größe der Atomkerne und Elektronen als auch wegen der typischen Zeitskalen, innerhalb derer die Umorganisationen stattfinden – Femto- bis Picosekunden für Kerne und Attosekunden für Elektronen –, eignet sich keine normale Kamera mit einer minimalen Verschlusszeit von aktuell 62,5 µs. Nötig ist stattdessen ein Instrument, das eine höhere zeitliche Auflösung besitzt als die Prozesse, die wir beobachten wollen. Hierfür hat sich durch die Entwicklungen ultrakurzer Laserpulse in den letzten 50 Jahren die Pump-Probe-Spektroskopie2) als Standardwerkzeug etabliert. Drei Nobelpreise unterstreichen die Bedeutung dieser Technik: Ahmed Zewail 1999, Donna Strickland 2018 sowie der diesjährige Nobelpreis 2023 für die Erzeugung von Attosekundenpulsen. Dieser ging an Anne L’Huillier, Pierre Agostini und Ferenc Krausz [diese Nachrichten, S. 10]. Die theoretischen und experimentellen Beiträge von Paul Corkum sollten in diesem Zusammenhang auch erwähnt werden.

Bei der Pump-Probe-Spektroskopie wird mit einem ultrakurzen Laserpuls (Pump) der Startzeitpunkt eines Prozesses definiert, dessen Verlauf dann durch einen zweiten Laserpuls (Probe) nach einer definierten Zeit abgefragt wird. Mehrmaliges Wiederholen bei verschiedenen Zeitabständen ergibt dann ein zeitaufgelöstes Signal. Dieses zeitaufgelöste Signal führt jedoch nicht zu einem molekularen Film, es zeigt lediglich die zeitliche Veränderung einer das System charakterisierenden Eigenschaft, etwa eine Ionisierungsenergie, eine Absorptionsenergie, ein Streuverhalten oder eine Tunnelwahrscheinlichkeit. Quantenchemische Simulationen sowohl der ultrakurzen Dynamik der Moleküle als auch der gemessenen Observablen sind unabdingbar – sowohl bei der Planung der Experimente als auch um Ergebnisse zu interpretieren. Aus den beobachteten Eigenschaften lässt sich dann ein für Chemiker und Chemikerinnen intuitiver Ablauf konstruieren.

Modellierung zeitaufgelöster Observablen mit instantanem Puls

Ist die Halbwertsbreite des initiierenden Pulses deutlich kürzer als die Dauer des zu beobachtenden Prozesses, lässt sich in der theoretischen Beschreibung annehmen, dass die initiierende Anregung instantan stattfindet. Das vereinfacht die Beschreibung des Anregungsprozesses. Statt den Puls und seine Eigenschaften während der Anregung direkt zu beschreiben, lässt sich entweder direkt ein Populationsverhältnis von Grund- und angeregten Zuständen wählen oder eine Projektion des Anfangszustandes auf angeregten Zustand und dessen Eigenfunktionen vornehmen. Da Femtosekundenpulse zur Verfügung stehen, die deutlich kürzer sind als eine typische Kerndynamik, hat man sich in den letzten Jahrzehnten der Sudden Approximation bedient, um quantenchemische Methoden für die Kerndynamik von Reaktionen zu entwickeln. Hierbei wird zur Simulierung der Anregung das Kernwellenpaket des Grundzustandes direkt auf die Kernwellenfunktionen eines elektronisch angeregten Zustandes projiziert, ohne auf die Eigenschaften des initiierenden Pulses einzugehen.

Zeitaufgelöste Observablen inklusive expliziter Pulsbeschreibung

Der bislang kürzeste erzeugte und gemessene Attosekundenpuls mit einer stabilen Phasenbeziehung hatte eine Halbwertsbreite von 43 as3) bei einer mittleren Photonenenergie und einer energetischen Bandbreite von jeweils zirka 100 eV.

Solch kurzen Pulse zu erzeugen, ist jedoch nicht in jedem Energiebereich möglich. Attosekundenpulse im Röntgenbereich zu erzeugen, bleibt technisch schwierig. Mehrere Gruppen arbeiten daran, dies experimentell zu realisieren.

Desweiteren gibt es bislang ausschließlich Laserpulse, bei denen mindestens eine halbe Periode der mittleren Photonenenergie innerhalb der zeitlichen Halbwertsbreite eines Pulses passt. Das begrenzt die minimale Halbwertsbreite insbesondere bei Laserpulsen niedriger Photonenenergien, sodass es unmöglich ist, an die Dauer des kürzesten Pulses heranzureichen.

Außerdem ist zu beachten, dass die minimal mögliche Dauer eines Pulses und dessen energetische Bandbreite invers zusammenhängen. Eine hohe energetische Bandbreite führt zu einer höheren Zahl angeregter Zustände. Dadurch wird die Dynamik komplizierter und einzelne Prozesse lassen sich womöglich nicht separat beobachten.

Daraus folgt: Ein kurzer Attosekundenpuls in einem für ein bestimmtes System interessanten Energiebereich ist mit einer hinreichend geringen energetischen Breite nicht immer verfügbar. Daher lässt sich nicht immer annehmen, dass der initiierende Puls deutlich kürzer ist als der zu beobachtende Prozess. Dies gilt etwa für zeitaufgelöste Messung von oszillierenden Elektronendichteverteilungen nach einer Anregung oder einer Ionisierung sowie für die Umorganisation von Elektronen in beispielsweise elektronischen Zerfallsprozessen wie den Auger-Meitner-Effekt oder den Interparticle Coulombic Decay (ICD)4). Für diese Prozesse lässt sich nicht sinnvoll annehmen, dass sie im Wesentlichen erst nach dem Ende des initiierenden Pulses stattfinden. Stattdessen verlaufen die Elektronenumverteilungen zu einem nicht unerheblichen Teil bereits während des initiierenden Pulses.

Um die aus der endlichen Breite der Pulse resultierenden Effekte vollständig zu beschreiben, sind folgende Teilaspekte zu berücksichtigen:

Zeitliches Pulsprofil: Das Pulsprofil gibt die zu einem bestimmten Zeitpunkt vorliegende Amplitude des Pulses vor und verändert damit die Übergangswahrscheinlichkeit vom Ausgangszustand während des Pulses. Gleichzeitig führt diese zeitliche Breite zu einem zeitversetzten Beginn der dynamischen Umorganisation der Elektronen.Populationen: Die Populationen der beteiligten Zustände ändern sich nicht schlagartig, sondern über einen gewissen Zeitraum hinweg. Eine signifikante Populationsabnahme des Grundzustands verringert überdies die durch die Amplitude vorgegebene Übergangswahrscheinlichkeit vom Grundzustand in die anderen beteiligten Zustände. Auch dadurch beginnt die Dynamik zeitlich versetzt.Phase: Die im Labor erzeugten Pulse besitzen eine endliche Kohärenzzeit (die Zeit, in der eine Phasenbeziehung vorliegt). Durch die Variation kann die Messung einer zeitlich veränderten Observablen zusätzlich ausgewaschen werden.Wechselwirkung der emittierten Elektronen mit dem Probe-Puls: Bei den typischen Energien ultrakurzer Pulse werden die Systeme häufig ionisiert. Bislang wurde angenommen, dass das dadurch emittierte Photoelektron nicht weiter mit den Pulsen oder dem entstandenen Ion wechselwirkt. Neuesten Ergebnissen zufolge beeinflussen diese Wechselwirkung die Ergebnisse insbesondere bei langsamen Elektronen signifikant.5)

Aktuelles zur expliziten Berücksichtigung von Pulseigenschaften

In den letzten Jahren sind einige neue Methodenentwicklungen für die explizite Beschreibung der Pulse entweder während des Pump oder des Probe-Pulses hinzugekommen. Insbesondere zu erwähnen ist unter anderem das B-spline ADC,6) eine wellenfunktionsbasierte Korrelationsmethode. Sie beschreibt über die Pulse hinaus mit der B-spline-Basis Kontinuumseigenschaften emittierter Elektronen sowie die Kopplung von Kontinuumszuständen untereinander. Des Weiteren hat auch die Coupled-Cluster-Community eine zeitabhängige Beschreibung inklusive ultrakurzer Pulse zum Werkzeugkasten beigesteuert.7) Auch innerhalb der MCTDH-Community (Multi-configuration Time-dependent Hartree) gibt es einen weiteren vielversprechend Ansatz:7) nämlich die Second Quantization Representation8) einer Vielteilchenwellenfunktion von ununterscheidbaren Teilchen bei der Beschreibung der Initiierung von Dynamik. Dafür muss der Ansatz mit der im Heidelberger MCTDH-Code bereits verfügbaren Möglichkeit der Definition eines Pulses kombiniert werden.

Bei der Bestimmung von Lebensdauern elektronischer Zerfallsprozesse wie dem Auger-Meitner-Effekt oder dem ICD aus zeitaufgelösten Messungen der Elektronenspektren (Abbildung1 als Beispiel) wurde bislang meistens angenommen, dass ein Fit gegen eine einfache Exponentialfunktion reicht. Aufgrund des zeitlichen Profils des initiierenden Pulses beginnt der Zerfall jedoch nicht zu einem bestimmten Zeitpunkt, sondern über ein zeitliches Intervall verteilt. Dadurch ändert sich die zeitliche Abhängigkeit der erzeugten Spektren. Ein Fit experimenteller Ergebnisse gegen eine einfache Exponentialfunktion führt somit nicht zum Ziel. Insbesondere erzeugt er Werte, die von jeglicher theoretisch-chemischen Definition von Lebensdauern abweicht. Besser für den Erkenntnisgewinn wäre ein Fit gegen die Funktion des tatsächlichen Verhaltens.9)

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Vorgeschlagene zeitaufgelöste Messung eines spectator resonant ICD durch Initiierung mit einem XUV-Puls und einer Ionisierung durch dem Probe-Puls. Das zeitaufgelöste Spektrum für den rein elektronischen Fall rechts zeigt den zeitabhängigen Aufbau eines Fanoprofils. E. Fasshauer, doi:10.6084/m9.figshare.7808294.v2

Eine populäre Anwendung von Methoden mit einer expliziten Beschreibung der Pulse ist die Ladungsmigration nach einer Ionisierung oder Anregung.5,10–12) Hierbei hat die theoretische Beschreibung den Vorteil, dass sich experimentell nicht realisierbare Szenarien durchspielen lassen. Der direkte Vergleich zwischen Simulationen der Ionisierung von Ethen und Ethin mit einerseits der Sudden Approximation und andererseits einer expliziten Beschreibung des Pulses hat ergeben, dass die Wechselwirkung des emittierten Elektrons zu Beginn der Ionisierung zu einem Kohärenzverlust im zurückbleibenden Ion führt. Dieser kann unterschiedlich groß sein.5)

Desweiteren wurden Quantum State Holography,13) zeitaufgelöste Röntgenstreuung, die neben der zeitlichen Information auch Aussagen über die räumliche Verteilung der Elektronen erlaubt,14) High-harmonic generation,15) sowie der Auger-Meitner-Prozess mit einem zirkularpolarisierten Streakinglaser16) unter Berücksichtigung der Pulse untersucht.

Fazit

Pulseigenschaften bei zeitabhängigen Simulationen zu beschreiben, ist in allen Bereichen relevant, bei der Elektronendynamik eine Rolle spielt. Sie zu vernachlässigen liefert qualitativ inkorrekte Ergebnisse und kann zu Fehlinterpretationen experimenteller Daten führen. Insbesondere Entwicklungen innerhalb der theoretischen Chemie werden den Erkenntnisgewinn im spannenden Feld der molekularen Dynamik sichern.

Die Autorin

Elke Fasshauer, Jahrgang 1985, leitet eine Nachwuchsgruppe an der Universität Tübingen und beschäftigt sich sowohl mit der fundamentalen Beschreibung von Energie- und Elektronentransferprozessen als auch mit Vielfermionendynamik. Ihre Faszination für die zeitabhängige Beschreibung molekularer Prozesse begann schon während des Studiums und der Promotion an der Universität Heidelberg. Anschließend brachte sie an der Arctic University of Norway in Tromsø dem MCTDHX die Vielteilchendynamik von Fermionen bei. Es folgten weitere Postdocs an der Universität Kopenhagen sowie (mit einem Villum-Stipendium) an der Universität Aarhus. elke.fasshauer@gmail.comhttps://media.graphassets.com/148ekZ0fTG6ksI2kCDbt

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